"Er war politisch durch und durch"

Marina Schnurre im Gespräch mit Dieter Kassel · 20.08.2010
"Als Vaters Bart noch rot war" ist vielen Lesern ein Begriff: Die Erinnerungen von Wolfdietrich Schnurre an das raue Berlin um 1930. Doch auch seine Kinderbücher und Hörspiele sind eine Wiederentdeckung wert, meint seine langjährige Weggefährtin Marina Schnurre.
Dieter Kassel: Am kommenden Sonntag wäre der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre 90 Jahre alt geworden. Diesen Tag werden nicht besonders viele Menschen in Deutschland begehen, und das ist erstaunlich, denn Schnurre war nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit einer der beliebtesten und bekanntesten deutschsprachigen Autoren.

Besonders beliebt bei ganz unterschiedlichen Leserinnen und Lesern waren seine Geschichten von dem Vater und dem Sohn, die durch das Berlin der Weimarer Republik streunerten, zwei Außenseiter, die erstaunliche, manchmal auch gar nicht so erstaunliche Dinge erlebten. Das Buch mit diesen Geschichten, "Als Vaters Bart noch rot war", das stand in, na, vielleicht nicht jedem, aber ganz, ganz vielen deutschen Buchregalen.

Inzwischen ist Schnurre ein bisschen in Vergessenheit geraten, fast jeder, der sich aber noch an ihn erinnert, sagt, dass das zu Unrecht so ist, und deshalb wollen wir an ihn erinnern, ihn wieder in Erinnerung bringen, im Gespräch mit seiner Witwe. Marina Schnurre ist selbst Schriftstellerin, Grafikerin und Psycho-Onkologin, das heißt, sie betreut krebskranke Menschen psychologisch, lebt zum Teil in Berlin, zum Teil in Kroatien. In Kroatien ist sie jetzt gerade, und da begrüße ich sie am Telefon. Schönen guten Morgen, Frau Schnurre!

Marina Schnurre: Guten Morgen nach Berlin!

Kassel: Es ist immer noch so, ich habe das auch im Kollegenkreis festgestellt, dass diese Vater-Sohn-Geschichten wirklich das ist, was man sofort mit Schnurre in Verbindung bringt. War das für ihn später dann, als er auch ganz andere Sachen geschrieben hat, immer ein Grund zum Stolz oder waren diese Geschichten ein bisschen auch ein Fluch?

Schnurre: Nein, es war kein Fluch, im Gegenteil, er wollte ja sogar einen zweiten Band machen. Den hat er dann nicht gemacht, sondern den habe ich dann aus seinem Nachlass herausgegeben, "Als Vater sich den Bart abnahm" hieß dieses Buch. Es lief einfach nebenher, dieses Buch, und seine anderen Sachen waren ihm immer wichtiger, immer das, was er gerade schrieb, war das wichtigste Buch natürlich. Und ganz so vergessen scheint er mir doch nicht zu sein, denn es ist ja herausgekommen einmal, 2008 noch mal "Dreimal zur Welt gekommen "im Paranus Verlag, ein wirklich sehr schönes Buch mit seinen Erzählungen. Und dann eine ganze Menge an Kinderbüchern, unter anderem "Die Prinzessin kommt um vier" im Aufbau Verlag. Ja, und immer wieder sind seine Bücher noch auf dem Markt, aber jetzt dankenswerterweise, zu seinem 90., hat der Berlin Verlag ja eine ganze Menge an Büchern herausgegeben und will da auch weiter dranbleiben.

Kassel: Das stimmt, das scheint mir auch so ein kleines Revival, wie man heute sagen würde, zu sein. Völlig zu Recht.

Schnurre: Ja.

Kassel: Aber bleiben wir mal kurz wirklich noch bei diesen Vater-Sohn-Geschichten, die ja auch damals, als sie neu erschienen sind, wirklich ganz unterschiedliche Leute angesprochen haben. Was ist denn für Sie der Grund … was macht diese Geschichten bis heute so faszinierend?

