Engagement

Schwacher Peso, starker Nachwuchs

Eine Demo in Argentinien: Menschen schwenken die argentinische Fahne.
Eine Demo in Argentinien: In dem Land engagieren sich auch viele junge Menschen. © picture alliance / dpa / David Fernandez
Von Francisco Olaso · 04.03.2014
Die politische Jugend in Argentinien ist besonders aktiv: Hier finden die Wahlen der Studentenvertretungen fast ebenso viel Aufmerksamkeit wie die der Parlamente. Auch die 17-jährige Paula träumt davon, die Welt zu verbessern.
Dienstag, zehn Uhr morgens. Im Gemeindesaal von Uranga, einem Dorf, rund 250 Kilometer entfernt von Buenos Aires, drängen sich 70 der eintausend Einwohner. Gerahmte Fotos an der Wand zeigen die Bürgermeister vergangener Jahrzehnte. Demnächst wird das Foto von Alex Sabbatini am Ende der Reihe hängen.
Der junge Mann sitzt in der ersten Reihe, während eine Beamtin den Amtseid vorliest. Er trägt Jeans und unter dem schwarzen Sakko ein kariertes Hemd ohne Krawatte. Es ist der wichtigste Augenblick seiner 22 bisherigen Lebensjahre. Alex Sabbatini wird gerade zum jüngsten Bürgermeister Argentiniens gekürt.
Sabbatini: "Ich bin sehr glücklich. Es ist der Beginn einer neuen Ära. Wir wollen Konsens und Transparenz in die Gemeindearbeit bringen. Das ist die Grundlage, auf der wir unsere Wahlversprechen in die Tat umsetzen werden. Für uns ist es eine Ehrensache, die Arbeit an der Kanalisation fortzusetzen. Wir wollen aber auch dafür sorgen, dass Uranga eine Abendschule für Erwachsene bekommt."
Alex Sabbattini ist klein und schmächtig. Mit 58 Kilo ein Leichtgewicht. Er hat die Wahl gewonnen, weil er mit Kugelschreiber und Notizblock von Haus zu Haus gezogen ist. Mit seinem Programmpunkt "Abendschule für Erwachsene" reagiert er auf ein in Argentinien weit verbreitetes Phänomen. Rund eine halbe Million Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren sind Schulabbrecher. Alex Sabbatini ist Mitglied der Partido Demócrata Progresista, einer traditionsreichen Bauernpartei. Die allerdings viele Sympathien einbüßte, weil sie den Putsch von 1976 guthieß, der den Beginn der grausamen Militärdiktatur in Argentinien einleitete.
Folge der Politik von Néstor Kirchner
Alex' politisches Engagement begann vor drei Jahren mit Ferienlagern, Diskussionsforen und politischen Schulungen und ist - obwohl das gar nicht Alex' Richtung entspricht – Folge der Politik von Néstor Kirchner, der im Jahre 2003 Präsident wurde. Die von Neoliberalismus geprägten 90er-Jahre, die schließlich in die schwere Wirtschaftskrise 2001 mündeten, hatten die Jugend Argentiniens desillusioniert und apathisch gemacht.
Dem Ehepaar Kirchner, Cristina Kirchner folgte ihrem Ehemann Néstor 2007 im Präsidentenamt, gelang es, die Menschen wieder davon zu überzeugen, dass Politik ein Werkzeug zur Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft sein kann.
Sabbatini: "Es ist gut, dass jungen Menschen die Möglichkeit gegeben wird, sich zu beteiligen, und zwar nicht nur ein Graffiti an eine Mauer zu malen oder Flyer zu verteilen, sondern eine Wahlliste anzuführen, Ideen zu entwickeln und Führungsaufgaben zu übernehmen. Ich denke, das tut der Politik gut. Ich nehme das Amt mit Freude an und werde mit meinem Engagement dafür sorgen, dass man erfährt, dass die Jugend die Geschicke einer Gemeinde oder einer Stadt in die Hand nehmen kann."
Alex Sabbatini war in einigen argentinischen Talkshows zu Gast. Das jugendliche Alter seines Bürgermeisters hat dem Bauerndorf eine unerwartete Medienkarriere beschert. Uranga hat nur vier asphaltierte Straßen. Die meisten der 350 Familien leben von der Landwirtschaft. Im Winter werden Erbsen angebaut. Im Sommer ist Soja-Saison.
Umwelt- und Gesundheitsschäden vorbeugen
Wie vielerorts in Argentinien werden genmanipulierte Sorten angebaut und dabei kommen hochgiftige Chemikalien zum Einsatz. Alex Sabbatini ist der Meinung, durch strikte Einhaltung der Kontrollen könne man Umwelt- und Gesundheitsschäden vorbeugen:
"Das ist ein breites Thema. In einem Dorf, das von der Landwirtschaft lebt, kann man nicht auf Konfrontationskurs mit den Bauern gehen, aber ich denke, solange man im Dialog bleibt und miteinander redet, kann man sich einigen."
