Erste temporäre Spielstraße

Berlin probt die Verkehrswende

04:59 Minuten
Blick auf eine gesperrte Straße, auf der viele Kinder spielen.
Straße frei für Spaß und Spiel: Berlins erste temporäre Spielstraße in Kreuzberg. © E. v. Aster
Von Ernst-Ludwig von Aster · 25.09.2019
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"Spielen auf der Straße" – jahrelang bearbeitete eine Initiative mit dieser Idee Berliner Kommunalpolitiker und Verkehrsplaner. Nun wurde sie Realität: Einmal in der Woche wird die Böckhstraße in Berlin-Kreuzberg für Autos und Radfahrer gesperrt.
"Ich sag dir, wenn wir dieses Ding in die Mitte stellen, dann fahren die Fahrradfahrer drum herum." – "Die Spielstraße beginnt hier." Etwas unschlüssig steht Cornelia Dittrich neben einer brusthohen rot-weißen Sperrbarke. Gleich will sie mit ihren Kollegen die Straße blockieren, für Auto- und Fahrradfahrer. Ein Radfahrer fährt noch schnell vorbei.
"Hier stellst du es einfach hin. Und dann sprichst du die an." – "Also, ich würde hier ein Flatterband machen." – "Hast Du eins? Dann gib es mir einfach." Also auch noch rot-weißes Flatterband. Sicher ist sicher. Ein nervöser Blick auf die Uhr. Noch ein paar Minuten bis zur Premiere. Dann wird die Böckh- zur Spielstraße: ein Erfolg für die Bürgerinitiative "temporäre Spielstraße".

Keine verkehrsrechtliche Besonderheit

Umweltverbände, das Kinderhilfswerk und der Verband der Kitas- und Kinderläden machen mit. Seit Jahren suchen sie nach mehr Spielraum für Kinder- und Jugendliche in der Straßenverkehrsordnung. Im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wurden sie fündig.
"Für Berlin ist es die erste temporäre Spielstraße, da sind wir auch ein Stück weit vorangeprescht. Es ist gleichzeitig verkehrsrechtlich keine Besonderheit. Hier ist ein temporäres absolutes Halteverbot."
Cornelia Dittrich (l), Initiatorin des Bündnisses für temporäre Spielstraßen, und Regine Günther (Bündnis90/Die Grünen), Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz.
Spielstraße frei: Cornelia Dittrich (l.), Initiatorin des Bündnisses für temporäre Spielstraßen, und die Berliner Verkehrssenatorin Regine Günther.© picture alliance / dpa / Jörg Carstensen
Damit hält man andernorts Müll- und Reinigungsfahrzeugen den Weg frei, weiß Felix Weisbrich. Er leitet im Bezirk das Straßen- und Grünflächenamt.
"Nur für den Zweck Spielen ist es vielleicht etwas außergewöhnlich. Verkehrsrechtlich überhaupt keine Neuerung. Auch das temporäre Durchfahrverbot ist keine Neuerung."

Mit Malkreide, Feder- und Fußbällen ab auf die Straße

Also brauchte der Bezirk nur Schilder spendieren: "Temporäres, absolutes Halteverbot" immer Mittwochs von 14 bis 18 Uhr. Vom 1. April bis 30. September. 300 Meter lang, 100 Parkplätze, meist quer zur Fahrbahn. Am Rand: eine Schule, eine Kita, ein Second-Hand-Mode-Laden, an der einen Ecke ein Eisladen, an der anderen ein Restaurant. Weisbrich blickt auf die Uhr, gibt ein Handzeichen
"Ja, dann würde ich mal sagen, beginnt der Moment der ersten temporären Spielstraße in Berlin jetzt, Sperren raus." Cornelia Dittrich schiebt mit ihren Kollegen die Absperrung auf die Straße, spannt das Flatterband. Darauf haben die Kita-Kinder nur gewartet. Mit Malkreiden, Feder- und Fußbällen stürmen sie vom Bürgersteig auf die Straße.
Eine Anwohnerin stoppt vor der Absperrung. Sie ist fünf Minuten zu spät. Ihr Parkplatz liegt hinter dem Haus.
"Jetzt kommt auch schnell die erste Bewährungsprobe, weil das Auto hier durch muss, so und jetzt durchfahrenlassen." Die Anwohnerin darf noch durch. Felix Weisbrich beobachtet, wie sie im Schritttempo an den spielenden Kindern vorbeifährt. Der Amtsleiter wirkt zufrieden. Zehn Pkw-Halter haben zur Premiere das temporäre Parkverbot ignoriert. Mehr als 60 aber haben umgeparkt.
"Wir hatten auf unserer Informationsveranstaltung immer wieder die Frage: Sie wollen also tatsächlich das Parken und durchfahren verbieten in Anführungsstrichen: nur um zu spielen. Die Antwort, die wir gegeben haben, war ganz klar: Ja."

Falschparker bekommen erstmal freundliche Ermahnungen

Drei Wochen später, wieder Mittwoch, diesmal 17.30 Uhr. Die Straße ist voll mit spielenden Kindern. Kreidebilder verzieren die Fahrbahn. Auch ein Jugendclub nutzt den neuen Freiraum.
"Wir haben eine Spieltonne dabei, da sind Hütchen, Fußbälle, Frisbees und allerhand Gedöns mit am Start und heftig im Einsatz."
Cornelia Dittrich wacht neben der Sperrbarke. Ohne parkende Autos hat sich der freie Straßenraum mindestens verdoppelt, wahrscheinlich verdreifacht. Die Kinder spielen. Eltern und Erzieher sitzen im Café oder auf Blumenkübeln. Dazwischen parken einige Autos – heute sind es sogar 15 Pkw.
"Wenn sich das natürlich rumspricht, das man hier einfach straflos stehen kann und am Ende wieder alle dastehen, dann wäre es natürlich doof, das werden wir erstmal noch eine Weile beobachten."
Auch Amtsleiter Weisbrich guckt genau hin. Für Falschparker gibt es zur Zeit noch freundliche Ermahnungen, verteilt von Helfern der Spielstraßeninitiative.
"Alleine hätten wir das als Bezirksamt nicht vollbringen können, jede Woche einmal am Nachmittag diese Sperre durchzuführen. Das heißt, die Bürgerinnen und Bürger setzen hier zusammen ein Element der Verkehrswende um."
Private-Public-Partnership für mehr Spielfreiheit im Straßenraum: ein Experiment. Einmal die Woche, für vier Stunden. Pünktlich um 18 Uhr ist Feierabend.
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