Schnurre: Also das kann ich Ihnen sagen. Ich bin mit diesen Geschichten in der Hand sozusagen Ost-Berlin abgelaufen, weil er hat ja realistisch alle Straßen auch beschrieben, in denen er da aufgewachsen ist mit seinem Vater, dort gelebt hat, und Sie können es als Buch nehmen und heute noch diese Ecken alle finden. Und heute noch haben wir diese selbe Lage: Die Leute sind arbeitslos, es geht ihnen nicht so gut. Er hat immer gerne kleine Leute beschrieben, und die treffen Sie heute noch dort. Und insofern ist dieses Buch, auch der zweite Band, immer noch ganz aktuell. Und es ist ein, sagen wir mal, Schulbuch, er ist Schulbuchautor geworden durch dieses Buch. Ich werde oft angerufen von Schulklassen, die mich fragen, ob ich den Schluss gut finde, wie sie den geschrieben haben. Er hat immer wieder darum gebeten, dass an seine Schlüsse verändert, dass er also in seinen Kindergeschichten oder in seinen Vater-Bart-Geschichten … dass die Kinder sich doch andere Schlüsse ausdenken mögen, und das haben viele Schulklassen aufgenommen. Und so kriege ich ab und zu mal Rückfragen: Ist der Schluss denn in Ordnung, wäre das der richtige Schluss für diese Geschichte? Also das ist ziemlich lebendig noch vorhanden.

Kassel: Sie haben schon gesagt, arbeitslos. Es ist ja mehr als das, ich finde, dieser Vater und sein Sohn in all diesen Geschichten, das sind ja Außenseiter, die so die Welt beobachten und teilweise nicht richtig dazugehören, und bei allem, was ich je von Schnurre gelesen habe – was bei Weitem nicht alles ist, er hat ja ein riesiges Œuvre vorgelegt –, bei allem stehen Außenseiter mehr oder weniger im Mittelpunkt. Warum haben ihn die so fasziniert?

Schnurre: Also das hängt sicher mit seiner Familiengeschichte zusammen. Erstens ist er von seinem Vater allein erzogen worden, und Vater, er war schon sehr eigen, ich habe ihn kennengelernt, ein sehr interessanter und eigener Mann, unter anderem Ornithologe, die beiden sind also immer in den Wald gezogen, haben Vögel beobachtet. Und Vater mochte immer irgendwelche Außenseiter, und der Wolfdietrich ist damit aufgewachsen, Zigeuner zum Beispiel, die immer verfemt waren – bei den Schnurres gehörten die einfach irgendwie mit dazu. Er hatte einen Zigeunerfreund und hat ja auch über den geschrieben. Das letzte Buch, was wir beide zusammen gemacht haben, das war 1988, ist die "Zigeunerballade". Also Außenseiter interessierten ihn, normale Menschen natürlich auch, aber es waren immer die Leute, ja, die Ecken und Kanten hatten.

Kassel: Hat er sich denn selber auch als Außenseiter empfunden?

Schnurre: Ein bisschen wohl schon. Er gehörte zwar … er hat ja die Gruppe 47 mit gegründet und hat auch die erste und übrigens auch die letzte Geschichte, als die Gruppe sich dann auflöste, gelesen, aber er hat sich immer ein wenig als Außenseiter gefühlt, und ich glaube, so ist er auch von der Gruppe gesehen worden. Also er war kein Gruppenmensch, er war auch niemand, der so in literarischen Zirkeln sich gerne aufgehalten hat. Er hatte zwar Schriftstellerfreunde, aber er hatte sehr, sehr viele Freunde, die eben keine Schriftsteller waren.

Kassel: Aber er war ja offenbar jemand, der von Schriftstellern was erwartet hat, denn er ist 1961 aus dem deutschen P.E.N. ausgetreten als Protest dagegen, dass der in seinen Augen sich nicht engagiert genug gezeigt hat nach dem Bau der Berliner Mauer.

