Nicht nur Burnout

Erschöpfung – eine Kulturgeschichte

Illustration: Ein erschöpfter Geschäftsmann schläft auf einer Rolltreppe.
Die Sichtweise, dass Menschen durch äußere Einflüsse wie ihre Arbeit erschöpft sind, kam erst im 19. Jahrhundert auf. © imago / fStop Images / Malte Müller
Das Gefühl, stark ausgelaugt zu sein, ist kein neues Phänomen unserer Zeit. Schon in vergangenen Jahrhunderten kannten die Menschen kräftezehrende Erschöpfung. Allerdings: Wie darauf geblickt wurde, unterscheidet sich in den jeweiligen Epochen enorm.
Die Geschichte der Erschöpfung ist so eine Sache: Gerne wird behauptet, dass keine vergangene Generation so müde und so überfordert war, wie wir es sind. Das lässt sich wissenschaftlich nicht so ohne weiteres belegen. Im Gegenteil: Auch in früheren Jahrhunderten hat Erschöpfung und Müdigkeit die Leute gepackt – und es wurde darüber geredet.

Müdigkeit ist nicht gleich Müdigkeit

Ja, es gibt sie: eine nahezu befriedigende Erschöpfung. Der Garten ist umgegraben, die Pflanzen gesetzt. Am Abend fällt man ins Bett wie ein Stein. Völlig erledigt – aber irgendwie zufrieden. Um jene positive Art der Müdigkeit soll es in diesem Text nicht gehen. Sondern um knallharte Erschöpfung.
„Was mich interessiert, ist diese Müdigkeit, die wir einfach nicht mehr abschütteln, weil wir uns gar nicht mehr erholen können“, sagt Anna Katharina Schaffner. Als frühere Professorin für Kulturgeschichte hat sie an der University of Kent zum Thema Erschöpfung geforscht.

Früher wurde anders auf Erschöpfung geblickt

„Die Menschheit hat eigentlich schon immer über Erschöpfungszustände spekuliert und nach Ursachen dafür gesucht“, sagt Schaffner. Schriften dazu reichen zurück bis ins alte China.
Auffällig sowie interessant: Unter den vielfältigen Erklärungsansätzen gibt es einen, der in zwei zeitlich weit voneinander entfernten Epochen Anhänger fand: Sowohl in der Antike als auch gut 1.000 Jahre später in der frühen Neuzeit glaubte man, dass ein Ungleichgewicht innerer Säfte im menschlichen Körper zu Melancholie und Erschöpfung führt. Konkret verantwortlich gemacht wurde ein Überschuss an sogenannter schwarzer Galle im menschlichen System. Klingt abenteuerlich? Ist es auch. Die gesamte Krankheitslehre der vier Körpersäfte (die Humoralpathologie) ist wissenschaftlich nicht haltbar. Damals wusste man es nicht besser.
Übrigens: Der griechische Begriff „Melancholie“ leitet sich ab aus „mélas“ (schwarz) und „cholé“ (Galle). Früher kursierte sogar die Vorstellung, dass überschüssige schwarze Galle, die vom Körper verbrannt werden muss, als Rauch zum Gehirn aufsteigt und die Menschen deshalb schwermütig macht, also bildlich zu Schwarzseherinnen und -sehern.

So beeinflussen frühere Ansichten unsere Sicht auf Erschöpfung

Wer sich im sprichwörtlichen „Hamsterrad“ befindet und nur noch an den Job denkt, ist manchmal Opfer einer toxischen Arbeitsumgebung. Dieser Fremdeinfluss existiert und ist nicht kleinzureden. Dennoch haben zwei alte christlich-soziologische Konzepte einen Anteil daran, dass wir uns selbst oft nicht gestatten, auszuruhen: die Acedia und das protestantische Arbeitsethos.

Acedia – die Trägheit

„Nahezu panisch sorgten sich christliche Theologen bereits in der Spätantike um manch müden Mönch – und erklärten die Trägheit zur Todsünde“, sagt die Kulturwissenschaftlerin und Psychologin Ann-Kristin Tlusty. Alleine mit Willenskraft, hieß es damals, könne man die Acedia (oder Trägheit) überwinden.
Kulturhistorikerin Anna Katharina Schaffner betont, dass mit der Acedia-Theorie die Erschöpfung erstmals nicht mit inneren, also physischen Ursachen begründet, stattdessen aber moralisiert wurde. „Da wird die Erschöpfung als ein ethisches, spirituelles Fehlverhalten interpretiert, in dem Sinne, dass die Erschöpften sich nicht genug anstrengen, das tolle Werk Gottes zu würdigen“, erklärt sie.
Demnach folgen auch heute viele Menschen, die in einem Burnout stecken, noch immer alten moralisch-religiösen Denkmustern. Schaffner: „Wir denken ja ganz oft, dass Faulheit, Trägheit, Ausruhen, Selbstfürsorge, mal was für sich machen, mal einfach was aus Spaß machen – dass das was negativ moralisch Verwerfliches ist, weil wir diese Zeit nicht nutzen, uns zu optimieren oder irgendeinen Arbeitserfolg sicherzustellen.“

