Wirtschaft

Die Karriere der Kooperativen in Argentinien

Metallarbeiter in einer Kooperative in Avellaneda, Buenos Aires
Metallarbeiter in einer Kooperative in Avellaneda, Buenos Aires © dpa / picture alliance / Daniel Garcia
Von Francisco Olaso · 18.02.2014
Sie besetzen stillgelegte Fabriken und übernehmen das Ruder - dennoch sind sie keine Revolutionäre, sondern wollen Arbeitsplätze schaffen: Kooperativen zeigen in Argentinien Wege aus der Krise.
Die Rührmaschine bewegt eine milchfarbene Flüssigkeit in einem riesigen Topf. Klebriger süßlicher Duft steigt empor. Ricardo Zeballos kocht gerade Quittengelee. Der 50-Jährige in weißer Schürze und Gummistiefeln schaut in den Topf, dreht dann einen Knopf am Kontrollpult und reduziert die Geschwindigkeit ein wenig. Zeballos gehört zu einer achtköpfigen Kooperative, die die Marmeladenfabrik in San Pedro, einer Kleinstadt, rund einhundertfünfzig Kilometer nordwestlich von Buenos Aires, wieder aufgebaut haben. Die Cooperativa Alimentaria San Pedro ist eine von 230 empresas recuperadas in Argentinien, in Konkurs gegangene und von der Belegschaft in Eigenregie weitergeführte Unternehmen.
Ricardo Zeballos: "Hier werden die Quitten gekocht.Achthundert Kilo. Es muss fünfzehn Minuten kochen, richtig brodeln. Hier steht alles, was ich brauche: Zucker, Zusatzstoffe zum Färben, Säuremittel, das ganze Zeugs."
Ricardo Zeballos wirft eine Schaufel voll Pulver in die Flüssigkeit, die sich rötlich färbt und verdickt. Dann streicht er ein paar Tropfen auf das Prisma eines Refraktometers und hält das Gerät, mit dem er die Dichte des Gelees misst, wie ein Fernrohr vors Auge. An den Wänden stapeln sich mit Marmeladengläsern gefüllte Kartons, fertig zum Versand an die Supermärkte. Nach 23 Jahren Betriebszugehörigkeit ist Ricardo heute nicht nur Arbeiter, sondern auch einer der Chefs.
Ricardo Zeballos: "Ich war mein Leben lang Arbeiter und bleibe es auch. Aber meine neue Rolle hat auch mein Bewusstsein verändert. Und von den anderen, wir sind ja zu acht, sind noch nicht alle so weit. Ich bin derjenige, der dafür zu sorgen versucht, alle unter einen Hut zu bringen. Das ist nicht leicht."
Wiederaufbau nach Plünderungen und Verfall schwierig
In den 80er und 90er Jahren gehörte die Marmeladenfabrik in San Pedro verschiedenen Aktiengesellschaften und beschäftigte rund hundert Mitarbeiter, bis sie im Jahr 2000 während der Wirtschaftskrise Pleite ging. Das Gebäude verfiel. Drei Jahre später erfuhren ehemalige Arbeiter, dass andernorts in Konkurs gegangene Fabriken von der Belegschaft übernommen und weitergeführt wurden. Sie erkundigten sich nach dem Vorgehen, gründeten ebenfalls eine Kooperative und nahmen unter notarieller Aufsicht das noch vorhandene Inventar auf. Einen Tag vor dem offiziellen Versteigerungstermin stimmte das Abgeordnetenhaus der Provinz der Enteignung der Marmeladenfabrik zu. Dann begannen Ricardo und seine Kollegen damit, Subventionen für den Wiederaufbau einer Fabrik einzutreiben, deren Inneres geplündert und ausgeschlachtet war. Es gab weder Strom, noch Wasser oder Gas. Sogar das Dach war abgetragen.