50 Kilometer nördlich von Uranga liegt Rosario, Argentiniens drittgrößte Metropole. Cintia Arapa ist jüngstes Mitglied des dortigen runden Tisches der indigenen Völker. Das Komitee trifft sich in einem der Büros eines selbstverwalteten Kulturzentrums, das früher ein Supermarkt war. Vier nackte weiße Wände, in der Mitte ein Tisch und ein kleines Fenster zur Cafeteria.
Die 26-Jährige mit langen schwarzen Haaren, in Jeans und beigefarbener Bluse, trägt eine modische Brille mit dünnem Gestell. Ihre Blicke wirken scheu. Sie ist eine aufmerksame Zuhörerin, die kein Wort zu viel sagt. Cintia ist über den Kampf für die Rechte der indigenen Völker zur Politik gekommen. Geboren in Rosario, als Kind von Zuwanderern aus dem Nordwesten, besuchte sie eine katholische Privatschule, verschwieg dort aber ihre Herkunft aus Angst vor Diskriminierung. Cintia gehört zum Volk der Colla, dessen Angehörige in Bolivien, Chile und Argentinien leben. In ihrem Elternhaus wurden die Rituale der Indigenas gepflegt:
"Erst an der Universität begann ich zu meinen Wurzeln zu stehen. Im ersten Semester meines Anthropologiestudiums sagte ich ganz öffentlich, dass ich aus einer indigenen Community bin und mich in der Jugendarbeit engagiere. Sie waren überrascht, nahmen es aber mit Respekt auf. Ich merkte, dass so ein Bekenntnis heute anders aufgenommen wird als damals, als ich jünger war. Vielleicht hätte ich das schon früher machen sollen. Aber wahrscheinlich fehlte mir der Mut."
Anhänger des "Kirchnerismus"
Bis vor kurzem galt das Wort "Indio" in Argentinien als Beleidigung. Heute bezeichnen sich 600.000 Argentinier als Indigenas oder als deren Nachkommen in der ersten Generation. Seit etwa zehn Jahren stoßen ihre Forderungen auf immer größeres Verständnis in den Medien. Industrielle Landwirtschaft und Bergbau zerstören ihre Heimat und treiben sie in die Städte. Cintia nimmt an Treffen indigener Völker im ganzen Land teil.
Cintia Arapa: "Wir müssen Kontakt untereinander halten, damit wir uns gegenseitig unterstützen können. Wir haben alle die gleichen Probleme: Land, Gesundheit, Erhaltung der Sprache. Das ist für uns auch sehr wichtig. Die junge Generation hat ein hartes Stück Arbeit vor sich. Wir als indigene Völker setzen uns dafür ein, dass die Kultur nicht verloren geht, wissen aber auch, dass Veränderungen, die ja das ganze westliche Denken betreffen, auf der politischen Ebene beginnen und wir uns da einmischen müssen. Wir wissen, dass das nicht einfach ist, aber wir meinen, dass ein Bewusstseinswandel stattfinden muss. Die Weltbevölkerung wächst, und es gibt immer weniger Lebensraum. Wenn wir nur auf Konsum aus sind und immer mehr wollen, fressen wir uns gegenseitig auf."
Die auffälligsten Protagonisten bei dieser Renaissance der politischen Beteiligung junger Menschen in Argentinien sind Anhänger des "Kirchnerismus", des Mittellinksflügels der von Juan Perón 1943 begründeten politischen Bewegung, die Argentinien seit zehn Jahren regiert. Einer von ihnen ist der 22-jährige Student Juan Irigoitia. Der Jugendliche mit dem Che-Guevara-Bart und den auffällig blauen Augen leitet das Kulturzentrum Empalme Graneros, einem der ärmsten und vom Drogenhandel geplagten Stadtteile Rosarios.
Es verfügt über eine Bibliothek mit Lehrbüchern und über Computer mit Internetzugang, an deren Wänden hängen Poster von Eva und Juan Perón sowie auch von Cristina und Néstor Kirchner. In der angrenzenden Turnhalle mit Zementboden und Blechdach treffen sich Nachhilfeklassen, Tanz-, Kung-Fu-, Musikworkshops und Selbsthilfekurse zu Themen wie Mauern und Elektroinstallation. Heute Abend sind die Wände mit Fähnchen und bunten Girlanden geschmückt. An langen Tischen sitzen Großeltern, Eltern und Geschwister der Kursteilnehmer. Mit einem Mikrofon in der Hand kündigt Juan in Flip-Flops, Bermudashorts und T-Shirt den Beginn der Veranstaltung an:
"Wir wollen heute hier im Kulturzentrum richtig feiern. Die Teilnehmer aller Workshops haben Beiträge vorbereitet. Es scheint den Leuten Spaß zu machen. Das ist das Wichtigste: sich treffen, sich näher kommen mit Musik, Kunst, einer gemeinsame Mahlzeit, etwas aufbauen, von dem wir nicht ganz genau wissen, was es ist, aber wissen, dass es sich gut anfühlt."