Schnurre: Ja, das ist richtig. Er war ein wirklich durch und durch politischer Mensch, und er konnte das überhaupt nicht nachvollziehen, dass die da überhaupt nicht reagiert haben. Er ist ja mit Grass zusammen … die hatten einen Brief entworfen und sind damals, als die Mauer gerade angefangen wurde zu bauen, sind die ja noch rüber zu den Schriftstellern in Ost-Berlin, und haben die gebeten, also irgendwie zu protestieren. Also er hat sein ganzes Leben lang wirklich immer politisch gearbeitet, er hat eine Menge geschrieben, eine Menge Fernsehinterviews gegeben, er hat eine Menge Zeitungsartikel geschrieben. Also er war politisch durch und durch, und das hat natürlich was mit seinen Kriegserlebnissen zu tun. Er ist als junger Mann eingezogen worden und fand es grauenhaft.

Kassel: Wie sehr diese berühmten, er hat diese Formulierung ja mehrmals verwendet, sechseinhalb nutzlosen Jahre als Soldat, verschwendete Lebensjahre, wie sehr war das – Sie waren ab 1966 mit ihm verheiratet –, wie sehr war das auch zu dem Zeitpunkt dann noch und später privat für ihn ein Thema? Oder hat er darüber nicht gesprochen?

Schnurre: Doch. Es war immer ein Thema, es war immer ein Thema, und er konnte diese Wiederaufrüstung Deutschlands überhaupt nicht akzeptieren. Und dieser Krieg, der hat ihn wirklich, ich kann nicht sagen, aus der Bahn geworfen – er war ja noch in gar keiner Bahn –, aber das hat ihn unheimlich, wirklich bis in die Nächte verfolgt, er hatte also Träume und fand es grauenhaft. Er hat sich ja dann auch sehr mit der jüdischen Geschichte auseinandergesetzt, hat ja einen Roman geschrieben, der leider Gottes nie so publik geworden ist - außer in Israel tatsächlich, "Ein Unglücksfall", und ich hoffe, dass der Berlin Verlag eines Tages den auch herausbringt, wo es um eine jüdische Familie, um eine Berliner und eine jüdische Familie in Berlin geht, ein wirklich grandioses Buch. Also das hat ihn immer beschäftigt. Schuld, unschuldig schuldig werden, das war so das große Thema, und er hatte immer ein schlechtes Gewissen, obwohl er nichts angestellt hatte. Also er hat niemanden umgebracht, er ist geflüchtet, er saß in der Strafkompanie, er hat … ganz zum Schluss ist er dann also wirklich, als alles zusammenbrach, ist er weggegangen, also abgehauen nach Westfalen, geflüchtet, und das war das große Thema für ihn: Schuld.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Marina Schnurre, von 1966 bis zu seinem Tod die letzte Ehefrau des Schriftstellers Wolfdietrich Schnurre. In zwei Tagen wäre er 90 geworden, das ist der Anlass. Frau Schnurre, nun hat er sehr großen Erfolg gehabt in der Nachkriegszeit mit seinen Geschichten, nicht nur die Vater-Sohn-Geschichten, aber auch die, und ist von der Kritik aber genauso auch gerne gesehen worden, auch zu Lebzeiten, dass er der Mann für die kurzen, unterhaltsamen Geschichten ist. Als großer Literat ist er teilweise da nicht richtig anerkannt worden. Hat er selber darunter gelitten?

Schnurre: Darunter hat er gelitten. Also "der Mann der kleinen Form", hat mal irgendjemand geschrieben, also das mochte er nun absolut nicht hören. Und wenn man bedenkt, dass der "Unglücksfall" ein Roman oder "Der Schattenfotograf" ein dickes Buch, das nicht nur kurze, witzige Geschichten enthält, ist, dann ist das auch wirklich zu Unrecht. Er hat ja eine ganze Menge Bücher geschrieben mit Erzählungen, mit richtig guten Erzählungen, "Funke im Reisig" zum Beispiel oder "Man sollte dagegen sein" oder "Eine Rechnung, die nicht aufgeht" oder "Das Los unserer Stadt". Ein hellsichtiges Buch, im Jargon des Mittelalters sieht er schon voraus alles das, was jetzt so auf uns zukommt in der Politik, also das sind alles wirklich wichtige Bücher, und ich hoffe, dass durch diesen Anfang im Berlin Verlag, was die Frau Runge, Elisabeth Runge sich da ausgedacht hat, also den Schnurre wieder vorzustellen, dass sich das also wirklich lohnt insofern für die Leser, dass sie einen Mann kennenlernen, der wirklich sehr, sehr vielseitig ist. Er hat ja nicht nur Bücher geschrieben, er hat Filme gemacht, er hat Fernsehen gemacht …

Kassel: Hörspiele.

