Ein Aurovillianer in Berlin

"Das ganze Leben ist Yoga"

Der gold glänzende sakrale Zentralbau im südindischen Auroville
Das Matrimandir ist das zentrale Sakralgebäude und das Wahrzeichen von Auroville. © Gerhard Richter
Von Gerhard Richter  · 22.07.2018
Peter Anderschitz zog es vor fast 50 Jahren in das indische Utopie-Dorf Auroville. Heute lebt er überwiegend in Berlin. Gerhard Richter hat den Alt-68er durch die Stadt begleitet – auf der Suche nach den Utopien von gestern und morgen, hier und in Indien.
Peter Anderschitz ist groß und schlank, fast mager. Seine grauen Haare trägt er halblang, mit einer frechen Kante über den Ohren. Seine Augen leuchten milde, neugierig und ein bisschen weise. Er trägt ein leichtes Hemd und einen sehr kleinen Stadtrucksack. Wie jemand, der mit leichtem Gepäck durchs Leben geht. Durch die großen Fenster des Cafés des Biosupermarktes, in dem wir uns treffen, sieht man den Berliner Stadtverkehr. Vor mehr als 50 Jahren ist Peter Anderschitz hier Taxi gefahren, um sich sein Architekturstudium zu finanzieren.
Als Anderschitz mit dem Studium fast fertig ist, brodelt es in den Hörsälen. Die Studentenunruhen beginnen. Und nur ein paar Kilometer von hier, an der Deutschen Oper, wird am Abend des 2. Juni 1967 bei einer Demo gegen den persischen Schah der Student Benno Ohnesorg erschossen.
"Ich bin ja gerade Taxi gefahren, als ich das hörte über Funk. Und ich hab gesagt, jetzt geht es zu weit - und ich war auch sehr sehr dicht an Gewalt. Ganz dicht, und Freunde mussten mich richtig zurückhalten. Und ich bin überhaupt nicht so ein Typ. Ich mag nicht erste Reihe, ich mag mich nicht prügeln. Ich hab schon sehr früh in meinem Leben gesagt, diese Gewalt ist hässlich, aber da war ich dichte dran. Ich war soweit, mich mit dem Taxi, was mir nicht gehörte, mich vor den Wasserwerfer zu stellen und stehen zu bleiben."
Für Peter Anderschitz ein einschneidendes Erlebnis. Dass er sich zu Gewalt hinreißen lässt, macht ihn nachdenklich. 1968/69 beendet er sein Architekturstudium, sucht sich aber keine feste Stelle.

Gesellschaftsstudien im Taxi

"Ich will nicht als Naivling meine Architektur da spielen, in einer Gesellschaft die hinten und vorne nicht stimmt. Das war mal so radikal gesehen und gefühlt. Und dann hab ich nach dem Studium – meinen Beruf liebte ich und liebe ihn immer noch – bin ich Taxi gefahren, was ich auch liebe, weil mit Taxi fahren habe ich erst mal Gesellschaft im Ganzen kennengelernt."
Peter Anderschitz im Prinzessinnengarten
Peter Anderschitz im Prinzessinnengarten © Gerhard Richter
Ich schlendere mit Anderschitz durch den Biosupermarkt. Der Markt ist Teil einer Kette und die kauft, wenn es geht, direkt beim regionalen Erzeuger ein, spart sich also den Zwischenhandel. Anderschitz unterstützt diesen ökologischen Ansatz, indem er Mitglied geworden ist und jeden Monat einen festen Betrag bezahlt. Dafür bekommt er einen Rabatt auf alle Einkäufe.
Das erinnert ihn an eine der Utopien in Indien, nämlich die, möglichst ohne Geld zu leben. Das ist noch nicht wirklich geglückt, aber einen interessanten Versuch gibt es tatsächlich mit der Pour Touts Kooperative, Pour Touts heißt: für Alle, und die Kooperative betreibt einen Laden, in dem es alles Notwendige zum Leben gibt. Aber Preise zu den Artikeln findet man nur ganz selten.
Anfang 1969 bekommt Peter Anderschitz sein Diplom als Architekt, er könnte jetzt gutes Geld verdienen, Karriere machen, fährt aber immer noch lieber Taxi. Er ist ein Mensch, der Freiräume liebt, der sich ungern festlegt, wenn es nicht hundertprozent stimmig ist, wie man heute sagt. Er lebt in Kommunen, was in Berlin damals die angesagte Wohnform ist. Ebenso angesagt ist die linke sozialistische Welterklärung. Und dann fällt ihm ein Buch in die Hände. Über den indischen Freiheitskämpfer und Visionär Sri Aurobindo und dessen Erklärung der Welt.
"Da war endlich ein Weltbild und ein Verstehen von dem Ganzen, von Mikro-Makro, Innen-Außen, Vergangenheit Zukunft. Das war irgendwie so eine Kreation, die mich da so getroffen hat, und ich hab bis heute - nix Besseres will ich nicht sagen – aber Komplexeres gefunden als das. Das war einfach: Hier bin ich richtig."

