Erstes Freitagsgebet in der Hagia Sophia

Leitmotiv der Eroberung

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Ali Erbas, der Leiter der türkischen Direktion für religiöse Angelegenheiten, steht mit dem Schwert in der Hagia Sophia zur Freitagspredigt (Khutbah).
Ali Erbas, Leiter des türkischen Religionsamtes, zückte während seiner Predigt ein Schwert. © picture alliance/ Anadolu Agency
Susanne Güsten im Gespräch mit Susanne Burkhardt · 24.07.2020
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Neuer türkisfarbener Bodenbelag und verhängte Fresken aus christlich-byzantinischer Zeit – so empfing die Hagia Sophia als islamisches Gotteshaus in Istanbul zum ersten Mal wieder Gläubige. Die erste Predigt stand ganz im Zeichen Erdogans.
Nach 86 Jahren hat zum ersten Mal wieder ein Freitagsgebet in der Hagia Sophia stattgefunden. Um genau 13 Uhr 16 ertönte der Gebetsruf von allen vier Minaretten der Hagia Sophia. Für viele Muslime ging damit ein Traum in Erfüllung. 350.000 Gläubige waren für diesen Moment gekommen, auch weit aus dem Osten der Türkei.

Friedliche Atmosphäre

Schon seit dem frühen Morgen seien die Menschen von den Fähren zur Hagia Sophia gepilgert, schildert Korrespondentin Susanne Güsten ihre Eindrücke. "Die ganze Altstadt war abgesperrt, darüber schwirrten Hubschrauber. 20.000 Polizisten waren im Einsatz, um die Menschen zu lenken." Die Atmosphäre draußen hat sie als friedlich und freundlich und gleichzeitig als feierlich erlebt. "Es war den Menschen offensichtlich wichtig, an diesem Tag da zu sein. Ein Tag, den sie als Einschnitt in der Geschichte der Republik wahrnehmen, aber auch als einen Wendepunkt in ihrem eigenen Leben."
Das erste Freitagsgebet in der Moschee sei hingegen eher als Staatsakt inszeniert gewesen, berichtet Güsten. "Da durften nur handverlesene, wenige Gäste rein. Und das waren alles Gäste von Erdogan." Sein Kabinett, Generäle und persönliche Gäste, seine Familie, sonst habe niemand reingedurft. "Das ist ungewöhnlich für ein Freitagsgebet und wurde auch kritisiert. Das Freitagsgebet steht eigentlich jedem Gläubigen offen."

"Eroberung" als Leitmotiv

Laut Güsten hat Erdogan der Umwidmung der Moschee ein Leitmotiv gegeben, das der Eroberung. Den Höhepunkt habe das Motiv in dem Moment gehabt, als der Leiter des türkischen Religionsamtes die Kanzel erklomm, um die Predigt zu geben, und erst einmal ein Schwert zückte, als Symbol der Eroberung.
Zahllose Gläubige, die zum Teil Mundschutzmasken zur Vermeidung der Ausbreitung des Coronavirus tragen, warten vor der Hagia Sophia, in der erstmals das Freitagsgebet stattfindet.
350.000 Menschen waren gekommen, um das erste Freitagsgebet der Hagia Sophia mitzuerleben.© AP / dpa/ Yasin Akgul
"Man kann gar nicht unterschätzen, wie wichtig dieses Symbol ist. Denn dieses Eroberungsmotiv steht in einem extremen Widerspruch zu dem Leitmotiv von Atatürk, Frieden zu Hause, Frieden in der Welt. Das bedeutete, wir machen keine Gebietsansprüche geltend, wir intervenieren nirgends."
Mit Erdogan habe sich das geändert. Damit symbolisiere die Hagia Sophia auch diesen Schwenk in der türkischen Innen- und Außenpolitik. "Die Türkei ist ja auch in den letzten Jahren unter Erdogan außenpolitisch militärisch ganz anders aufgetreten, als Atatürk das vorgegeben hatte. Man denke an Syrien, Libyen und so weiter."

"Ohrfeigen" für den Westen

Für Erdogan, so Güsten, sei die Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee auch ein nationalistisches Instrument. Seine regierungsnahe Presse habe gestern sogar von "Ohrfeigen für den Westen" gesprochen. "Interessanterweise wird das von den vielen Leuten, die das heute um die Hagia Sophia herum feierten, nicht geteilt. Also das ist eher eine Richtung, die die Regierung der Eröffnung als Moschee gibt."
Befürworter und Gegner halten sich laut Umfragen in etwa die Waage. Für die Gegner sprach heute Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Er beklagte, so Güsten, dass die Stimmen der Gegner im Land nicht gehört würden. "Für den anderen Teil des Volkes, der sich jahrzehntelang als unterdrückt empfunden hat, war das heute ein großer Freudentag."
(mfied)
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