Erinnerungen

Hommage an die geliebte Frau

Der russische Philosoph Michail Ryklin am 21.3.2007 auf der Leipziger Buchmesse
Der russische Philosoph Michail Ryklin © picture alliance / dpa / Arno Burgi
Von Carsten Hueck · 13.04.2014
2008 starb die russische Künstlerin Anna Ryklin in Berlin. Die Umstände wurden nie geklärt. Ihr Mann, der Philosoph Michail Ryklin, blickt zurück auf diese Tragödie und bietet mit dieser Beschreibung Erklärungen.
Karfreitag, 21. März 2008. Der russische Philosoph und Autor Michail Ryklin lebt mit seiner Frau, der Lyrikerin, Künstlerin und Kulturkritikerin Anna Altschuk seit einem Jahr in Berlin. Während Ryklin sich an diesem nasskalten Tag in ein Buch vertieft, verlässt seine Frau mit der Bemerkung, sie wolle noch Waschpulver und etwas zu essen einkaufen, die gemeinsame Wohnung. Drei Wochen später wird ihre Leiche in der Spree gefunden.
Der Philosoph hat Jahre gebraucht, um sein "Buch über Anna" zu schreiben. Gewöhnlich findet er, ein Intellektueller, durch Denken Antworten auf Fragen des Lebens. In diesem Buch aber sucht er vor allem als Hinterbliebener Antwort auf die Frage: Warum ist meine Frau gestorben? War es ein Selbstmord? War es - so Vermutungen in der Presse - ein politischer Mord?
Anna Altschuk war als Kreml-Kritikerin bekannt. 2003 wurde sie angeklagt, mit einem Kunstprojekt "religiösen und nationalen Zwist" geschürt zu haben. Sie ertrug staatliche Willkür, Hetzkampagnen und öffentliche Beschimpfungen.
Nach eineinhalb Jahren wurde sie freigesprochen, doch eine Zukunft als Künstlerin hatte sie in Moskau nicht mehr. Freunde wendeten sich ab, schlugen sich auf die Seite der Staatsmacht. Anna Altschuk fühlte sich von der Gesellschaft ausgestoßen.
Systematisch rekonstruiert Michail Ryklin, wie seine Frau sich immer mehr in eine "Parallelwelt" zurückzieht. Dabei helfen ihm ihre zahlreichen Traum- und Tagebuchaufzeichnungen. Schonungslos protokollierte Anna Altschuk das kräftezehrende Ringen mit Lebensumständen, die für sie immer bedrohlicher wurden. Euphorie und Hoffnung wechseln sich ab mit Depression und Selbstzweifeln.
Ein Portrait voller Respekt
Deutlich erkennbar: die Untrennbarkeit von Gesellschaftlichem und Privatem und auch, wie ihr psychisches Konfliktpotential durch die äußeren Umstände aktiviert wird. Als Anna Altschuk nach dem Mord an der Journalistin Anna Politkowskaya beschließt, mit ihrem Mann nicht mehr in Russland zu leben, ist das nur scheinbar eine Wendung zum Guten - das begreift Ryklin nach ihrem Tod. Er versteht nun, wie belastend es für seine Frau gewesen sein muss, ihre Muttersprache und das vertraute Milieu zu entbehren, ihre über die Jahre erarbeitete Selbstständigkeit zu verlieren, von der Dichterin und Ehefrau, der Künstlerin und Ehefrau in Berlin zur "nur Ehefrau" zu werden.
Ryklin ist sich am Ende sicher, dass Anna Altschuk Selbstmord begangen hat. Schuldgefühle plagen ihn. Er porträtiert seine Frau voller Respekt und Zuneigung und lässt sie, indem er auch ihren Aufzeichnungen breiten Raum gibt, selbst zu Wort kommen. Er bemüht sich um Sachlichkeit. Gleichwohl spürt man die Erschütterung, die diese Tiefenbohrung durch die verschiedenen Schichten seiner 30-jährigen Ehe in ihm auslöst.
Mit seinem "Buch über Anna" gelingt ihm eine Hommage an die geliebte Frau, eine Einführung in das Werk der Künstlerin Anna Altschuk und eine exemplarische Studie über den Selbstmord eines Menschen, dessen Welt aus den Fugen geriet.

Michail Ryklin: Buch über Anna
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 333 Seiten, 24,95 Euro

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