Fahrradboom

Neuer Kampf um den Verkehrsraum

Ein Radfahrer schlängelt sich auf einer stark befahrenen Straße durch den Autoverkehr
Verkehr kann nicht die Organisation partikularer Egoismen sein, sagt Arno Frank. © picture alliance / imageBROKER / Norbert Michalke
Ein Kommentar von Arno Frank · 19.10.2020
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Fahrradfahren gilt als ökologisch, effizient und gesundheitsfördernd. Einige Radler fühlen sich dadurch automatisch im Recht und zu aggressivem Verhalten berechtigt, meint Arno Frank. Der Journalist fordert mehr Achtsamkeit von allen Verkehrsteilnehmern.
Es ist ökologisch, kostengünstig und effizient. Es ist ein Mittel gegen den infrastrukturellen Infarkt unserer Städte. Es ist gesund, weil es den Kreislauf auf Trab hält. Seit Jahrzehnten gilt das Fahrradfahren als Lösung für allerlei Probleme.
Mit der Zunahme des Fahrradverkehrs aber wird immer deutlicher, dass das vernünftigste aller Fortbewegungsmittel noch lange kein vernünftiges Fahren mit sich bringt. Im Gegenteil.
Es stimmt schon, unsere Städte sind für Automobile gebaut worden. Und kaum ein Verkehrsteilnehmer ist so verletzlich wie der Fahrradfahrer. Ganz gleich, ob er sich auf einem allzu engen oder zugeparkten Radweg bewegt oder auf großen Kreuzungen. Gefährdet ist, wer ohne schützende Blechhülle unterwegs ist.
Theoretisch gelten die gleichen Regeln für alle. Praktisch aber hat der Autofahrer den Regelverstoß mit einem Kratzer im Lack zu bezahlen, Menschen auf dem Fahrrad aber mit einem komplizierten Knochenbruch oder Schlimmerem.

Neues Selbstverständnis von Fahrradfahrern

Aus diesem Unterlegenheitsgefühl resultiert bisweilen ein Fahrstil, der an die Taktik von Guerilla erinnert. Eine asymmetrische Verkehrsführung sozusagen, bei der das Ausweichen auf das Trottoir ebenso selbstverständlich ist, wie ein Ignorieren roter Ampeln. Wenn im Zweifelsfall das Recht des Stärkeren gilt, machen immer mehr Fahrradfahrer das Recht des Schnelleren und Frecheren geltend – auf Kosten sowohl der Fußgänger als auch anderer Fahrradfahrer und Fahrradfahrerinnen.
Hinzu kommt, dass sich der rabiate Radler – Statistiken weisen vor allem Männer aus – "entitled" fühlt, wie man auf Neudeutsch sagt. Er fühlt sich auch politisch zu seinem aggressiven Verhalten berechtigt. Repräsentiert er nicht die Zukunft der Fortbewegung?
Dringt er nicht bereits mit dem E-Bike – das eigentlich ein elektrifiziertes Moped ist – in Gegenden vor, Wälder, Landstraßen, die ihm zuvor verschlossen waren?
Die ideologische Gewissheit, auf der vermeintlich richtigen Seite der Geschichte zu stehen, verwandelt nicht wenige Fahrradfahrer in genau das, was zu sein man gemeinhin gerne Fahrern von PS-starken Sportwagen unterstellt: aggressive Egoisten.
Das kennzeichenfreie Fahrrad erweist sich als anarchisches Element im Verkehr. Catch me if you can!

Keine Vorfahrt für Verkehrsrowdys

Die alte "Rechts vor links"-Regel ist außer Kraft, Fußgänger oder zivilere Radler sind stehende Hindernisse und werden weggeklingelt - wobei: das Klingeln ist unter Bikern ebenso auf dem Rückzug wie das Blinken bei Autofahrern, offenbar uncool. Nun ist das Fahrradfahren, auch wenn es bisweilen als solche verkauft wird, keine Konfession. Kein Merkmal der Identität, sondern ein Mittel der Fortbewegung.
Wir können es an uns selbst feststellen. Sitzen wir im Auto, schimpfen wir auf die Radfahrer und Fußgänger. Sitzen wir auf dem Rad, schimpfen wir über die Autofahrer und Fußgänger. Gehen wir zu Fuß, schimpfen wir auf die Autofahrer und Radfahrer.
Das Fahrzeug bestimmt das Bewusstsein. Offenbar kann sowohl der Panzer mit 500 PS wie auch das Fahrrad vom Flohmarkt das schlechteste im Menschen zum Vorschein bringen. Sowohl das Verhalten der SUV-Fahrerinnen wie das der Kampfradler muss als Symptom verrohter Sitten gelesen werden – immer auf Kosten der Schwächeren, Älteren oder Besonneneren. Es geht nicht mehr um Mobilität. Es geht um Mobilmachung.

Achtsam sollten alle Verkehrsteilnehmer sein

Dabei spielt es keine Rolle, womit wir uns fortbewegen. Wir tun es nie allein. Verkehr kann nicht die Organisation partikularer Egoismen sein. Verkehr bedeutet Vorsicht, Umsicht, Rücksicht.
Es stimmt schon: Viel wäre geholfen, würden unsere Städte fahrradfreundlicher. Freundlichere Fahrradfahrer würden uns diesem Ziel schon einmal näher bringen.
Aber selbst wenn das erreicht ist, gilt für alle Verkehrsteilnehmer das Gebot der Achtsamkeit füreinander. Denn im vorigen Jahr sind nicht nur 445 Menschen auf dem Fahrrad ums Leben gekommen, sondern auch 417 Fußgänger. Und die haben noch gar keine Lobby.

Arno Frank, Jahrgang 1971, hat in Marburg und München Kunstgeschichte und Philosophie studiert. Von 1999 bis 2011 war er bei der Tageszeitung "taz" in verschiedenen Funktionen tätig – zuletzt als Ressortleiter des von ihm mitgegründeten Gesellschaftsteils. Seit 2011 schreibt er als freier Autor für verschiedene Medien. 2017 erschien bei Klett-Cotta sein Debütroman "So, und jetzt kommst du".

Der Autor, Publizist und Journalist Arno Frank, geboren 1971 in Kaiserslautern
© picture alliance / ROPI / Anna Weise
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