Europapolitiker der ersten Stunde
07.11.2011
Der preußische Gelehrte und Reformer Wilhelm von Humboldt war kosmopolitisch, dezidiert ichbezogen und ein Womanizer, der den "rohen Stoff sinnlicher Eindrücke" zur Selbsterfahrung suchte. Lothar Galls Biografie schildert eine faszinierende Persönlichkeit.
Sein Name ist geläufig, sein Konterfei ziert Briefmarken. Die Universität zu Berlin, die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften sind nach ihm benannt, auch zahlreiche Schulen: Wilhelm von Humboldt, geboren 1767 in Potsdam, Bruder des ebenso namhaften, um zwei Jahre jüngeren Naturforschers Alexander von Humboldt. Doch darüber hinaus - was weiß man tatsächlich heute noch über den Mann, den uns der Historiker Lothar Gall in seinem neuen Buch als "Preuße(n) von Welt" vorstellt?
Es war Aufbruch, eine Blütezeit des Geistes, eine Epoche politischer Umwälzungen, in die Wilhelm von Humboldt hineinwuchs. Im Jahr der Französischen Revolution ist er Anfang 20. Von anspruchsvollen, den Idealen der Aufklärung verpflichteten Hauslehrern ausgebildet, studierte er Jura, Geschichte, klassische Philologie und Philosophie. Staatslehre interessierte ihn, Drama und Poesie, Schiller wurde sein Freund. Früh fand er Zugang zur "Lesegesellschaft" von Marcus und Henriette Herz, einem Zirkel Berliner Intellektueller jener Zeit, und zum "Bund der Freunde", einem Zusammenschluss junger Leute, deren Ziel es war, sich gegenseitig auf dem Weg zu sittlicher Vervollkommnung zu unterstützen.
Von frühauf ist Humboldt überzeugt, dass Welterkenntnis nur durch die eigene Individualität möglich sei. Diese zu entwickeln, ist ihm Notwendigkeit. Die Konzentration auf das Ich, die Ausbildung der charakterlichen Anlagen sowie ständiger Dialog mit sich selbst und der Welt, kurzum wache Selbsterfahrung, seien Bedingung, um menschliche Existenz zu verstehen. Und selbstverständlich gehöre dazu, sich auch mit dem "rohen Stoff sinnlicher Eindrücke" zu befassen – Erotik und Sexualität. Humboldt tut das ausgiebig, auch später als Ehemann.
Lothar Gall betont den dezidierten Individualismus, die extreme Ichbezogenheit Humboldts. Das macht diesen – obwohl darin keine Ausnahmeerscheinung unter den geistigen Vertretern seiner Zeit – zu einer modernen Figur. Man begegnet ihm als hochkultivierter Persönlichkeit im Kreise Gleichgesinnter und erfährt zugleich viel über seine Lebenskrisen. Er ist weltoffen und kosmopolitisch, lebt in Rom, London, Paris und fühlt sich immer wieder auch einsam. Man erfährt von einem "Womanizer", der seine Ehefrau Caroline liebt. Gleichwohl gesteht er ihr dasselbe Recht auf Liebschaften zu, das auch er sich nimmt.
Humboldts Individualismus, gespeist von einem idealisierenden Bekenntnis zur griechischen Antike, fand seinen Ausdruck jedoch, anders als heute üblich, in aktivem Handeln. Bezogen auf Lebenspraxis, gebunden an "preußisches" Ethos. Schnell machte der universell Gelehrte, der ein Dutzend Sprachen beherrschte und mit den fortschrittlichen Kräften seiner Zeit gut vernetzt war, der sich als Beamter bewährte, eine Art preußischer Europapolitiker der ersten Stunde, geistreich, loyal und integer, Karriere im Staatsapparat.
Als sich infolge der Napoleonischen Kriege Preußen neu erfand, war Humboldt einer der einflussreichen Reformer – epochemachend seine Erneuerung des preußischen Bildungswesens. Sein Ziel, die Untertanen zu Bürgern zu machen, kommunale Selbstverwaltung, Freiheit von Lehre und Forschung einzuführen und den preußischen Staat von einem absolutistischen Gebilde in ein liberales Gemeinwesen zu verwandeln, erreichte er allerdings nur teilweise. Nach dem Wiener Kongress, als restaurative Kräfte sich durchsetzten, wurde er – obwohl hoch geachtet – politisch kalt gestellt.
