Leben in der utopischen Stadt

Gesellschaftslabor Auroville in Indien

In Auroville im Südosten Indiens suchen Menschen aus aller Welt nach neuen Wegen, wie sie den Problemen der Zukunft begegnen können.
In Auroville im Südosten Indiens suchen Menschen aus aller Welt nach neuen Wegen, wie sie den Problemen der Zukunft begegnen können. © picture alliance / Marcel Klovert
Von Sonja Ernst · 14.12.2016
Im Süden Indiens läuft seit 48 Jahren ein Experiment: In Auroville suchen Menschen nach neuen Wegen, wie sie den Problemen der Zukunft begegnen können. Rund 2.500 Menschen leben dort - aus 49 Nationen. Das Ziel: geistiges Wachstum und ein friedliches Miteinander. Nation, Geschlecht, Religion und Geld sollen keine Rolle spielen. Kann das funktionieren?
Der Speisesaal ist voll. An den Tischen sitzen vielleicht 70 Männer, Frauen und Kinder. Es wirkt wie ein riesiges Mehrgenerationen-Projekt und erinnert an Fotos aus dem Ikea-Katalog - alles multikulti. Die Fenster sind geöffnet; Blick ins Grüne. Es riecht nach Reis und Gewürzen. Gekocht wird mit Solar-Energie - und Sonne gibt es hier reichlich. Auroville liegt im Süden Indiens, nahe der Ostküste, im Bundesstaat Tamil Nadu.
Auroville ist ein universelles Experiment, erzählt Gilles Guigan. 2.500 Menschen leben hier: Ein Drittel der Aurovillaner sind Inder, dann folgen die Franzosen, die Deutschen, die Italiener; insgesamt leben hier 49 Nationen.
Gilles Guigan ist Franzose, in seinen Sechzigern. Er trägt Brille, rosafarbenes Hemd, helle Hose. Als er 1973 zum ersten Mal hier ankam, war hier nichts. Keine Bäume, keine Häuser - nur ein paar Hütten und viel trockene, rote Erde. Doch Gilles - Ingenieur und finanziell gut gestellt - kam immer wieder.
"Es ist ein Ort, an dem Menschen nach einem anderen Leben streben. Und sie wissen, dass sie dafür vor allem sich selbst ändern müssen. Was ist nicht gut in der Welt? Man kann sagen, das System. Aber die Menschheit hat so viele Systeme ausprobiert. Keines hat die Lösung gebracht. Wir müssen unser Bewusstsein ändern."
Und genau das will Auroville. Nation, Geschlecht, Religion, Geld sollen keine Rolle spielen. Der Ort will der Menschheit gehören. Man kann das belächeln und naiv finden - oder genauer hinschauen.
Auroville wurde offiziell 1968 gegründet. Heute gibt es hier ein futuristisches Rathaus, Schulen, kleine Firmen, Tourismus. Man ist nicht rückwärtsgewandt, hier herrscht agiles Treiben. Es gibt Arbeitsgruppen zu Finanzen, nachhaltiger Landwirtschaft oder auch für die Visionssuche. Die Menschen basteln an ihrer Stadt – basisdemokratisch:
"Es gibt hier keine Führer. Es ist eine kollektive Bewegung von Menschen, die die gleichen Ideale teilen - mit unterschiedlichen Abstufungen. Manche sind sehr idealistisch und andere denken, toll, das ist ein komfortabler Ort. Das ist ok! Wir lassen die Menschen hier machen."