Inspiration durch Sri Aurobindo

Sri Aurobindo hat auch noch die Idee des integralen Yoga entwickelt. Das heißt, dass man nicht Dienstag Abend anderthalb Stunden zum Yoga geht und den Rest der Woche irgendwie den Alltag bewältigt, sondern dass man sich permanent fragt, was tue ich da gerade und ist das richtig?
"Das ist ja eine der Grundaussagen dieses Yogas, tu das Beste, was du kannst und frage nicht, was du davon hast."
Diese Philosophie vom integralen Yoga, also einer inneren Arbeit, macht einen tiefen Eindruck auf den damals 25-jährigen Sinnsucher. Ihm wird klar: Will er die große Veränderung der Gesellschaft, muss er sich selbst verändern, weiterentwickeln. Aber das konnte er nicht in Berlin. Zu viele Ideologien, zu viele Mauern, auch in den Köpfen.
In der Gemeinde Auroville im Südosten Indiens suchen Menschen aus aller Welt nach neuen Wegen, wie wir den Problemen der Zukunft begegnen können. 
In der Gemeinde Auroville im Südosten Indiens suchen Menschen aus aller Welt nach neuen Wegen, wie wir den Problemen der Zukunft begegnen können. © picture alliance / Marcel Klovert
"Dann kam diese Öffnung mit der Idee, die hinter Auroville steht, einer Evolutionsvision, was wir Menschen eigentlich darstellen in der Evolutionskette dieses Planeten. Das klingt sehr, sehr abstrakt, aber es ist völlig konkret für mich. Was ich schon immer dachte, wir Menschen sind doch nicht das Amen in der Kirche hier, schon gar nicht wie wir sind."

Auroville: Ort des lebenslangen Lernens

1971 reist Peter Anderschitz zum ersten Mal nach Auroville und zwei Jahre später zieht er ganz dorthin. Der Ort wurde 1968 gegründet, damals waren das ein paar Hütten neben einem einzigen Banyan-Baum, ringsum eine erodierte Halbwüste. Aber dafür viel Platz für große Ideale: Der Ort soll niemandem gehören, sich selbst verwalten ohne Hierarchien und Autorität. Ein Ort lebenslangen Lernens und der Hingabe an das göttliche Bewusstsein.
Eine der spektakulärsten Leistungen der Aurovillianer war es, die Bodenerosion zu stoppen, rund zwei Millionen Bäume zu pflanzen, die Wüste in einen Garten zu verwandeln. Rote Sandwege führen jetzt durch blühende Wäldchen und da tauchen immer wieder Häuschen oder Farmen oder kleine Paläste auf. Es gibt eine große Vielfalt an teilweise sehr fantasievollen Baustilen. Peter Anderschitz hat zuerst in Hütten gelebt, und dann ein eigenes Haus gebaut. Weil er wenig Geld hatte, mit Naturmaterial und immer nur Stück für Stück.
"Und deswegen ist dieses Haus eigentlich ein Nichtentwurf, das ist gewachsen, was auch seinen Charme ausmacht. Ich war der erste, der diesen stabilisierten Stampflehm in Schalung hochgezogen hat. Das fand ich so faszinierend, das war sozusagen das Kernstück meines Hauses."
Peter Anderschitz und Gerhard Richter vor der Floating University
Peter Anderschitz und Gerhard Richter vor der Floating University© Gerhard Richter
Noch immer hat Peter Anderschitz ein Faible für experimentelle Bauten. Deshalb wählt er als nächste Station unseres Spaziergangs durch Berlin die Floating University. Das ist das Regenüberlaufbecken des Flughafens Tempelhof. Eine Betonfläche groß wie ein Fußballfeld, umrahmt von einem dichten Grüngürtel. Zur Zeit ist das Wasser leicht aufgestaut, wie eine riesige Pfütze und mittendrin scheint ein skurilles Gebilde zu schwimmen.
"Das schwimmt nicht, das ist aufgebockt. Ein Pfahlbau sozusagen, mit normalen Baugerüsten, und mit Holzarchitektur dazu, Holzrahmenwerke, Plastikplanen, Dachkonstruktion."