Protestantisches Arbeitsethos

Die Frage nach dem Beruf ist oft eine der ersten, die gestellt wird, wenn sich erwachsene Menschen kennenlernen. „Die Arbeit ist so eng mit unserer Identität verbunden, dass sie nicht nur eine ökonomische Notwendigkeit oder ein Mittel zum Zweck ist, sondern existenziell bedeutsam wird“, schreibt Schaffner in ihrem Buch „Erschöpft“.
Max Weber, der Gründer der Soziologie, erläutert in seinem Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ eben genau jenen Zusammenhang. Also wie das „das Streben nach Effizienz und Erfolg in unseren jeweiligen Berufen quasi zu einer heiligen Pflicht wurde“, wie Schaffner schreibt.
Nach Webers Theorie werden Protestanten zu idealen Kapitalisten – durch ihre harte Arbeit und den Drang, verdientes Geld nicht auszugeben, sondern zu reinvestieren. Persönliches Vergnügen und Spaß wurden in diesem Lebensmodell nahezu unwichtig, erklärt Schaffner. Das gelang vor allem deshalb, weil Verzicht (die Askese) in der protestantischen Religion einen hohen Stellenwert bekam.
„Die Idee, dass wir, wenn wir weltliche Erfolge vorweisen können, sicherer sein können, zu den Auserwählten zu gehören, wirkt auch heute noch extrem nach“, sagt Schaffner.

Die Rolle der Industrialisierung

Im 19. Jahrhundert hat der neu eingeführte Fabrikalltag die allgemeine Müdigkeit erst einmal gesteigert – nicht zuletzt aufgrund langer, harter Arbeitstage zu Beginn der Industrialisierung.
Durch eine neue Diagnose erfuhr die Erschöpfung zum Ende dieses Jahrhunderts aber zugleich eine Art Aufwertung: die Neurasthenie.
„Die Idee war, dass durch die Industrialisierung, durch die Beschleunigung, durch sozialen Wandel, (…) dass unsere schwachen Nervenkostüme einfach hemmungslos überfordert waren und dass gerade sehr sensible Menschen, künstlerisch veranlagte und kreative Menschen (…) sehr anfällig waren für die Neurasthenie“, erklärt Anna Katharina Schaffner.
Die Neurasthenie galt also im Grunde als positive Diagnose – ein Leiden für Feingeister.
Auch Schriftsteller wie Thomas Mann haben sich als Neurastheniker bezeichnet und teilweise ihre literarischen Charaktere so angelegt. Ein Beispiel: Gustav von Aschenbach in „Der Tod in Venedig“

Erschöpfung in der Gegenwart: Burnout

In der Jetzt-Zeit wird chronische Erschöpfung überwiegend mit einem Begriff assoziiert: „Burnout“. Diese Variante definiert sich u.a. dadurch, dass sie durch chronischen Stress bei der Arbeit ausgelöst wird. Charakteristisch für das Burnout-Syndrom ist u.a., dass sich diese Erschöpfung vorerst nicht mehr lichtet, sondern professionell behandelt werden sollte.

Oft geht mit dem Burnout zudem eine leichte Reizbarkeit einher. „Die Psychologen nennen das De-Personalisierung“, sagt Anna Katharina Schaffer und ergänzt: „Das bedeutet, (…) dass man wahnsinnig irritierbar ist, dass man die Emotionen nicht mehr wirklich managt und dass man auch oft sehr bitter, sehr zynisch und sehr pessimistisch denkt und reagiert.“

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Mit Aufkommen der Diagnose „Neurasthenie“ im 19. Jahrhundert wurden die Ursachen für Erschöpfung erstmals in einer Außenwelt gesehen, die durch ihre Schnelllebigkeit den Menschen die Energie raubt.
Kulturhistorikerin Schaffner: „Ähnliches erfahren wir ja auch heutzutage mit unseren technologischen Challenges – jetzt gerade mit der künstlichen Intelligenz. Das ist ja auch ein extremer Beschleunigungsfaktor in unserem Leben.“
jma
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