Ricardo Zeballos: "Woanders brauchten die Arbeiter nur den Schlüssel umzudrehen, das Licht anzuknipsen und los ging es. Wir mussten ganz von vorn anfangen. Wahnsinn, was wir gemacht haben. Wenn man so drüber nachdenkt: Wahnsinn. Ein Kamikazeflug. Damit anzufangen, ohne Maschinen, ohne irgendwas. Wir haben viele Opfer gebracht. Die ganze Familie. Meine Frau arbeitete und hat für den Lebensunterhalt gesorgt."
Ricardo wohnt direkt neben der Fabrik. Seine Frau Sandra ist neun Jahre jünger als er. Der ältere der Söhne studiert in Buenos Aires, der jüngere wohnt noch bei den Eltern. Sandra, in Jeans, eng anliegender schwarzer Bluse und schwarzen Stiefeln, führt durch das Haus. Ein Zimmer ist als Friseursalon eingerichtet mit großem Spiegel und Trockenhaube. Nachmittags schneidet Sandra Frauen und Männer aus dem Viertel die Haare.
Sandra: "Lange Zeit ging das nur abends. Tagsüber habe ich bei Familien geputzt, oder war Zimmermädchen in Hotels. Mein Mann hat in der Zeit in der Fabrik gearbeitet, ohne etwas zu verdienen. Das hat uns als Paar auf eine harte Probe gestellt. Es gab oft Streit, weil das Geld nicht reichte. Ich brauche dies, die Kinder brauchen das. Und er hat immer wieder gesagt: Halt noch ein bisschen durch, es ist für die Zukunft, für die Jungs. Es wird alles gut. Einen Monat noch., Und dieser Monat hat fünf Jahre gedauert."
Staatliche Zuschüsse für Großteil der neuen Genossenschaften
Zwischen 1990 und 2002 befolgte Argentinien buchstabengetreu die von Weltbank und Internationalem Währungsfond verordneten neoliberalen Rezepte. Das Resultat war ein offener Verdrängungswettbewerb. 82.300 mittlere und kleinere Unternehmen gingen in dieser Zeit in Konkurs. Die Statistiken für Armut, Arbeitslosigkeit und informelle Arbeit erreichten einen historischen Höchststand. Arbeiter einiger in Konkurs gegangener Fabriken versuchten sie wieder in Betrieb zu nehmen.
Im Dezember 2001 sperrte die Regierung den Bürgern den freien Zugang zu ihren Bankkonten. Er kam zu Protesten. Geschäfte und Supermärkte wurden geplündert. Präsident Fernando de la Rúa musste zurücktreten. Die im Mai 2003 gewählte neue Regierung unter Präsident Néstor Kirchner sah das Phänomen, dass sich die Arbeiter Unternehmen wieder aneigneten, mit Wohlwollen. Keines dieser Unternehmen hätte einen Bankkredit bekommen, solange sich die Eigentumsfrage in einem rechtlichen Schwebezustand befand. Weder der argentinische Staat noch die Genossenschaften konnten es sich leisten, frühere Eigentümer zu entschädigen.
85 Prozent der neuen Genossenschaften erhalten jedoch staatliche Zuschüsse. Die Regierung unterstützt sie ihres symbolischen Werts und weniger ihres volkswirtschaftlichen Nutzens wegen, denn sie beschäftigen nur 12.000 von 18 Millionen Erwerbstätigen. Die 230 neuen Genossenschaften sind ein kleiner Teil der 20.000 Kooperativen in Argentinien, die zu den landesweit 700.000 kleineren und mittleren Unternehmen gehören.
"Kapitalistenfreie" Fabriken
Der 40 Jährige Anthropologe Andrés Ruggeri von der Universität von Buenos Aires hat das Phänomen von Anfang an wissenschaftlich begleitet. Sein Büro, ein kleines Zimmer in einer dieser neuen Kooperativen, einer Druckerei in Buenos Aires, ist bis zur Decke mit Büchern und Aktenordnern voll gestopft. Ruggeri sieht in der Justiz den Hauptgegner der empresas recuperadas, der "Fabriken ohne Kapitalisten", wie er sie nennt.
