Eine eigene Form

08.11.2011
Der 35-jährige Tino Sehgal inszeniert Aktionskunst und ist schon ein Weltstar: Die Arbeiten des Berliners waren auf der Venedig Biennale, auf der Frieze Art in London oder auf der Manifesta in Frankfurt. Eine Arbeit befindet sich aktuell auf dem Weg nach Indien, zu den Wurzeln seiner Familie.
Das Museum ist leer, alle Kunstwerke sind abgehängt. Mitten im Raum steht eine Gruppe von Menschen, die langsame Tanzbewegungen vollführen und dabei diskutieren. Kommt man näher, wird man mit den Worten begrüßt: "Welcome to this Situation". Ein Mitglied der Gruppe wirft ein Zitat aus der Philosophie oder Wirtschaft in die Runde, von Jean-Jacques Rousseau oder Karl Marx. Die Debatte entzündet sich erneut, der Besucher diskutiert nun mit.

So oder ähnlich funktioniert Tino Sehgals Arbeit "This Situation". Aufzeichnungen gibt es nicht. Der Künstler erlaubt keine Mitschnitte, keine Fotos, keine Filmaufnahmen:

"Der Kern meiner Arbeit ist dieses Situative, dass man wirklich selber auch daran partizipiert."

Tino Sehgal ist 35 Jahre jung und schon ein Weltstar. Seine Arbeiten waren auf der Venedig Biennale zu sehen, auf der Frieze Art in London, auf der Manifesta in Frankfurt. Die Biennale in Moskau lud ihn ein, das New Yorker Guggenheim hängte für ihn alle Kunstwerke ab. Jetzt sitzt er hier mit verwuscheltem Haar und denkt über jede Frage erst einmal nach. Wenn er spricht, scheinen sich seine dunklen Augen am Gesprächspartner festzusaugen. "Flüchtigkeitskünstler" wurde er genannt, weil seine Kunst im Gegensatz zu der von Bildhauern oder Malern vergänglich ist. Diese Bezeichnung mag er nicht:

"Ich arbeite ja mit einem Archiv zusammen, nämlich dem Museum. Der Sinn eines Museums ist nicht die Vergänglichkeit, sondern das Überdauern. Bei mir wird das Überdauern mit einer Wiederholung erreicht. Die Arbeiten können immer wieder aufgeführt werden. Bei jeder Aufführung sind sie natürlich anders."

Seine Kunst sei nicht "flüchtig", sondern vielmehr "immateriell":

"Wir wollen eigentlich von den materiellen Dingen was Immaterielles. Wir wollen uns selber damit auszeichnen, damit kommunizieren. Das sind alles immaterielle Sachen. Da könnten wir direkt kommunizieren. Da müssen wir nicht den Umweg über das Objekt gehen."

Das Goethe-Institut stellt nun seine Arbeit dem Publikum in Osteuropa und Asien vor. Bis Mitte Dezember ist "This Situation" auf Tour über Belgrad, Ankara, Teheran nach Neu Delhi. Tino Sehgal wird nicht dabei sein; er hat für sich entschieden, keine Flugzeuge zu benutzen, um die Umwelt zu schonen. Zu seiner Schau in New York gelangte er mit dem Schiff. Statt seiner sind vier Mitarbeiter auf Reisen. Sie bilden die Interpreten vor Ort aus und achten auf die Umsetzung. Tino Sehgal muss damit leben, die Kontrolle über seine Kunst abzugeben:

"Es kann in der Tat sein, dass in meiner Arbeit etwas gesagt wird, das ich politisch oder moralisch schwierig finde. Das interessiert mich aber wiederum künstlerisch."

Er ist gespannt, wie die indischen Verwandten in Neu-Delhi seine Arbeit aufnehmen werden:

"Ob die jetzt was mit dem anfangen können, was ich mache, das werden wir jetzt sehen. Ich habe schon mit meinen Eltern gesprochen, wer denn dahin geschickt wird, wenn meine Arbeit in Neu-Delhi gezeigt wird, sie haben gesagt: Ja, für den ist es was, für den ..."

Tino Sehgal wurde in London geboren, als Sohn eines Inders und einer Deutschen. 1994 kam er nach Berlin, wo er mit seiner Lebensgefährtin und zwei Kindern bis heute lebt. Er studierte Wirtschaft an der Freien Universität, es folgte eine Tanz-Ausbildung an der Folkwang-Schule in Essen. Diese beiden Bereiche verschmelzen in seiner Arbeit. Tino Sehgal wusste früh, dass er Künstler werden wollte. Der Weg dorthin eröffnete sich bei einem Besuch im Berliner Museum für Gegenwartskunst:

"Ich war im Hamburger Bahnhof, da muss ich so 18, 19 gewesen sein. Ich dachte bei mir: Hier könntest du nie was machen, weil ich war, ja gegen Objekte. Und dann habe ich diese Wärter gesehen ..."

In einer frühen Arbeit hüpfen Museumswärter um die Besucher herum und singen fröhlich: "Oh, this is so contemporary", "es ist so zeitgenössisch!" Diese Arbeit wurde im deutschen Pavillon auf der Venedig Biennale 2005 gezeigt und erzeugte nicht nur positives Echo. Aber sie war Tino Sehgals Durchbruch. Wer seine Kunst kaufen will, muss sich mit einer mündlichen Vereinbarung zufriedengeben. Es gibt weder Manuskript noch einen Vertrag. Besitzer eines "Tino Sehgal" müssen Schauspieler einstellen, welche die Arbeit aufführen:

"Im Idealfall sind es Leute vor Ort, die die Arbeit schon mal gemacht haben. Ich autorisiere die dann."

Solche Abmachungen zeigen Selbstbewusstsein. Und eine jungenhafte Unbeschwertheit. Im Sommer 2012 wird Tino Sehgal in der berühmten Londoner Tate Gallery ausstellen. Was haben wir zu erwarten?

"Das kann ich Ihnen nicht sagen, das ist streng geheim. Da würde ich gleich nen Anruf kriegen, sobald die das hören."

Tino Sehgal braucht keine Anreißer, er braucht keine Werbung. Er hat seine eigene Kunstform entwickelt, eine Idee, die alles andere ist als flüchtig.
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