Lebensgefühl der Stunde Null

05.08.2010
Mit seinen Erzählungen hat Wolfdietrich Schnurre jahrzehntelang die Lesebücher, die Zeitschriften und die Feuilletons beherrscht - Texte, die das Lebensgefühl der Nachkriegszeit ausdrücken. Mittlerweile in Vergessenheit geraten wird es Zeit für eine Wiederentdeckung des Büchnerpreis-Trägers.
Dass auch Wolfdietrich Schnurre einmal zu den vergessenen Autoren gehören würde, konnte man sich lange nicht vorstellen. Immerhin bekam er noch 1983 den Büchnerpreis - er starb 1989. Schnurre war einer der profiliertesten Vertreter der Nachkriegsliteratur, vor allem durch seine Erzählungen und Kurzgeschichten. Der Berlin Verlag hat bereits mehrere von Schnurres Büchern in den letzten Jahren neu herausgebracht, darunter "Als Vaters Bart noch rot war", die schönsten Vater-Sohn-Geschichten, die es in der deutschen Literatur überhaupt gibt.

Aus Anlass des 90. Geburtstags am 22. August 2010, erscheinen seine zwei wohl zentralsten Bücher noch einmal: einmal der Roman "Der Schattenfotograf", eine Art Lebensresümee aus dem Jahr 1978, vor allem aber die Erzählungen aus den Jahren 1945 bis 1965. Sie bilden den Kern von Schnurres Werk, mit ihnen hat er jahrzehntelang die Lesebücher, die Zeitschriften und die Feuilletons beherrscht. Furios war dabei vor allem seine Anverwandlung der amerikanischen Kurzgeschichte, die er kongenial auf deutsche Verhältnisse und die deutschen zeitgeschichtlichen Umstände übertrug.

Literaturgeschichtlich bedeutsam ist schon längst seine Erzählung "Das Begräbnis": Es war der erste Text, der auf der ersten Tagung der Gruppe 47 im Jahre 1947 vorgetragen und diskutiert wurde, in jenem charakteristischen Stil, der damals als "Kahlschlagliteratur" bezeichnet wurde. Es geht in knapper, schnörkelloser Diktion um eine Traueranzeige, die das Lebensgefühl direkt nach 1945 präzis ausdrückt: "Von keinem geliebt, von keinem gehasst, starb heute nach langem, mit himmlischer Geduld ertragenem Leiden: Gott."

Die Short Stories von Schnurre standen in den frühen fünfziger Jahren dafür, dass die junge Generation mit dem alten Schwulst, der alten deutschen Pathosliteratur, dem Verweis auf höhere Mächte und auf göttliches Geschick nichts mehr anfangen wollte. In dem Kurz-Lebenslauf, den Schnurre lange in seinen Büchern druckte, stand immer der Satz: "Sechseinhalb sinnlose Jahre Soldat". Im Alter von 19 bis 25 Jahren war er als Soldat im Zweiten Weltkrieg, und diese einschneidende Erfahrung findet sich in vielen seiner Texte wieder.

Er war ein Moralist, aber kein salbungs- oder weihevoller. Er war ein Moralist der Nüchternheit und der einfachen Wahrheiten, die so schwer auszudrücken sind. Auf kleinstem Raum drückt etwa die Erzählung "Das Versäumnis" aus, was Literatur vermag: ein von den Nazis des Lebenssinns beraubter Arbeiter will sich umbringen. In einer Menschenansammlung erkennt er jedoch plötzlich Hitler, und er merkt: jetzt könnte er zum Helden werden, wenn er mit seiner Pistole Hitler erschießt. Doch er ist zu schwach, lässt die Pistole fallen und wendet sich ab. Nicht nur diese Geschichte lässt sich ausgiebig nach allen Seiten hin interpretieren. Der Autor Schnurre ist jede Wiederentdeckung wert.

Besprochen von Helmut Böttiger

Wolfdietrich Schnurre: Funke im Reisig. Erzählungen 1945 bis 1965,
Berlin Verlag, Berlin 2010, 409 Seiten, 26,00 Euro