Anhänger des revolutionären Peronismus
In Argentinien gibt es kaum Berührungspunkte zwischen der Mittelschicht und ärmeren Bevölkerungsschichten. Viele Medien fordern ein hartes Durchgreifen gegen die Kriminalität und die Kürzung der Unterstützung für die Armen. Juan und seine Kollegen aber gehen ganz natürlich mit den Einwohnern des Viertels um, ohne sie bevormunden zu wollen.
Empalme Graneros besteht aus niedrigen Häusern, ein paar Metallwerkstätten und einigen Slums. Auf den Straßen sind viele Motorräder unterwegs. Man sieht kaum ältere Leute. Von den fast eine Million jungen Menschen zwischen 14 und 24 Jahren, die weder Arbeit noch Ausbildung haben, den "Weder-Noch"-Jugendlichen, wie es in Argentinien heißt, kommen 80 Prozent aus Vierteln wie diesem.
Juan ist mit Politik aufgewachsen. Seine Eltern waren Anhänger des revolutionären Peronismus, des Flügels des Peronismus, der die Bewegung in den 70er-Jahren Richtung Sozialismus lenken wollte. Viele von ihnen gehören zu den 30.000 Personen, die seit der Militärdiktatur als verschwunden gelten.
Juan Irigoitia: "Es kommt mir so vor, als ob unsere Generation der 20- bis 25-Jährigen große Angst vor Konflikten hat. Bei jedem Diskurs heute geht es darum, einen Konsens zu erzielen und Toleranz zu üben. Mehr Toleranz als jeder einzelne von uns sich selbst gegenüber aufbringt. Warum diese Angst vor Konflikten? Ich denke, wir sind alle unterschiedlich, und schon das sorgt für Spannungen. Das ist nichts Negatives. Ich glaube, Konflikt, Spannung, Widerspruch, das sind Elemente, aus denen Neues entsteht. Ich denke, als politische Aktivisten müssen wir den Konflikt wieder ins Zentrum rücken. Das heißt nicht, zu den Waffen greifen ... nein, nein. Du denkst so, ich denke anders und wir scheuen uns nicht, diese Spannung auszuhalten. Und dadurch werfen wir neue Fragen auf."
Demonstrationen gegen die neuen Lehrpläne
Für Paula Demarchi gehören heftige politische Debatten zum Alltag. Die 17-Jährige ist Präsidentin des Schülerrats des Colegio Nacional Roca in Buenos Aires und gehört einer Gruppierung an, die dem trotzkistisch ausgerichteten Partido Obrero nahe steht. Paula trägt grüne Basketballschuhe, Jeans, ein graues ärmelloses T-Shirt und bunte Armbänder an beiden Handgelenken.
Die Politik der beiden Kirchners kommt ihr halbherzig vor. Im Grunde seien sie Verbündete der liberal-konservativen Partei, die Buenos Aires regiert. Paula Demarchi hat im vergangenen Jahr die Schülerdemonstrationen gegen die Kürzung des Bildungsetats und gegen die neuen Lehrpläne mitorganisiert.
"In den letzten Tagen hat es viel geregnet und gestern merkte ich, dass es in unserem Klassenzimmer von der Decke tropfte. Ich habe nicht alle Klassenzimmer durchgeschaut. Aber in unserem regnet es rein, und das will ja schon was heißen."
In der großen Pause trifft sich Paula mit sechs Mitstreitern am Schuleingang. Dort sind drei schwarze 60 mal 30 Zentimeter große Fliesen eingelassen. Paula liest die 19 Namen vor, die darauf in weißen Buchstaben stehen. Hinter jedem ein Datum zwischen 1976 und 1979. Es handelt sich um Schüler, die zusammen mit Tausenden Gewerkschaftern, politischen Aktivisten, Intellektuellen und Pfarrern ermordet wurden, weil sie sich der Militärdiktatur widersetzten.
Paula Demarchi: "Die Fliesen erinnern an die Namen der während der Diktatur Verschwundenen, die hier zur Schule gegangen sind. Das war eine schöne Idee von einigen Lehrern. Ich persönlich glaube aber, der beste Weg, um die Kameraden zu ehren, ist, ihren Kampf fortzusetzen. Es gibt ja noch viele Dinge, die sie nicht erreicht haben."
"Dafür muss ich kämpfen"
Im September 1976 wurden zehn Schüler, die für ein Schülerticket für Bus und Bahn demonstrierten, von Militärs verschleppt. Sechs davon sind nie wieder aufgetaucht. Ihre Geschichte lieferte sogar die Vorlage für einen Kinofilm. Aber das Schülerticket gibt es in Buenos Aires auch heute noch nicht.
Paula Demarchi will Politikerin werden. Im vergangenen Jahr konnte sie zum ersten Mal wählen, denn seit 2013 in gilt Argentinien das Wahlrecht ab 16:
"Ehrlich gesagt, träume ich davon, dass die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen aufhört. Darum dreht sich alles, wofür ich kämpfe. Solange Arbeiter vierundzwanzig Stunden am Tag versklavt werden, brauche ich mir keine andere Frage zu stellen. Ich werde etwas dagegen tun, und dafür muss ich kämpfen."
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