Andrés Ruggeri: "Im Allgemeinen neigen die Richter dazu, Arbeitgeber zu begünstigen, schon aus Klassenverbundenheit. Die Verteidigung des Privateigentums als wichtige Säule des Rechtsystems und Grundlage des kapitalistischen Wirtschaftssystems darf man nicht einfach so verletzen. Aus diesem Grund verbleiben die empresas recuperadas juristisch in einem prekären Zustand." Dabei seien die Aktionen der Arbeiter nicht von revolutionärem Elan geprägt, meintRuggeri, sondern mehr von der Sorge um Arbeitsplätze.
Das Hotel "Bauen" in Buenos Aires ist eine der bekanntesten empresas recuperadas in Argentinien. Vor zwölf Jahren übernahmen ehemalige Mitarbeiter das zur Fußballweltmeisterschaft 1978 in wenigen Monaten hochgezogene, dann aber heruntergekommene und in Konkurs geratene Hotel. Anders als die meisten neuen Kooperativen konnte die Belegschaft des Hotels "Bauen" keinen Beschluss des Gesetzgebers erwirken, das öffentliches Interesse an der Enteignung bestehe und die Nutzung durch die ehemalige Belegschaft legitim sei. Doch sie hatten Glück im Unglück: Zwar hält die Regierung der Stadt Buenos Aires im Gegensatz zur Staatsregierung von Präsidentin Cristina Kirchner nichts von den neuen Genossenschaften, fürchtet aber, sich durch einen sicher erforderlichen enormen Polizeieinsatz unbeliebt zu machen.
"Wir hatten kein Essen für die Gäste"
In der Lobby herrscht Hochbetrieb. Es sind Teilnehmer einer vom Bildungsministerium organisierten Konferenz, sagt Maria Delvalle und nickt den Gästen zu. Sie ist Mitglied der Hotelkooperative. Anfang 50, schwarze Hose, weiße Bluse, die rot-blonden Haare hochgesteckt. Als das Hotel eröffnet wurde, war sie Zimmermädchen. Heute ist sie zuständig für Öffentlichkeitsarbeit und den Kontakt zu den Ministerien der argentinischen Regierung, die Gäste schicken und Kongresse veranstalten. Bei Bedarf arbeitetMaria Delvalle auch an der Bar oder in der Küche. Die Anfangsjahre des Hotels waren hart, erinnert sie sich.
María Delvalle: "Wir kannten keinen Feierabend, wir hatten kein Essen für die Gäste, wir hatten nichts. Wir mussten alle an einem Strang ziehen: Jeder musste fegen, wischen, Zwiebeln schälen, kochen, und dann auch noch rausgehen und sich mit der Polizisten auseinander setzen. Und dann hast du auch noch Familie. Wir haben einigen Räumungsversuchen widerstanden. Viele von uns haben richtig was abgekommen dabei. Ich auch. Man fühlt sich ohnmächtig: Die Polizei schlägt dich, weil du arbeiten willst. Und manchmal ist das ein Beamter, der dein Sohn sein könnte."
Unsicher ist auch die Situation des Kulturzentrums La Toma im früheren Supermarkt El Tigrein Rosario, dreihundert Kilometer entfernt von Buenos Aires. Zweimal hat die neue Kooperative die Abgeordneten dazu bewegen können, Beschlüsse zur Enteignung des Supermarkts zu verabschieden, aber beide Male wurden sie vom Gerichtshof der Stadt Rosario für verfassungswidrig erklärt. Das heißt, für die Behörden sind die 28 Mitarbeiter des Kulturzentrums seit März 2010 Besetzer.

Argentiniens Präsidentin Christina Kirchner
Argentiniens Präsidentin Christina Kirchner will sich nicht durch Räumungseinsätze der Polizei unbeliebt machen© dpa / picture alliance / Raul Ferrari
Dem Kulturzentrum droht die Räumung, aber der politische Preis für einen Polizeieinsatz wäre auch hier sehr hoch. Einer der "Besetzer" ist Alberto. Seinen Nachnamen möchte er nicht nennen. Er sitzt hinter einem Schreibtisch voller Papiere in seinem Büro, einem winzigen fensterlosen Raum und schaut über die Ränder seiner Lesebrille. Er trägt wie alle Mitglieder der Kooperative ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck "La Toma - der Kampf geht weiter." Bis zum Konkurs des Supermarkts im Jahr 2001 war es seine Aufgabe, die Regale entlang zu gehen und fehlende Waren zu ersetzen.
