Kirche auf dem Dorf

Wie können ländliche Gemeinden überleben?

17:36 Minuten
Eine Kirchturmspitze ragt über ein Getreidefeld.
Es sieht zwar idyllisch aus, doch auf dem Land steht die Kirche vor ganz speziellen Herausforderungen. © picture alliance / dpa / Soeren Stache
Benjamin Stahl im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 22.05.2022
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Die Kirche im Dorf lassen – das ist nicht mehr gemütlich. Ländliche Regionen rücken an den Rand, oft ist die Kirche die letzte Institution, die noch da ist. Das ist anstrengend und erfüllend zugleich, sagt Theologe und Dorfpfarrer Benjamin Stahl.
Kirsten Dietrich: Heute sprechen wir in „Religionen“ darüber, wie sehr eine Religion davon geprägt ist, wo sie stattfindet – auf dem Dorf oder in der Stadt zum Beispiel. Genau darüber rede ich mit jemandem, der Pfarrer ist und der intensiv darüber geforscht hat, wie es Pfarrpersonen auf dem Dorf geht und wie Religion auf dem Land funktioniert: mit Benjamin Stahl. Er ist Pfarrer in Großharthau, 30 Kilometer östlich von Dresden, und er hat promoviert in evangelischer Theologie über die Veränderungen im Pfarramt im ländlichen Ostdeutschland abseits der großen Städte.

Zerfall von Gemeinschaften

Herr Stahl, evangelische wie katholische Kirche verstehen sich ja nach wie vor als sogenannte Volkskirchen, also als Kirchen, die über die ganze Breite der Gesellschaft vertreten sind und ganz selbstverständlich dazugehören. Ist das für die Kirche auf dem Land eine hilfreiche Struktur?
Benjamin Stahl: Die Struktur ist tatsächlich noch vorhanden, sie dünnt aber so sehr aus, dass sie ins Dysfunktionale fällt. Von daher, nein, sie ist eigentlich nicht mehr hilfreich – als Organisationsstruktur.
Dietrich: Können Sie an einem Beispiel erklären, warum das nicht mehr funktioniert?
Stahl: Gemeinde lebt davon, dass man vor Ort zusammenkommt, dass man Gemeinschaft miteinander hat, dass man miteinander Wort und Sakrament teilt. Wenn ein Pfarrer oder eine Pfarrerin jetzt für vier, sieben, zwölf Dörfer zuständig ist, dann fällt da was auseinander. Das ist das eine.
Das andere ist, die Volkskirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts hat hohe Organisations- und Verwaltungsanforderungen. Es ist einfach nicht lustig, als Pfarrer für zwölf Friedhöfe, elf Pfarrhäuser – also, da sind wir noch nicht ganz, es kommt immer auf die Gegend an – zuständig zu sein.

Mehr Verwaltung, weniger Seelsorge

Und wenn ich eigentlich Gemeindearbeit und Seelsorge leisten möchte und mehr und mehr mit Verwaltung beladen bin und dafür weniger Personal da ist und es immer tendenziell bei den Pfarrern und Pfarrerinnen hängen bleibt, dann wird’s schwierig.
Porträt von Benjamin Stahl.
Mit dem Moped von Dorf zu Dorf: Der Pfarrer und Theologe Benjamin Stahl kennt Freude und Frust in ländlichen Gemeinden aus erster Hand.© Carla J. Witt
Dietrich: Ist das etwas, worin sich die Dorfgemeinden eindeutig von städtischen Gemeinden unterscheiden, diese ausgedünnte Struktur?
Stahl: Nicht ganz. Wir können schon sagen, auf dem Dorf gibt es mehr Kirchengebäude, mehr Orte, aber das führt interessanterweise nicht unbedingt zu mehr Erschöpfung oder mehr Krankheitsfällen und Ähnlichem.
Dietrich: Also jetzt unter den Pfarrern und Pfarrerinnen?
Stahl: Unter den Pfarrern und Pfarrerinnen, ja. Auf dem Dorf ist man mehr mit dem Pkw unterwegs, man verbringt mehr Zeit im Auto. Das Arbeitsprofil ist ein anderes, das Belastungsprofil bei den Pfarrern und Pfarrerinnen, das nimmt sich interessanterweise wenig.

