Ein Land im politischen Ausnahmezustand

02.05.2007
Der russische Philosoph Michail Ryklin berichtet in seinem Buch von einem absurden Gerichtsprozess um eine Moskauer Kunstausstellung. Als Leser, geprägt vom Vertrauen in rechtsstaatliche Strukturen, folgt man dem Erzählten mit fassungslosem Staunen, wie plötzlich Täter zu Opfern werden, wie perfekt viele Stellen einer Maßregelungsmaschinerie zusammenspielen und dennoch nach außen der Schein eines demokratischen Russland gewahrt wird.
Auslöser für das Buch war ein Gerichtsprozess, der auf die Verwüstung einer Ausstellung im Moskauer Sacharow-Zentrum folgte: Im Januar 2003 zerstörten aufgebrachte junge Männer eine eben erst eröffnete Schau zeitgenössischer Künstler, die den Titel "Achtung, Religion!" trug. Die Täter wurden verhaftet, aber später wieder frei gelassen, nachdem sie sich damit gerechtfertigt hatten, ihre religiösen Gefühle seien verletzt worden. Stattdessen wurden einige der 58 Künstler und Ausstellungsmacher wegen "Schürens nationalen und religiösen Zwistes" vor Gericht gebracht, darunter auch die Frau des Autors, Anna Altschuk.

Der Ablauf des Geschehens mag dem mit der gegenwärtigen politischen Situation in Russland nicht Vertrauten irrwitzig erscheinen: Verfolgung, Drohungen, Einschüchterungen, das Zusammenwirken von orthodoxer Kirche und Geheimdiensten, Vorwürfe durch eine gelenkte Presse, ein in keiner Weise rechtsstaatliches Verfahren mit schließlich relativ milden Strafen, die als Warnung für die Betroffenen und Fingerzeig für die Öffentlichkeit zu verstehen sind.

Der Philosoph Michail Ryklin notiert die Ereignisse jener Monate in drei Durchläufen: Einmal als persönlich Betroffener, dann als Chronist der Ereignisse und schließlich als Deutung des Geschehenen, wobei die Übergänge fließend sind. Immer wieder verschwimmen Fakten und Analyse. Stets wird persönliche Betroffenheit, die Empörung über all die Ungerechtigkeiten, das sprachlose Staunen über jede neue Wendung des völlig unerwarteten Prozesses, der da ins Rollen gebracht wurde, spürbar.

Aber auch als Leser, geprägt vom Vertrauen in rechtsstaatliche Strukturen, folgt man dem Erzählten mit fassungslosem Staunen, wie plötzlich Täter zu Opfern werden, wie perfekt viele Stellen einer Maßregelungsmaschinerie zusammenspielen und dennoch nach außen der Schein eines demokratischen Russland gewahrt wird.

Allerdings muss sich der Text von Ryklin, der im März mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde, auch ein wenig Kritik gefallen lassen: Ryklin konzediert kein einziges Mal, dass durch die Ausstellung tatsächlich religiöse Gefühle verletzt worden sein können.

Er spricht davon, dass die Künstler keinerlei Provokation im Sinn gehabt hätten und teilweise selbst gläubig seien, geht aber nicht auf die Inhalte ein, die auch nach westlichen Maßstäben mitunter als gewagt gelten könnten: Etwa, wenn ein Christuskopf neben dem Schriftzug von Coca-Cola prangt und daneben die Worte "This is my blood" zu lesen sind. Oder die eindeutig an christliche Motive angelehnte Darstellung eines Lammes mit dem Schriftzug "Agnus Dolly" an der Seite, ein Werk, das sich mit dem Klonen beschäftigt.

Es ist Ryklins Verdienst, auf innenpolitische Entwicklungen hinzuweisen und der Welt ein Russlandbild zu zeigen, das Anlass zur Sorge gibt und die Fälle Chodorkowski und Politkowskaja nicht mehr nur als Unfälle einer im Übergang befindlichen Gesellschaft erscheinen lässt. Neu hinzu kommt die Macht der russisch-orthodoxen Kirche. Der Autor sieht anhand des geschilderten Beispiels die Gefahr eines "neuen Faschismus russischer Spielart". Und er meint den Schlüssel zu alldem im Tschetschenienkonflikt zu erkennen, der das Land in eine Art politischen Ausnahmezustand geführt habe.


Rezensiert von Stefan May

Michail Ryklin: Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der "gelenkten Demokratie"
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006
239 Seiten, 10 Euro