Alberto: " Ich bin nur ein Rädchen im Getriebe der Kooperative. Ich mache gerade die Verwaltungsarbeit, aber das ist nicht festgelegt. Ich sitze auch an der Kasse, bediene an der Bar und putze. Hier machen alle alles. Wir wechseln uns ab und lernen dabei.
Ich hatte vorher nie Verwaltungsarbeit gemacht. Keiner von uns war vorher in der Unternehmensleitung, als das hier noch ein Supermarkt war. Die meisten von uns haben Waren eingeräumt, an der Kasse gesessen oder in den Feinkost- und Fastfoodabteilungen gearbeitet. Aber den ganzen Verwaltungskram mussten wir mühsam erlernen. Keiner von uns wusste, wie man mit Lieferanten umgeht.
"
In der Mitte der ehemaligen Supermarkthalle stehen Tische und Stühle. An den Wänden sind zahlreiche kleine Geschäfte und Büros aneinandergereiht, abgetrennt durch Holzwände, die Frontseiten sind Hausgiebeln nachempfunden. Es sieht aus wie eine Stadt en miniature. Rund achtzig Mieter nutzen die Räume des Kulturzentrums: darunter Handwerkskooperativen, Modedesigner, Bäcker und Schauspieler.
Alberto: "Es sind alle Menschenrechtsorganisationen der Stadt bei uns vertreten. Hier tagt auch die Gruppe, die das Strafverfahren wegen Verbrecher unter der Diktatur betreibt. Sie treffen sich einmal die Woche. Das ist eine Ehre für uns, denn für uns Arbeiter bedeutet der Kampf gegen die Diktatur sehr viel."
Belegschaftsbeteiligung hat Vorrang bei Insolvenzverfahren
Einen Erfolg ihres Kampfes können die neuen Kooperativen bereits verbuchen. Vor zwei Jahre hat die Regierung von Präsidentin Cristina Kirchner das Konkursrecht geändert. Es räumt jetzt der Beteiligung der Belegschaft an der Wiederbeschaffung von Arbeitsplatz und Produktionsmitteln bei einem Insolvenzverfahren Vorrang ein. Bis dahin war es übliche Praxis, dass Geschäftsführer ein Werk in den Konkurs trieben, um die alte Belegschaft ohne Entschädigung zu entlassen und das Unternehmen anschließend schuldenfrei als neue Aktiengesellschaft wiedereröffnen zu können.
Für Julio Gambina, Professor für Politische Ökonomie an der Universität Rosario, ist das Phänomen der neuen Kooperativen, der empresas recuperadas, eng mit der historischen Erfahrung der Wirtschaftskrise verbunden, er hat viel zum Thema publiziert. Damals, erinnert er sich, fanden es viele Argentinier richtig, dass die Arbeiter die Fabriken übernahmen.
Julio Gambina: "Aber sobald sich die Situation des Kapitalismus wieder festigte, kehrte alles wieder in gewohnte Bahnen zurück. Und die Rückkehr zur Normalität bedeutete, dass das Private und Individuelle sozial anerkannt wird und nicht das Soziale, Kollektive oder Autonome. Ich behaupte, dass das gesellschaftliche Klima im Jahre 2001 nicht mehr mit dem heutigen vergleichbar ist. Der Kapitalismus fördert keine autonomen Arbeiterkooperativen, der Kapitalismus fördert die Verwertung des individuellen Kapitals und tendiert zur Globalisierung der Wirtschaft. Ein großes Verdienst der empresas recuperadas ist, dass sie trotzdem durchgehalten haben, dass das Modell nach zwölf Jahren immer noch eine Option geblieben ist."
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