EU-Flüchtlingspolitik

"Wir brauchen eine Gruppe der Willigen"

Am Rande des EU-Innenministertreffens gab es in Brüssel eine Demonstsration für die Rechte von Flüchtlingen.
Am Rande des EU-Innenministertreffens gab es in Brüssel eine Demonstsration für die Rechte von Flüchtlingen. © Thierry Roge/dpa
Angelika Mlinar (MdEP) im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 15.09.2015
Das gestrige Treffen der EU-Innenminister bezeichnet die österreichische EU-Abgeordnete Angelika Mlinar als "ein Scheitern der Mitgliedsstaaten". Sie fordert, Deutschland und Österreich sollten in der Flüchtlingsfrage "vorangehen".
Einmal mehr konnten sich die EU-Mitgliedsstaaten bei ihrem gestrigen Innenministertreffen nicht auf verbindliche Flüchtlingsquoten einigen.
"Es ist ein Scheitern der Mitgliedsstaaten", sagt die liberale österreichische EU-Abgeordnete Angelika Mlinar am Dienstag im Deutschlandradio Kultur. Die Kommission habe gute Vorschläge gemacht, denen die Mitgliedsstaaten bei ihrem gestrigen Treffen leider nicht gefolgt seien. Die Europaabgeordnete beklagte, dass die EU derzeit keine Kompetenz in Fragen von Asyl und Migration habe. Entweder müssten die Mitgliedsstaaten ihrer Verantwortung nachkommen "oder die Verantwortung abgeben, nämlich an die europäische Ebene", mahnt Mlinar.
Die Politik muss "Leadership" zeigen, sonst kippt die Stimmung
Die liberale Politikerin fordert "eine Gruppe der Willigen", die in der Flüchtlingsfrage "vorgeht und das vorlebt". Im Hinblick auf das für heute anberaumte Treffen der deutschen und österreichischen Regierungschefs sagt sie: "Wenn sich das irgendwie arrangieren lassen könnte zwischen Angela Merkel und Werner Faymann, dann wäre das ein sehr positives Ergebnis des heutigen Tages."
Gleichzeitig warnt Mlinar vor einer Überforderung der österreichischen Bevölkerung. Im Moment erlebe man eine sehr große Hilfsbereitschaft. Man dürfe sich jedoch nichts vormachen: "Diese Hilfsbereitschaft kann natürlich nur bis zu einem Punkt gehen". Wenn die Politik nicht agiere und "Leadership" zeige, werde die Stimmung kippen. "Und davor fürchte ich mich."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Die Dringlichkeit der Situation um die Flüchtlinge lässt sich am politischen Terminkalender heute ablesen, mehrere Spitzentreffen sind angesagt: Bundeskanzlerin Merkel empfängt Österreichs Regierungschef Faymann am Mittag, dann trifft sich das Bundeskabinett zu einer Sondersitzung, anschließend kommen die Ministerpräsidenten zum Krisentreffen ins Kanzleramt. Was all das an Ergebnissen bringen wird, das werden wir sehen, was das Sondertreffen der Innenminister der Europäischen Union gestern in Brüssel gebracht hat, diese Erkenntnis liegt bereits vor, und darüber wie auch die Erwartungen an den heutigen Tag spreche ich mit Angelika Mlinar. Sie ist Abgeordnete der österreichischen Liberalen im Europaparlament und jetzt in Wien am Telefon. Guten Morgen!
Angelika Mlinar: Einen schönen guten Morgen!
Frenzel: Es wird erst mal keine verbindliche Verteilung von Flüchtlingen in Europa geben – ist das ein europäisches Scheitern?
Mlinar: Na ja, man muss es eben trennen. Es ist ein Scheitern der Mitgliedsstaaten, und ich kann es nicht oft genug betonen und es ist auch ein Appell an die Medien im Allgemeinen, dass eben die EU-Ebene in Bezug auf Asyl und Migration eben keine Kompetenz hat. Und das, was wir im Moment erleben, ist eben ein Scheitern der mitgliedsstaatlichen Ebene. Und aus diesem Grund bin ich auch der Ansicht und vertrete das gemeinsam mit meinen liberalen Kolleginnen und Kollegen, dass eben die Mitgliedsstaaten entweder dieser Verantwortung nachkommen sollen oder die Verantwortung abgeben, nämlich an die europäische Ebene. Die Kommission hat gute Vorschläge gemacht, die Mitgliedsstaaten sind den Vorschlägen der Kommission gestern nicht gefolgt.
Noch keine Einigkeit über Quote in der liberalen Fraktion
Frenzel: Sind Sie sich denn grenzüberschreitend im Europaparlament einig – wenn wir nur mal Ihre Fraktion nehmen, auch mit den osteuropäischen Liberalen, sagen da alle, ja, wir brauchen verbindliche Quoten?
Mlinar: Das ist richtig. Es gibt natürlich immer ein paar Ausreißer, aber wir haben eine große Mehrheit. Wir haben diesbezüglich auch ein Blueprint, ein Papier beschlossen, schon im Frühjahr dieses Jahres, mit einer großen Mehrheit, aber es ist so, dass es nicht zu hundert Prozent vor allem auch von unseren tschechischen Kollegen mitgetragen wird – vorerst. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich die Lage so zuspitzen wird, dass auch meine Kolleginnen und Kollegen, die im Moment noch nicht so überzeugt sind von einer gemeinsamen verbindlichen Quote, es einsehen werden müssen, dass es nicht anders geht. Ich verstehe auch die Logik nicht, weil ihr Argument ist immer, na ja, wenn sich was in der Ukraine verschärft oder etwas tut, dann werden wir überrollt werden. Dann sage ich immer, ja, dann werdet ihr Hilfe brauchen, also verstehe ich nicht ganz, was denn dahinter steht, dass man sich so dagegen sträubt.
