Intellektuelle und ästhetische Landschaften

Rezensiert von Michael Stürmer · 06.03.2011
Peter Watson beschreibt in "Der deutsche Genius" die intellektuellen und ästhetischen Landschaften zwischen Gottfried Wilhelm Leibniz und Johann Sebastian Bach im frühen 18. Jahrhundert und den Geistesgrößen des frühen 20. Jahrhunderts.
Die Deutschen haben gelernt, ihre Geschichte entweder zu verachten oder zu ignorieren, oder beides. Das aber ist ein großer Fehler, sagt der Brite Peter Watson, einer der großen Kenner der deutschen Geistesgeschichte:

"Die Vorurteile, die Völker von sich selbst entwickeln, sind mindestens so irreführend - und gefährlich - wie die Stereotype, die unter ihren Nachbarn, Rivalen und Feinden kursieren."

Watsons Buch ist viel Lesezeit wert. Er beschreibt die intellektuellen und ästhetischen Landschaften zwischen Gottfried Wilhelm Leibniz und Johann Sebastian Bach im frühen 18. Jahrhundert und den Geistesgrößen des frühen 20. Jahrhunderts.

Das Jahr 1933 und der Absturz in Primitivismus und Barbarei allerdings markieren den Bruch zwischen einem ruhmvollen Vorher und einem jammervollen Nachher. Beides wirkt bis heute und wahrscheinlich auf lange Zeit nach. Peter Watson weiß das alles, besser als die meisten. Aber gerade deswegen sucht er nach vergessenen Geisteslandschaften und beschreibt sie in glanzvoller Verbindung von Gelehrsamkeit und Klarheit des Urteils:

"Wir sind es gewohnt zu hören, dass das 20. Jahrhundert das amerikanische Jahrhundert gewesen sei. Doch die Wahrheit ist komplizierter und, wie ich in diesem Buch zeigen möchte, auch wesentlich interessanter. Ich möchte dem kollektiven Bewusstsein außerhalb wie innerhalb des deutschen Sprachraums die Namen und Errungenschaften von Menschen in Erinnerung bringen, die aus historischen, nicht zuletzt mit Krieg und Völkermord verbundenen Gründen im vergangenen halben Jahrhundert unbeachtet blieben oder aus dem Gedächtnis gelöscht wurden."

Watson geht aber wesentlich weiter als eine deutsche Hall of Fame über zwei Jahrhunderte zu rekonstruieren:

"Somit ist dies ein Buch über den deutschen Genius, über dessen Geburtsstunde, seine Blütezeit und über die Tatsache, dass er auch das Leben von uns jenseits der deutschen Grenzen stärker prägte, als uns bewusst ist oder als wir es wahrhaben wollen."

War aber mit Hitlers Zerstörungswerk alles zu Ende? Watson stellt die Gegenwartsfrage, die zumeist ungestellt bleibt:

"Ob dieser Genius weiterlebte, oft unerkannt, und zwar in beiden Teilen Deutschlands der Nachkriegszeit, die beide nie wirklich die volle Anerkennung für ihre kulturellen, wissenschaftlichen, industriellen, kommerziellen und akademischen Leistungen bekamen …"

Dann geht Watson noch einen Schritt weiter, dass es zeitgenössischen Deutschen, an bescheidenes Auftreten gewohnt, schwindlig zu werden droht:

"In den Vereinigten Staaten und Großbritannien mag Englisch gesprochen werden. Aber Amerikaner und Engländer denken in viel stärkeren Maßen deutsch, als sie sich dessen bewusst sind."

Was Peter Watson aufbaut, ist ein großes, achtunggebietendes Programm, das er auf nahezu eintausend Seiten einlöst mit viel Gelehrsamkeit, archäologischem Gespür und einem englischen Sinn für Humor. Die erste Szene zeigt den 62-jährigen Bach, der vom jugendlichen Preußenkönig an den Hof zu Potsdam eingeladen wird. Es prallen gegensätzliche Welten aufeinander: Religiös und antireligiös, deutsch und französisch, der Freigeist und der Meister des Kontrapunkts – und doch, für Watson, mehr ein Abschied als ein Anfang:

"Die Evolution des Deutschtums, wie wir es heute verstehen, gegen Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts lässt sich kaum nachvollziehen, wenn man sich nicht zuerst mit dem Pietismus befasst."

Da aber steht Bach auf der Seite einer tief religiösen Innerlichkeit, der Preußenkönig auf der anderen Seite des Machtstaats, der Gehorsam verlangt – und wo jeder dann nach seiner Facon selig werden darf. Watson entwickelt aus diesem Spannungsbogen das gewaltige Panorama, das Drang und Zwang zur Bildung einbegreift ebenso wie den, wie er schreibt, natürlichen Drang zur Vollkommenheit.

Dazu gehört die Geschichtswissenschaft, die die alten Mythen der Religion zerstört ebenso wie die der Herrschaft, aber auch die Biologie. Überhaupt arbeitet er heraus, wie in Frankreich und auf den britischen Inseln die empirische, experimentelle Vorgehensweise die Wissenschaft prägt und die Methoden des Fortschritts, während Deutschland das Land wird, wo die Theorien blühen. So legt auch Watson mehr Gewicht auf die Geisteswissenschaften als auf die Naturwissenschaften. Wilhelm von Humboldt wird in den Vordergrund des Bildes gerückt, mit ihm die Forderung nach originärer Forschung:

"In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand ein geistiger Wandel statt, der bis 1850 nahezu alle deutschen Universitäten in Forschungsinstitutionen verwandeln sollte."

So entstand der Imperativ der Forschung, die Entdeckung des Neuen, des Niedagewesenen wurde institutionalisiert. Es gab ein Deutschlandfieber, weltweit. In den Vereinigten Staaten wurde der deutsche Universitätsbetrieb kopiert, in England wirkte der Prinzgemahl Albert aus dem Hause Sachsen Coburg als Nationalerzieher. In Deutschland wurde die Physik Königsdisziplin, zugleich stieg das Industrielabor auf zur Werkstatt nationaler Größe.

Die Namen Siemens, Hoffmann, Bayer, Zeiss – sie alle sind in die Geschichte der Moderne eingeschrieben, aber auch Krupp, Benz, Daimler, Diesel, Rathenau und Röntgen. Am Ende stehen Max Planck und Max Weber, aber auch, nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, die beispiellose geistige Wachheit der Weimarer Republik. Watson spricht vom …

"… goldenen Zeitalter der Physik, der Philosophie und der Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert."

Marx, Freud, Nietzsche, Max Weber und noch einige mehr aus deutschen Landen – ohne ihr Wirken wäre die Weltgeschichte anders verlaufen wie auch unser Blick darauf ein anderer wäre. Am Schluss dieser tausend Seiten steht ein Satz, der ebenso weit zurückreicht in die Vergangenheit wie in die Zukunft:

"Deutschland sollte sich weder wünschen, seine Vergangenheit begraben zu können, noch es jemals versuchen … Die deutsche Vergangenheit beinhaltet wesentlich mehr als das ‚Dritte Reich’. Und mit diesem Buch sollte deutlich gemacht werden, dass diese Vergangenheit auch uns Nicht-Deutsche noch eine Menge lehren kann."

Peter Watson: Der deutsche Genius. Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI.
C. Bertelsmann Verlag, München 2010
Cover: "Peter Watson: Der deutsche Genius"
Cover: "Peter Watson: Der deutsche Genius"© C. Bertelsmann Verlag