Schnurre: … und so weiter, ja.

Kassel: Hörspiele zum Beispiel, ja, "Funke im Reisig" ja gerade auch wieder erschienen im Berlin Verlag, wir haben es auch vorgestellt hier im Programm, diese Wiederveröffentlichung. Frau Schnurre, nun haben Sie ja teilweise wirklich mit ihm zusammen gearbeitet. Wie hat er denn eigentlich geschrieben, war er eher jemand, der sich ins stille Kämmerlein verzogen hat und dann seine Ruhe haben wollte, bis das Werk fertig ist, oder eher jemand, der am Küchentisch saß und immer gestört werden durfte?

Schnurre: Also er durfte immer gestört werden, was ich aber wenig tat, aber er zog sich natürlich zurück. Na ja, es ging vorher los, dass er sich mit mir unterhielt über das Thema, das er da gerade am Wickel hatte, also zum Beispiel bei Fernsehspielen war das sehr oft der Fall, und wir gingen oft um den Schlachtensee und entwickelten manchmal zusammen … also er erzählte mir seine Idee, und ich widersprach dann und sagte dann zum Beispiel, nein, aber so spricht doch eine Frau gar nicht. Und da haben wir so zusammen ein wenig ein Stück entwickelt. Dann setzte er sich natürlich zurück in sein Kämmerlein und schrieb, und ich war seine erste Kritikerin. Und oft war das so, dass ich hinter ihm saß, weil das Zimmer sehr klein war, und er sich … ich sagte gar nichts, er drehte sich um und sagte dann, ich weiß, ich weiß, geh raus, geh raus, es ist ein schlechtes Stück oder eine schlechte Seite, und dann hat er das geändert und mir dann wieder vorgelesen. Also wir haben da schon ganz intensiv zusammengearbeitet und ja auch zusammen gezeichnet, also nicht er und ich zusammen, sondern wir haben zusammen Kinderbücher gemacht, er hat sie geschrieben, ich habe sie gezeichnet, oder wir haben sie uns ausgedacht und ich habe sie gezeichnet oder er hat sie gezeichnet. Also das war eine sehr intensive Zusammenarbeit, wenn man so will, eine sehr schöne Zusammenarbeit.

Kassel: So wie Sie das erzählen, habe ich gerade das Gefühl, ich sitze als Dritter mit dabei in diesem kleinen Arbeitszimmer.

Schnurre: Ja, ja, es war manchmal sehr aufregend, also manchmal war ich ja anderer Meinung und dann ging es hart her. Aber das hat immer Riesenspaß gemacht.

Kassel: Frau Schnurre, mir hat das Gespräch auch Riesenspaß gemacht und ich denke, Sie haben jetzt dazu beigetragen, dass die Bücher, die es Gott sei Dank immer noch oder wieder zu kaufen gibt von Wolfdietrich Schnurre, jetzt auch wieder viele Leser finden werden. Ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!

Schnurre: Ich danke Ihnen auch!

Kassel: Tschüss!

Schnurre: Tschüss!

Kassel: Marina Schnurre war das, bis zu seinem Tod die Ehefrau von Wolfdietrich Schnurre. Am Sonntag würde Schnurre 90 Jahre alt werden, und man muss vielleicht noch nicht mal bis Sonntag warten, um ihn und seine Werke wiederzuentdecken.

Ausführliche Biografie von Wolfdietrich Schnurre im Deutschen Historischen Museum - Lebendiges Museum Online (lemo)
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