In Auroville haben nicht alle den gleichen Elan - das ist okay

Und darum geht es. In Auroville kann man tun. Eine Solarküche bauen? Klar. Integrales Yoga unterrichten? Auch gut. Aber man selbst setzt seine Idee um, man sucht sich Unterstützer und Mitmacher. Auroville gibt Geld für Projekte. Für Schulen, aber auch für eine Keramikwerkstatt oder ein Cafe - bringen diese Geld, fließt ein Teil der Gewinne zurück.
Außerdem bekommen alle in Auroville denselben monatlichen Freibetrag - ein Mix aus Dienstleistungen, Grundnahrungsmitteln, etwas Bargeld. Dafür arbeitet man fünf Stunden täglich für Auroville. Doch dieser Freibetrag reicht kaum zum Leben. Deshalb haben viele noch einen oder mehr Jobs. Auroville bietet also reichlich Freiräume, aber ist kein Rundum-Sorglos-Paket.
Und das Engagement der Menschen? Auch in Auroville sind nicht alle gleich. Es gibt die Überzeugten, die sich leidenschaftlich ins Zeug legen - das ganze Jahr. Es gibt reiche Aussteiger, die den heißen Sommer lieber in Europa verbringen. Und es gibt jene, die mehr Interesse an ihrem eigenen als dem Wohl der Gemeinschaft haben.
Dieses Labor Auroville besuchen im Durchschnitt jeden Tag gut 2.000 Touristen. Also kaum weniger als die Stadt Einwohner hat. Sie sind neugierig, wie Auroville funktioniert. Wie es hier ausschaut. Viele wollen auch einfach nur entspannen und Yoga machen.

Kaum ein Ort in Indien ist so sauber wie Auroville

Direkt in der Nähe des Besucherzentrums können die Gäste shoppen. In den kleinen Läden gibt es Kleidung, Keramik, auch Seifen und Parfüm. Alles: "Made in Auroville". Hier gibt es auch Restaurants - und das "Cafe der Träumer". Selvam ist einer der Manager. In einem ausrangierten Übersee-Container steht sein Team und kümmert sich um die Gäste. Die sitzen auf einer kleinen Veranda davor und trinken Tee oder Kaffee.
Selvam ist 36 Jahre alt. Inder. Er lebt mit Frau und Kindern in Auroville. Er ist nicht der klassische Aussteiger aus dem Westen. Selvam ist in der Nähe groß geworden und hat eine der Schulen besucht, die Auroville für Kinder aus der Umgebung betreibt. Später entschied er sich, ein fester Teil von Auroville zu werden. Und seine Eltern? Für die war es nicht einfach, seine Entscheidung zu akzeptieren. Aber dann haben sie gesehen, dass ihn das voranbringt.
Aber für Selvam ist Auroville mehr als eine Chance auf ein besseres Leben. Gerne beantwortet er seinen Gästen alle Fragen rund um Auroville. Er glaubt an die Idee eines friedlichen Miteinanders. Und es gibt noch etwas: "Es gibt vor allem zwei Dinge, die ich hier zu schätzen weiß. Man hat viele Möglichkeiten, etwas zu lernen. Und die Sauberkeit. Das ist wirklich wichtig für die nächste Generation. Wir hinterlassen solch eine große Schweinerei."
Der Punkt Sauberkeit ist wirklich verblüffend. Kaum ein Ort in Indien ist so sauber wie Auroville. Keine vermüllten Straßen, keine brennenden Müllhaufen. Selvam kehrt zurück zu seinen Gästen. Die schlürfen weiter an ihren Getränken und reden über Auroville.

Ziel: eine Stadt in Form eines galaktischen Spiralnebels

Hinter dieser Utopie Auroville steht eine Frau, die französische Philosophin Mirra Alfassa. Bei der Gründung der Siedlung - 1968 - war sie schon 90 Jahre alt und starb wenige Jahre später. Alfassa war die spirituelle Gefährtin des indischen Philosophen und Yogis Sri Aurobindo. Diese beiden sind die Vordenker Aurovilles. Leistungsdruck und Materialismus lehnten sie ab; es ging ihnen um Einheit in der Vielfalt des Miteinanders und um geistiges Wachstum.
Mirra Alfassa hinterließ für Auroville eine Art Masterplan. Der besagt, dass Auroville in Form eines galaktischen Spiralnebels wachsen soll. Das geographische Zentrum bildet schon heute das Matrimandir. Dieser "Tempel der Mutter" ist eine riesige und leicht abgeflachte, goldene Kugel. Futuristisch und imposant. Der Tempel steht weder für einen bestimmten Gott, noch für eine bestimmte Religion, sondern für die Idee eines höheren, göttlichen Bewusstseins.
Um das Matrimandir herum soll sich Auroville entwickeln und für 50.000 Menschen ein Zuhause sein. Manche in Auroville wollen strikt an diesem Masterplan festhalten. Anderen geht es um Machbarkeiten und um eine Stadtentwicklung, die sich den aktuellen Herausforderungen stellt und anpasst.
Elvira und Fabian haben sich südlich vom Zentrum der Stadt ein Haus aus recyceltem Holz gebaut. Es liegt mitten in Pitchandikulam, einem zauberhaften, dichten Wald. Über Jahrzehnte haben die Aurovillaner mit viel Mühe nicht nur hier aufgeforstet.
Das Haus ist ein langes Rechteck, das sich in die Bäume hineinschmiegt. Hinein tritt man in einen großen und gemütlichen Wohn-und-Küchenbereich. Die Wände sind regelmäßig von schmalen, hohen Fenstern durchbrochen - ohne Glas, mit Holzlamellen. Man fühlt sich im Wald.

