Gesellschaftliche Erschöpfung

Kommentar: Winterschlaf ist keine Alternative

04:41 Minuten
Illustration: Eine müde Person liegt in einem Hamsterrad.
Immer mehr Menschen fühlen sich erschöpft, leiden an Burnout oder dem Fatigue-Syndrom. Raus aus dem täglichen Hamsterrad ist allerdings nicht einfach. © imago / fStop Images / Malte Mueller
Ein Kommentar von Anne Backhaus · 22.01.2024
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Nach Angaben der AOK ist die Zahl der Menschen, die an Erschöpfungssymptomen leiden, innerhalb eines Jahres um 48 Prozent gestiegen. Zeit, bessere Arbeitsbedingungen und Ruhezeiten einzufordern, findet Journalistin Anne Backhaus.
Ein Bär müsste man sein. Die Tiere können so wunderbar ruhen. Monatelang. Bären sparen sich den Winterwahnsinn. Sie müssen nicht mit der Dunkelheit kämpfen, keine Gespräche über das Wetter oder die Bahn führen, ja nicht mal nachts durch den kalten Flur zur Toilette tapsen. Sie verschlafen viel. Nachrichten zum Beispiel. Kein Bär wird im März wissen, was uns im Januar beschäftigt hat.

Nachrichtenmüde: Keine Kraft für Krieg und Katastrophen

Gut, eher wohl, was manche beschäftigt hat. Denn Menschen sind zwar keine Winterschläfer, aber viele doch anhaltend erschöpft. Ermüdet von all dem, was passiert und uns inzwischen andauernd erreicht. Nachrichtenmüdigkeit ist ein Phänomen, das immer mehr zunimmt. Es existiert, weil es viele schlechte Neuigkeiten gibt. Kriege, Katastrophen, Inflation, Klimawandel, Verkehrschaos, irre Politiker. So was halt. Dabei wird die Welt nicht unbedingt schlechter. Es fühlt sich aber so an, denn wir bekommen mehr vom Schlechten mit. Viel mehr, ständig.
Einige machen deshalb News-Detox, mentale Entgiftung durch Nicht-Information. Also keine Nachrichten lesen, keine schauen, keine hören. Die Eilmeldungen auf dem Handy deaktiviert. Sie verschließen die Augen vor dem Gräuel der Welt. Fast, als würden sie schlafen.
Das kann Einzelnen tatsächlich helfen. Gegen Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle, Stress und Angst. Für die Gesellschaft ist es aber gefährlich. Denn wenn bald ein Großteil der Menschen das Weltgeschehen verpennt, fehlt ihre Aufmerksamkeit vielleicht genau da, wo es auf ihre Stimme ankommt.

Stress, Angst und Gleichgültigkeit statt Mitgefühl

Und dazu kommt weitere Müdigkeit. Die Mitleidsmüdigkeit oder „compassion fatigue“ von Ärztinnen, Ärzten und medizinischem Personal zum Beispiel. Bei der Arbeit konfrontiert und oft genug alleingelassen mit so vielen Extremsituationen, dass keine Kapazität für Mitgefühl mit Patienten bleibt. Stattdessen auch hier: Stress, Angst und Gleichgültigkeit.
Alle möglichen Menschen in diversen Teilen unserer Gesellschaft leiden zudem an "mental fatigue", mentaler Ermüdung. Sind also von ihrem Alltag gestresst, gereizt und apathisch. Die Fatigue selbst, medizinisch eigentlich ein Symptomkomplex, der schwere Erkrankungen wie Krebs begleitet, ist aus dem Krankenhaus und direkt in unseren alltäglichen Sprachgebrauch geschlendert, taucht in TikTok-Videos wie im Feuilleton auf.

Burnout und Fatigue in Büros

Das Magazin The New Yorker beschäftigte sich kürzlich mit der „großen Erschöpfung“ in Büros. Von so vielen, die ihrer Arbeit, Meetings, Brainstorming, Erwartungen, dem Umgang mit Menschen und dem Lösen nie endender Probleme überdrüssig sind. Autor Cal Newport beobachtet, dass Büroangestellte „sich in eine allgegenwärtige Atmosphäre der Müdigkeit zurückgezogen“ haben.
Müdigkeit, Fatigue - das klingt so schön harmlos. Es verniedlicht, wie hart überfordert und fertig viele sind. Ausgelaugt, leer, am Ende der Kraft. Erschöpft eben.
Wer hingegen müde ist, der muss sich ja nur zurückziehen, die Augen schließen, schlafen. Der wacht wieder auf und dann ist es besser. Was aber, wenn nicht? Wenn wir stattdessen in einer Gesellschaft die Augen öffnen, deren Mitglied wir gar nicht mehr sein wollen.
Menschen sind keine Bären. Können sich nicht ein paar Monate hinter ihrer Höhlentür zusammenrollen. Wohl aber können die Menschen bessere Arbeitsbedingungen einfordern, den Arbeitsalltag verändern. Sie können sich Ruhezeiten schaffen, ihr Handy weglegen. Sie können sich für andere Menschen und unsere Demokratie einsetzen. Sie können mitbestimmen und wachsam sein. Sie dürfen sich das nicht nehmen lassen. Es nicht verschlafen.

Anne Backhaus, geboren 1982, ist freie Autorin und Reporterin aus Hamburg. Ihr Schwerpunkt sind Reportagen, Porträts und Interviews mit gesellschaftspolitischen und kulturellen Themen, die sie z. B. für DIE ZEIT aufschreibt. Im Studium hat sie in Frankreich gelebt, für die Süddeutsche Zeitung einige Jahre in München und für DER SPIEGEL in Ghana. Am liebsten arbeitet sie auf Reisen. Außerdem unterrichtet Backhaus u. a. Storytelling, schöner Schreiben und Interview an Journalistenschulen und der Akademie für Publizistik.

Anne Backhaus trägt eine schwarze Bluse und blickt in die Kamera.
© Roman Höfner
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