Ein Meer von Bedeutung

17.05.2013
Diese wunderbare Sammlung von Kurzprosa, Erzählskizzen und Gedichten aus der Feder von Herman Melville wurde 1888 im Original veröffentlicht, als der Autor des "Moby Dick" schon fast vergessen war. Natürlich geht es auch in diesen Texten meistens um die Seefahrt.
Die See als Daseinsmetapher ist eine der Konstanten der Weltliteratur. Und vielleicht hat kein Buch diese Symbolik derart ausgelotet wie "Moby Dick", Hermann Melvilles Roman über die Jagd nach einem weißen Wal in den Weiten des Pazifiks.

Bevor man sich auf diesen Erzähl-Ozean hinauswagt, kann man kleinere Gewässer aufsuchen: die Seefahrerromane "Taipi" und "Omu", mit denen Melville berühmt wurde; die Schiffsnovelle "Billy Budd" mit dem unvergesslich tragischen Titelhelden, der moderne Gesetz- und Ehrbegriffe an seine Grenzen manövriert.

Oder diese wunderbare Sammlung von Kurzprosa, Erzählskizzen und Gedichten. "John Marr und andere Matrosen" wurde 1888 veröffentlicht, zu einer Zeit, da Melville schon fast vergessen war. Von 1866 an arbeitete er als Zollinspektor im New Yorker Hafen, sein "Moby Dick" hatte das Publikum nachhaltig verstört – das Gemisch aus Textformen von Essay über Theaterstück bis zu wissenschaftlicher Fallstudie – war seiner Zeit ästhetisch weit voraus. Er schrieb dennoch weiter, ignoriert vom literarischen Betrieb. "John Maar" erschien als private Publikation, Rezensionen gab es keine, Leser kaum mehr als eine Hundertschaft.

Heute erkennen wir auch in dieser kleinen Textsammlung die Modernität des Autors. Wie er im Titelstück das Fernweh eines im Wilden Westen gestrandeten Matrosen darstellt und dabei mit der Siedlungspolitik Amerikas abrechnet, der Ausrottung der Ureinwohner und ihrer Kultur. "Totenstille herrschte stundenlang und ungebrochen in dieser Prärie, sie ist das Bett eines ausgetrockneten Meeres", lässt er den Seemann sagen. So wird das lyrische Ich zum Sprachrohr der Zivilisationskritik und zugleich Zeuge einer ganz essentiellen Einsamkeitserfahrung.

Oder das Langgedicht "Bräutigam Dick": ein alter Seebär, Pfeife schmauchend auf der Veranda, die Ehefrau lauscht der Erzählung. Die Vergangenheit wird aufgefächert, mit Abenteuern und Schwänken, aber am Ende wird das Loblied auf die alten Kameraden ein Klagegesang über ein früheres Leben, eine traurige Reminiszenz an das Seefahrerleben als Höchstform des freien, nicht verwalteten Menschseins.

Wie alle große Literatur lassen sich auch diese Texte in vielfacher Hinsicht lesen, als realistische Sprachgemälde der maritimen Welt und als Chiffren für politische, kulturelle und psychologische Einsichten. "Der maledivische Hai" zum Beispiel: ein lyrisch-naturkundliches Porträt, aber auch eine glänzende Allegorie. "Sie sind Freunde und lotsen ihn freundlich zur Beute / Nehmen dennoch nie teil an dem Mahl", heißt es von den Lotsenfischen, die den Hai umschwirren. Sind das nicht, poetisch verschlüsselt, jene Opportunisten, die sich den Mächtigen andienen, dabei aber genügend Abstand halten, um sich gegebenenfalls schnell loszusagen und neue Allianzen zu schmieden?

Randvoll ist dieses schmale, vom Mare-Verlag exquisit gestaltete Bändchen mit Verschlüsselungskunst. Kein Meer wie "Moby Dick", aber ein glitzernder Nebenstrom, in den abzutauchen ein Leseglück ist.

Besprochen von Daniel Haas

Herman Melville: John Marr und andere Matrosen
Aus dem Englischen von Alexander Pechmann
Illustrationen von Pascal Cloetta
Mare Verlag, Hamburg 2013
184 Seiten, 24 Euro
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