Ökologisch und kommunikativ

Peter Anderschitz ist begeistert. Ein kreatives Gebäude ganz nach seinem Geschmack. Ein langer Steg führt vom Ufer zur Wassermitte, zur Floating University. Es gibt eine Bar, Plattformen, Treppen, Podeste. Eine Freiluft-Uni auf Zeit. Benjamin Foerster-Baldenius vom Verein Raumlabor betreibt diese Sommerakademie im Auftrag der Universität der Künste. Stolz erklärt er eine Kaskade aus Holz-Becken, die sechsstufige Geschirrspülanlage. Ökologisch und kommunikativ:
"Und dann ist mir irgendwann aufgefallen, die Leute, die sich anstellen, um ihr Essen abzuholen in der Küche, wenn die anderen gekocht haben, die checken noch alle schnell ihre Mails auf dem Handy, und die, die rausgehen, um sich anzustellen, um ihr Geschirr abzuspülen, die können das nicht mehr machen, weil die ja dieses Geschirr in der Hand haben. Und weil das so ewig dauert, entstehen da Gespräche, wo kommst du denn her, was machst du denn, die würden sonst überhaupt nicht stattfinden."
Peter Anderschitz hat sichtlich Freude an dieser Geschirr-Spül-Installation. Der 68er versteht sich gut mit Foerster-Baldenius, der fast 30 Jahre jünger ist als er und wie Anderschitz auch auf der Suche nach Freiräumen, um sie unkonventionell zu nutzen. Die 68er, sagt Foerster-Baldenius, hätten einige Auseinandersetzungsformate entwickelt, die heute aber nur bedingt erfolgreich sind.
Benjamin Foerster-Baldenius steht vor einer überdimensionalen Spülmaschine
Benjamin Foerster-Baldenius und die Spülkaskade© Gerhard Richter
"Ob wir selber so revolutionär sind, das weiß ich gar nicht. Ich glaube das ist im Moment kein Wert. Sondern es gibt ganz viele gemeinsame Herausforderungen, wo wir inzwischen auch dank der 68er wissen, dass wir mit rein radikalen Forderungen und Lösungsansätzen überhaupt nicht weiterkommen, weil wir da den Großteil der Gesellschaft nicht mitnehmen."
Peter Anderschitz besucht die Floating University aus einem bestimmten Grund. Er liebt das Temporäre, dass eben Strukturen nicht in Beton gegossen sind, sondern veränderbar bleiben. So wie diese Uni aus Baugerüst, Holzplanken und Folie. Ein äußeres Zeichen für innere Zustände. Mikro-Makro, Innen-Außen, oder wie Peter Anderschitz sagt:
"Denn alles ist verbunden, ja. Alles ist verbunden."

Veränderung braucht Freiräume

Das neue Bewusstsein, das Sri Aurobindo erkannt hat, das kann nicht wirken, wenn alles schon festgelegt ist. Evolution bedeutet ja Veränderung, und die braucht Freiräume. Wie zum Beispiel temporäres Bauen. Die Zukunft offen lassen, statt sich Immobilien zuzulegen, an denen man dann 40 Jahre abbezahlt. So wie Taxifahren statt eines festen Jobs, da kann man jeden Tag aufhören und was anderes machen.
In Auroville arbeiten die Bewohner beispielweise daran, ihren Begriff von Eigentum loszulassen. Peter Anderschitz zum Beispiel wohnt nicht mehr in seinem Haus, er hat es quasi aufgegeben, einem anderen überlassen.
"Und wenn ich sage, mein Haus, muss immer wieder betonen, wir nennen uns die Stewards, die Verwalter von etwas, etwa einen Stück Land einer Immobilie, aber natürlich entwickelt sich, wenn man das alles selber finanziert und macht, entwickelt sich schon so eine Art Besitzertum-Mentalität, nicht durchgängig, aber es passiert."
Dabei ist das Wohnen ein echtes Problem in Auroville. Genau wie in Berlin gibt es dort zu wenig Wohnungen. Deshalb wird auch dort eifrig gebaut. Zurzeit leben in Auroville 2800 Menschen aus über 50 Nationen. Es könnten noch mehr dort wohnen, aber es gibt immer noch zu wenig Wohnraum. Zurzeit wird nur aufgenommen, wer dort eine Wohnung finanzieren kann.
Peter Anderschitz lebt in Indien in einem der neugebauten Appartements, in Berlin bei Freunden in einer WG. In den langen Jahren in Auroville hat er als Planer gearbeitet, Stadtgründungen gestaltet und Wohngebiete entworfen. Dann hat er noch was geerbt. Aber als in Berlin die Mauer gefallen ist, da hat es ihn wieder zurückgezogen nach Berlin, da gab es ja auch jede Menge Veränderung und Freiraum. Ist jetzt viel weniger geworden. Aber Peter Anderschitz findet immer noch seine Oasen. In Clubs, kleinen Festivals. Zuletzt hat er bei einem Campingplatz in Berlin mitgeholfen, günstige Schlafplätze für junge Leute aus aller Welt zu organisieren - in einem stillgelegten Freibad.

