Beweisaufnahme in prachtvoller Prosa

05.05.2009
Die Erzählung von "Moby Dick" brachte dem Schriftsteller Hermann Melville Weltruhm. Im Jahr 1885, sechs Jahre vor seinem Tod, begann der Autor mit der Arbeit an seinem Roman "Billy Budd, Matrose", der Zeit seines Lebens unveröffentlicht blieb. Jetzt ist das Buch in einer deutschen Neuübersetzung erschienen.
Nach 30 Jahren, in denen Hermann Melville als Zollinspektor im heimischen New York gearbeitet und Gedichte geschrieben hatte, wandte er sich 1885 wieder dem Genre zu, das ihm ewigen Ruhm eintragen sollte: dem Seefahrerroman. "Billy Budd, Matrose" sollte unvollendet bleiben. Obwohl der Autor das Manuskript im April 1891 mit der Notiz "End of the Book" versah, arbeitete er doch bis zu seinem Tod am 28. September 1891 weiter an dem Text. Die Witwe verstaute die 370 losen Seiten in einer blechernen Brotdose, die die Tochter auf dem Dachboden lagerte. 1919 wurden sie wieder entdeckt und 1924, Melville war seinerzeit ein vergessener Autor, in London erstmals veröffentlicht. "Billy Budd" begründete mit "Moby Dick" den bis heute anhaltenden Ruhm Melvilles.

Es ist die Geschichte eines Seemanns in der Zeit der napoleonischen Kriege, der 1797, im Jahr der großen Meutereien in der Royal Navy, zum Dienst auf dem Linienschiff HMS Bellipotent gepresst wird. Billy steigt dank seines Äußeren, seiner Friedfertigkeit und Charakterstärke bald zum "schönen Matrosen" auf. Er ist beliebt und wird bewundert. Aus Neid bezichtigt ihn Claggart, der Waffenmeister, beim Kapitän der Meuterei. Bei der Gegenüberstellung verliert Budd, dessen einzige Schwäche das Stottern ist, die Nerven und tötet den Denunzianten mit einem Fausthieb. Nun muss das Kriegsrecht angewandt, die Disziplin aufrechterhalten werden, vor allem nach den vorangegangenen Meutereien. Das vom Kapitän einberufene Standgericht befindet Budd der Meuterei für unschuldig, doch der Tod eines Vorgesetzten muss gesühnt werden – durch den Tod.

"Billy Budd" ist mit seinen Fragen nach der Ordnung der Welt und der Gesellschaft, nach der Begründung von Autorität und Wahrheit, der Freiheits- und Schuldfähigkeit des Menschen vielleicht Melvilles größter Roman. Denn der Autor, der hier anders als in "Moby Dick" als namenloser Erzähler in der dritten Person berichtet, tritt niemals als allwissender Chronist auf. Er gibt Denkanstöße, fragt nach Motiven, nennt Argumente und ironische Gegenargumente – kurzum, das ganze Buch liest sich wie eine in prachtvoller Prosa geschriebene Beweisaufnahme. Und beim letzten Gespräch zwischen Billy Budd und dem Schiffskapitän muss der Leser vor der Kabinentür bleiben.

Nicht minder fantastisch als das Werk ist die Neuübersetzung von Michael Walter und Daniel Göske, die anhand der 1962 erschienenen historisch-kritischen Ausgabe von Harrison Hayford und Merton Sealts erfolgte und nur wenig mit Richard Moerings Übertragung aus dem Jahr 1938 gemeinsam hat. Was nicht nur daran liegt, dass endlich die nautischen Begriffe stimmen.

Melvilles Prosa wird auch schlüssiger, plastischer und eleganter. Vor allem aber ist der Text vollständig, der deutsche Verlag übte damals Selbstzensur. Da konnte zum Beispiel die von Melville listig aufgeworfene Frage nach dem inneren Zwiespalt eines Marinepfarrers, der einerseits dem Friedensfürsten, andererseits aber dem Kriegsgott dient, nicht gedruckt werden.

Neben der großen Geschichte von Billy Budd enthält dieses wunderbare Buch noch sechs ebenfalls neu übersetzte Erzählungen, darunter "Bartleby, der Notariatsschreiber", die ursprünglich in Literaturmagazinen und 1856 im Sammelband "Geschichten von der Galerie" veröffentlicht wurden.

Rezensiert von Georg Schmidt

Herman Melville: Billy Budd. Die großen Erzählungen
Neu übersetzt von Michael Walter und Daniel Göske
Carl Hanser Verlag, München 2009
570 Seiten, 34,90 Euro