Lothar Gall bringt dem Leser eine faszinierende Persönlichkeit nahe, ohne sich mit privaten Details aufzuhalten. Humboldts Vorhaben und Leistungen, der ideengeschichtliche Hintergrund seines Wirkens und die kulturgeschichtlichen Entwicklungen seiner Zeit stehen in dieser Biografie im Vordergrund. Nach der Lektüre wundert man sich, wie aktuell viele der Humboldtschen Themen sind. Und wünscht sich einen wie ihn als Zeitgenossen.
Besprochen von Carsten Hueck
Lothar Gall: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt
Propyläen Verlag, Berlin 2011
443 Seiten, 24,99 Euro
Es war Aufbruch, eine Blütezeit des Geistes, eine Epoche politischer Umwälzungen, in die Wilhelm von Humboldt hineinwuchs. Im Jahr der Französischen Revolution ist er Anfang 20. Von anspruchsvollen, den Idealen der Aufklärung verpflichteten Hauslehrern ausgebildet, studierte er Jura, Geschichte, klassische Philologie und Philosophie. Staatslehre interessierte ihn, Drama und Poesie, Schiller wurde sein Freund. Früh fand er Zugang zur "Lesegesellschaft" von Marcus und Henriette Herz, einem Zirkel Berliner Intellektueller jener Zeit, und zum "Bund der Freunde", einem Zusammenschluss junger Leute, deren Ziel es war, sich gegenseitig auf dem Weg zu sittlicher Vervollkommnung zu unterstützen.
Von frühauf ist Humboldt überzeugt, dass Welterkenntnis nur durch die eigene Individualität möglich sei. Diese zu entwickeln, ist ihm Notwendigkeit. Die Konzentration auf das Ich, die Ausbildung der charakterlichen Anlagen sowie ständiger Dialog mit sich selbst und der Welt, kurzum wache Selbsterfahrung, seien Bedingung, um menschliche Existenz zu verstehen. Und selbstverständlich gehöre dazu, sich auch mit dem "rohen Stoff sinnlicher Eindrücke" zu befassen – Erotik und Sexualität. Humboldt tut das ausgiebig, auch später als Ehemann.
Lothar Gall betont den dezidierten Individualismus, die extreme Ichbezogenheit Humboldts. Das macht diesen – obwohl darin keine Ausnahmeerscheinung unter den geistigen Vertretern seiner Zeit – zu einer modernen Figur. Man begegnet ihm als hochkultivierter Persönlichkeit im Kreise Gleichgesinnter und erfährt zugleich viel über seine Lebenskrisen. Er ist weltoffen und kosmopolitisch, lebt in Rom, London, Paris und fühlt sich immer wieder auch einsam. Man erfährt von einem "Womanizer", der seine Ehefrau Caroline liebt. Gleichwohl gesteht er ihr dasselbe Recht auf Liebschaften zu, das auch er sich nimmt.
Humboldts Individualismus, gespeist von einem idealisierenden Bekenntnis zur griechischen Antike, fand seinen Ausdruck jedoch, anders als heute üblich, in aktivem Handeln. Bezogen auf Lebenspraxis, gebunden an "preußisches" Ethos. Schnell machte der universell Gelehrte, der ein Dutzend Sprachen beherrschte und mit den fortschrittlichen Kräften seiner Zeit gut vernetzt war, der sich als Beamter bewährte, eine Art preußischer Europapolitiker der ersten Stunde, geistreich, loyal und integer, Karriere im Staatsapparat.
Als sich infolge der Napoleonischen Kriege Preußen neu erfand, war Humboldt einer der einflussreichen Reformer – epochemachend seine Erneuerung des preußischen Bildungswesens. Sein Ziel, die Untertanen zu Bürgern zu machen, kommunale Selbstverwaltung, Freiheit von Lehre und Forschung einzuführen und den preußischen Staat von einem absolutistischen Gebilde in ein liberales Gemeinwesen zu verwandeln, erreichte er allerdings nur teilweise. Nach dem Wiener Kongress, als restaurative Kräfte sich durchsetzten, wurde er – obwohl hoch geachtet – politisch kalt gestellt.
Lothar Gall bringt dem Leser eine faszinierende Persönlichkeit nahe, ohne sich mit privaten Details aufzuhalten. Humboldts Vorhaben und Leistungen, der ideengeschichtliche Hintergrund seines Wirkens und die kulturgeschichtlichen Entwicklungen seiner Zeit stehen in dieser Biografie im Vordergrund. Nach der Lektüre wundert man sich, wie aktuell viele der Humboldtschen Themen sind. Und wünscht sich einen wie ihn als Zeitgenossen.
Besprochen von Carsten Hueck
Lothar Gall: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt
Propyläen Verlag, Berlin 2011
443 Seiten, 24,99 Euro