Ersatzfreiheitsstrafe

Kommentar: Zehntausende zu Unrecht hinter Gittern

03:59 Minuten
Ein Vollzugsbeamter geht in der Zugangsabteilung der Justizvollzugsanstalt Moabit in Berlin an Zellentüren vorbei.
Zugangsabteilung der Justizvollzugsanstalt Moabit in Berlin: Wer in den Knast kommt, erlebt das oft als traumatisch. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Ein Kommentar von Ronen Steinke · 20.02.2024
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Viele Gefängnisinsassen in Deutschland sind nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden - sie konnten lediglich eine Geldstrafe nicht bezahlen. Das sei ein Skandal, den auch eine aktuelle Reform kaum besser mache, meint der Jurist Ronen Steinke.
In diesem Monat ist in Deutschland eine Gesetzesänderung in Kraft getreten, die zwar fundamentalen Einfluss auf die Grundrechte von Zehntausenden Menschen hat: die Menschenwürde, die Freiheit der Person, die Gleichheit vor dem Gesetz. Es geht um staatliche Eingriffe, die tiefgreifender nicht sein könnten. Trotzdem hat es kaum jemand mitbekommen. Denn die Menschen um die es hier geht, sitzen in Deutschland hinter Gittern, weggesperrt. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Den Stand der Zivilisation einer Gesellschaft erkennt man bei einem Blick in ihre Gefängnisse: Wenn irgendetwas dran ist an diesem viel zitierten Gedanken, der wahlweise George Orwell, Winston Churchill oder Fjodor Dostojewski zugeschrieben wird, dann sollten wir uns dafür dringend interessieren.

Ausdrücklich nicht zu Haftstrafen verurteilt

Man mag es kaum glauben: Mehr als die Hälfte der Menschen, die wir Jahr für Jahr einsperren, mehr als 50.000, haben vom Gericht keine Freiheitsstrafe erhalten. In ihren Fällen haben die Richterinnen und Richter im Urteil sogar ausdrücklich festgestellt, dass sie keine Haft verdient haben, weil ihre Tat oder ihre Schuld gar nicht so schwer wiegt.
Verdient haben sie lediglich eine mildere Sanktion – nämlich eine Geldstrafe. Aber dies sind Menschen, die ihre Geldstrafe nicht bezahlen können. Es werden Jahr für Jahr mehr. Deshalb landen sie am Ende dann doch hinter Gittern. Das Fachwort lautet Ersatzfreiheitsstrafe. Statistisch ist das in Deutschland heute der häufigste Grund, weshalb Menschen in einem Gefängnis eingesperrt werden.
Die erwähnte Gesetzesänderung, die nun am 1. Februar in Kraft getreten ist, mildert diese Härte ein wenig ab. Das ist eine gute Nachricht. Seit Jahrzehnten galt in der Bundesrepublik die mathematische Formel: Wer zehn Tagessätze Geldstrafe nicht bezahlen kann, der muss zehn Tage in einer Zelle absitzen.

Das Grundprobliem wird nicht gelöst

Jetzt hat die Ampelkoalition sich entschieden zu sagen: Es genügen auch fünf Tage, also ein Umrechnungsschlüssel von 2 zu 1. Das bedeutet, dass die Menschen weniger lang in Haft sitzen. Das Grundproblem allerdings, das sollte man sich bewusst machen, wird dadurch kaum beseitigt. Denn den größten Schock durchleben Inhaftierte gleich zu Beginn – und daran ändert sich weiterhin nichts.
Der Moment, in dem die Zellentür geschlossen wird, der Moment, in dem man allein ist mit seinen düsteren Gedanken, das ist ein Moment, in dem bereits sehr viel zu Bruch geht in einem Menschenleben. Die allermeisten, die sich in einem Gefängnis wiederfinden, erleben diesen ersten Moment als scharfen Einschnitt. Ihnen wird klar, dass ihre Freunde und Familie sie für immer mit anderen Augen sehen werden: Hast du gehört, der war mal im Knast! Beziehungen gehen zu Bruch.

Schaden am eigenen Selbstbild

Auch ihr eigenes Selbstbild nimmt Schaden: Ich dachte immer, aus mir wird mal etwas! Aber jetzt sitze ich hier eingesperrt wie ein Tier. Es ist ein bekanntes Phänomen, Fachleute sprechen vom Effekt der Prisonisierung. In diesen ersten Tagen in Haft werden die meisten Suizidversuche begangen. Kurz: Es gehen Dinge kaputt, die hinterher schwer wieder zu kitten sind.
Dann, nach ein paar Tagen, beruhigt sich in der Regel die Lage. Ob man sechs Wochen in Haft bleiben muss oder nur drei, das ist für diese Lebenskrise fast schon nachrangig. Aber das ist alles, was die Ampelkoalition jetzt geändert hat.

Für eine Reform zu wenig

Das ist als Reform zu wenig. Den Stand der Zivilisation einer Gesellschaft erkennt man bei einem Blick in ihre Gefängnisse: Wer das ernst nimmt, der kann erst zufrieden sein, wenn die Politik endlich dafür sorgt, dass keine Menschen mehr in ein Gefängnis kommen, die keine Gefängnisstrafe verdient haben - und auch nichts dafür können, dass sie eine Geldstrafe nicht bezahlen können.

Ronen Steinke ist Redakteur und Autor der „Süddeutschen Zeitung“. Er ist promovierter Jurist, Dozent an der Deutschen Richterakademie und Mitglied im Kuratorium des Max-Planck-Instituts für die Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht. Im Berlin Verlag erschienen zuletzt sein Buch „Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt“ (2020) und der Bestseller „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz“ (2022). Seine 2013 veröffentlichte Biografie über Fritz Bauer, den mutigen Ermittler und Ankläger bei den Frankfurter Auschwitz-Prozessen, wurde verfilmt („Der Staat gegen Fritz Bauer“) und in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Der Jurist und Journalist Ronen Steinke sitzt auf einer Treppe.
© Amin Akhtar
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