76 Jahre alt und noch sehr aktiv

Trotz seines Alters von 76 Jahren ist er noch sehr aktiv. Am Ende unseres Spaziergangs sind wir in den Prinzessinnengarten in Kreuzberg gegangen. Ebenfalls ein Ort, an dem alles immer in Bewegung ist, mit Hochbeeten, Tomatenkübeln aus Recyclingmaterial und jungen Pflanzen. Dort sind wir auch ins Gespräch gekommen, mit dem Leiter Robert Shaw.
"Der Sinn des Prinzessinnengartens ist mitmachen, teilhaben und voneinander lernen. Das ist ein Lernen in Gemeinschaft zu Fragen, ich würde sagen, vor allem zu Fragen: wie. Wie können wir uns anders und nachhaltiger in der Stadt verhalten."
So eine Atmosphäre mag Peter Anderschitz. Er holt sich an der Bar eine Limo und ein Stück Rhabarberkuchen, setzt sich zwischen die vielen jungen Leute auf eine der Bierbänke, wirft seinen Sri-Aurobindo-Blick in alle Richtungen.

Das Manuskript zu der Reportage "Baustelle Bewusstsein - Alltag in der Utopie-Stadt Auroville" aus dem Jahr 2012 finden Sie hier.

"Ich find, hier gibt es keine ästhetischen Brachen mehr, wo du merkst, da ist Halbbewusstsein irgendwo, während hier ist überall Care, kann man ganz klar sehen. Und zum Besten. Das ist nicht Overdone, wie so viele künstlich hochgezogene Unternehmen, sondern ich würde fast sagen, da ist Herzblut dahinter, in allem. Was man bei normalen kommerziellen Projekten nicht fühlt und wenig sieht."
Vielleicht kann Peter Anderschitz nach den vielen Jahren mentaler Arbeit andere Dinge sehen und spüren als ich. Aber dass der Prinzessinnengarten ein Wohlfühlort ist, das merke ich auch. Zeit für eine letzte Frage. Ist er denn zufrieden mit seinem Leben in Auroville? Hat es sich gelohnt, sein Leben einer Vision zu schenken?
"Phänomenal, also was da geschaffen wurde, mit den paar Männchen. Phänomenal. Wir sagen immer das ganze Leben ist Yoga, das ganze Leben ist Selbsterfahrung, das ganze Leben ist Lernen, Und wir haben genug gelernt, um ohne Krieg und ohne diese zerstörerische Auseinandersetzung auszukommen, weil wir gelernt haben, diese Energien anders zu meistern und an ihren Platz zu setzen."
Und vielleicht ist er auch stolz darauf, worauf er alles verzichtet hat. Zum Beispiel einen Kredit aufzunehmen, sich dadurch zu binden, Vermögen anzusammeln, Gewohnheiten zu pflegen, seine Denke nicht zu hinterfragen, träge werden.

Wachsen durch Veränderung

Anderschitz hat immer wieder losgelassen. Quasi ein ewiger Taxifahrer auf der Suche nach Input und Bewegung. Und er hat gelernt, auch mal über sich selbst zu lachen, sich selbst nicht so ernst zu nehmen.
"Du bist nicht festgenagelt an den eigenen Traum, der sich formuliert hat, sondern du kannst es auch woanders weitermachen. Und wenn es wieder stimmt, kommst du wieder drauf zurück. Machst immer große Kreise und so wächst man. Das ist Hauptmotivation."
Noch ein letztes Stück Rhabarberkuchen, dann verabschieden wir uns. Peter Anderschitz, der Aurovillianer taucht wieder ein in sein Berlin mit seiner Geschichte. Den Studentenunruhen, den Ideologien vom Sozialismus und Kapitalismus, den steigenden Mieten, dem Massenkonsum und den Bioalternativen und all den unvermuteten Freiräumen.
"Und vielleicht das, was gerade so läuft in der Welt, in seiner Verrücktheit muss wahrscheinlich sein, dass wir endlich aufwachen und gucken, was ist hier eigentlich los? Ja. Und auf der anderen Seite Großartiges passiert, im Kulturellen, Künstlerischen, überall."
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