Zweite Generation geht eher Richtung Umweltschutz

Elvira und Fabian sind beide Anfang vierzig 40. Elvira hat schon mit ihren Eltern in Auroville gelebt. Nach dem Studium in Deutschland kam sie zurück. Später traf sie dann Fabian, der als Student zum ersten Mal nach Auroville kam. Seit 2003 leben die beiden mit ihren Kindern hier - permanent. Er ist Architekt, sie Mediatorin.
Beide kommen schnell auf den Punkt. Zwischendurch hatte sie ihre Krise mit Auroville. Doch sie wollen hier sein, diese Stadt mit- und weiterentwickeln.
"In Auroville sind wir in so einem Prozess. So eine Spaltung zwischen Fundamentalen und Realos. Und ich finde, die ganzen Jungen - oder viele von den Jungen, sind ganz stark auf dieser realistischen Seite anzutreffen."
Die "Jungen" in Auroville, das ist die zweite Generation. Leute wie Fabian und Elvira. Für viele von ihnen ist zum Beispiel das urbane Konzept einer Spiral-Galaxie ein schönes Bild. Doch es muss zur Topographie passen. Auch zur Infrastruktur, die bereits existiert. Hinzu kommt die Landfrage: Auroville müsste viel mehr Grundstücke hinzukaufen, um nach Masterplan zu wachsen. Doch die Preise sind in den vergangenen Jahren enorm gestiegen - auch weil Auroville erfolgreich funktioniert. Manche suchen heute weniger nach dem höheren göttlichen Bewusstsein. Sie wollen konkrete Lösungen für Umweltprobleme entwickeln, Vorbild sein. Sie denken in Richtung eines Umwelt-Dorfes.
Die Pioniere hat jedoch etwas anderes angetrieben. Elvira Klein: "Die Leute, die hier ankamen, 1968, die waren auf der Suche nach etwas völlig revolutionär Anderem. Und Spiritualität war ein Weg in dieses Neue. Ich denke, was wir jetzt als Fundamentalismus ansehen und was sich auch jetzt als spirituell Fundamentalistisch manifestiert, war einfach absolut notwendig, um das hier überhaupt aus dem Boden zu stampfen."
Doch manche Pioniere sehen ihren Traum nicht erfüllt. Wie sich Auroville weiterentwickelt, darüber wird also diskutiert und auch gestritten. Aber Auroville war immer ein dynamischer Ort – auch mit Konflikten. Denn es gibt eben nicht den einen Anführer, der die Zukunft diktiert. Zugleich versucht man, gemeinsam Lösungen zu finden. Und Elvira, die als Mediatorin die Prozesse nah erlebt, sieht Fortschritte.
"Was das Schöne ist, langsam habe ich das Gefühl, dass wir langsam zusammenfinden in Dialog. Dass langsam verstanden wird, dass es nicht Entweder-Oder bedeutet, sondern dass es einfach verschiedene Spielarten des gleichen Traums und der gleichen Vision ist. Und dass man Ko-existieren kann und muss mit diesen verschiedenen Arten, diese Stadt aufzubauen und dieses Utopia. Ich mag den Ausdruck eigentlich nicht. Aber dieses Gesellschaftsprojekt, das Auroville ist. Dieses Labor."
Ob in diesem Labor irgendwann wirklich 50.000 Menschen leben werden – in Form einer Spiral-Galaxie? Eher unwahrscheinlich. Aber das ist nicht entscheidend. Auroville existiert und experimentiert weiter. Die großen Themen, Zukunftsfähigkeit, Internationalität und Solidarität, werden hier getestet. Hinschauen lohnt sich.
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