Frenzel: Man hätte ja im Kreise der Innenminister gestern die Skeptiker wohl überstimmen können, es war keine Einstimmigkeit notwendig im Kreise der Innenminister – hätte man das tun sollen oder hilft es am Ende vielleicht nichts, wenn man eine Politik überstülpt, die offenbar in vielen Mitgliedsstaaten so nicht gewollt wird?
Flüchtlingspolitik muss "Chefsache" sein
Mlinar: Ich habe auch mit der Luxemburger Präsidentschaft diesbezüglich gesprochen, und der Luxemburger Premierminister Xavier Bettel hat mir auch schon vor Wochen gesagt, dass er am meisten fürchtet, dass es hier zu Abstimmungen kommen könnte. Das ist nicht das richtige Thema, um jemand zu überstimmen, sondern diesbezüglich braucht man eine Einigkeit, die letztlich dann auch zu Ergebnissen führen kann, die zielführend sind. Also ich stimme der Luxemburger Präsidentschaft da zu, dass man das nicht übers Knie bricht, sondern letztlich einfach tatsächlich den Kompromiss weiter sucht. Und nächste Sondertreffen ist grundsätzlich anberaumt. Wir verlangen sowohl als alte als auch als liberale ÖsterreicherInnen einen Sondergipfel der EU-Regierungschefs, das ist nämlich tatsächlich mittlerweile Chefsache.
Frenzel: Heute kommen zwei Chefs zusammen, Ihr Chef sozusagen, Ihr Bundeskanzler Werner Faymann, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wenn wir mal auf die Ereignisse dieses Wochenendes schauen, auf den Sonntag, als Deutschland ja relativ einseitig erklärt hat, Schengen erst mal auszusetzen, waren Sie da empört?
Mlinar: Nein, wir haben das ja auch erwartet. Wir haben es vielleicht nicht unmittelbar so schnell erwartet, aber ich glaube, da war auch eine gewisse politische Logik dahinter. Ich möchte jetzt nicht zu weit in die Trickkiste greifen, aber ich dachte mir sehr wohl, dass das ein Druckmittel war, das aufgebaut wurde in Hinsicht auf das Innenministertreffen und vielleicht dazu gedacht war, dass es bewirken könnte, dass einige der Staaten, die noch nicht zustimmen der Quote, ein Einlenken finden würden. Das hat nicht so ganz geklappt, aber ich glaube, dass dieser Druck aufrechterhalten werden wird. Meine Logik ist und mein Wunsch an das heutige Treffen wäre eben, wenn wir schon nicht die 28 Mitgliedsstaaten an Bord haben zurzeit, dann brauchen wir eine Gruppe der Willigen, die vorgeht und das vorlebt, und Österreich und Deutschland wären diesbezüglich natürlich wunderbar. Also wenn sich das irgendwie arrangieren lassen könnte zwischen Angela Merkel und Werner Faymann, dann wäre das ein sehr positives Ergebnis des heutigen Tages.
Ohne politische Leadership wird die Hilfsbereitschaft kippen
Frenzel: Frau Mlinar, lassen Sie uns vielleicht noch über die Stimmung in Ihrem Land reden, die ja ganz wichtig ja auch für das ist, was Sie sich da wünschen, was Sie gefordert haben, dass Staaten vorangehen, dass auch Österreich mit vorangeht. Wie steht denn die österreichische Bevölkerung ... Ich sag es jetzt mal pauschal, Sie kommen aus Kärnten, wir, wenn wir aus Deutschland auf Österreich schauen, sehen in den letzten Jahren rechtspopulistische Wahlergebnisse, die uns eigentlich immer Sorgen machen – gibt es denn eine Willkommenskultur in Österreich?
Mlinar: Ich teile die Sorgen, die Sie empfinden, natürlich sehr stark, das ist ein Grund, warum ich in die Politik gegangen bin – also ich bin genau am gegenüberliegenden politischen Spektrum, wenn ich das mit der SPÖ vergleiche –, aber es ist so: Es gibt verschiedene Ebenen – es gibt eine politische Ebene, es gibt einfach die Ebene der Bevölkerung, und das, was wir im Moment erleben, ist eine sehr große Hilfsbereitschaft. Aber wir dürfen uns auch nichts vormachen. Diese Hilfsbereitschaft kann natürlich nur bis zu einem Punkt gehen, und wenn die Politik nicht agiert – und das ist auch der Grund dafür, warum wir in Österreich so eine starke populistische Partei haben, weil eben die großen bürgerlichen Parteien oder das bürgerliche Lager und die Sozialdemokratie eben nicht entsprechendes Leadership zeigen –, dann wird das kippen und die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung wird kippen. Und davor fürchte ich mich. Im Moment ist es unglaublich schön zu sehen, was sich im Bereich der NGOs, der zivilen Gesellschaft tut. Ich hab es selber erlebt am Westbahnhof und meine Kolleginnen und Kollegen fast täglich in Nickelsdorf an der ungarischen Grenze, aber wir sind sicher in eine Richtung unterwegs im Moment, die in Richtung Überforderung der Bevölkerung geht, und das ist nicht einzusehen. Österreich hat im Moment um die 40.000 AsylbewerberInnen, die hier in Österreich bleiben möchten. Das ist eine Zahl, die kein Problem darstellen kann, nach keinen Berechnungen, für ein Land wie Österreich. Also ich glaube, Angela Merkel kann heute Werner Faymann sehr wohl ausrichten, dass er mehr tun kann.
Frenzel: Angelika Mlinar, Europaabgeordnete für die österreichischen Liberalen, ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch!
Mlinar: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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