Auslaufmodell Landpfarrei?

Dietrich: Über die Pfarrerinnen und Pfarrer reden wir gleich noch genauer. Ich würde gern noch bei der Struktur und bei der Debatte über die Strukturen bleiben, also wie die Kirche auf dem Dorf gedacht wird oder gedacht werden kann. In der evangelischen Kirche in Deutschland wird ganz intensiv darüber diskutiert: Was macht man, wenn die Mitgliederzahlen wie prognostiziert weiter so dramatisch schrumpfen?
Wenn man die entsprechenden Zukunftsvisionen liest, dann hat man das Gefühl, die Pfarrgemeinde auf dem Dorf ist eigentlich ein Auslaufmodell. Das läuft unter „verfestigtes Milieu“, unter „keine Ausstrahlung in kirchenferne Schichten“. Wird das der Realität gerecht?
Stahl: Oh, das ist eine spannende Frage. Ich verfolge die Diskussion natürlich auch intensiv, und ich muss manchmal schmunzeln. Denn das, was die EKD betreibt, hat meistens eine stark westdeutsch geprägte Sicht.
Kleines Beispiel: Eine geschätzte westdeutsche Kollegin – wir sitzen gemeinsam in den Gremien – überlegt, wie ihre kirchliche Wirklichkeit in ländlichen Räumen, wie die Ortsgemeinde in zehn, 15 Jahren aussieht, und sie fängt an, das zu beschreiben. Und bei mir im Kopf macht’s: Hoppla, die beschreibt meine Lebenswirklichkeit. Also das, was dort erwartet wird in Westdeutschland, das leben wir in Ostdeutschland schon.

Von der Ortsgemeinde zum "Multidorf-Pfarramt"

Ich kann dann beides sagen: Wir reden immer noch von Ortsgemeinden, wir sind immer noch ortsgemeindlich organisiert. Und gleichzeitig sehen wir auch, dass sie dysfunktional wird. Wir haben nicht mehr die Ortsgemeinde, wie sie im Idealbild im Narrativ drin ist.
Ich habe mal das interessante Wort – das muss so sperrig klingen – „Multidorf-Mehrfachrechtskonstrukt-Pfarramt“ dafür benutzt, weil die Gemeinden immer größer werden. Eine Pfarrerin muss immer für mehrere Dörfer und Gebiete zuständig sein, ist in verschiedenen Rechtskonstrukten tätig, aber wir reden immer noch von der Gemeinde. Und dann gehört Licht und Schatten eben zusammen.
Wenn man die Ehrenamtsstudien anguckt: Es sind so viele engagierte Menschen in den Kirchen, und diejenigen, die engagiert sind, die sind auch woanders engagiert – die sind in den Freiwilligen Feuerwehren, die sind in anderen Ortsgremien zuständig – und darum ist in diesem Punkt Kirche eigentlich gut in der Gesellschaft drin.

Große Erwartungen an die Kirche auf dem Land

Da reden wir ein bisschen zu schlecht von den Ortsgemeinden, gleichzeitig sehen wir aber auch, dass sie durchaus sehr traditionsorientiert und milieuverengt sind. Es ist leider immer beides, und man muss ziemlich genau hingucken.
Dietrich: Das heißt, die Menschen auf dem Dorf erwarten durchaus noch was von ihren Pfarrerinnen und Pfarrern?
Stahl: Ja, die Pfarrer und Pfarrerinnen sind sichtbar, das gilt auch für die Gemeindepädagoginnen und Gemeindepädagogen und andere Mitarbeitenden in der Kirche. Das sind Ansprechpartner, das sind ja immer halbe öffentliche Orte und Institutionen.
Auch auf dem Friedhof finden Gespräche statt, und über den Friedhof wird gesprochen, und man trifft die Leute, die auf dem Friedhof beschäftigt sind. Es wird erwartet, dass man hier gut begleitet wird. Es wird erwartet, dass die Friedhöfe ordentlich aussehen. Es wird erwartet, dass die kirchliche Kinder- und Jugendarbeit gut dasteht, und es wird gebraucht. Und man fährt auch Dörfer weiter, um diese Angebote wahrzunehmen und aufzusuchen.

Lokale Allianzen jenseits der "Volkskirche"

Dietrich: Wenn in den Kirchen über die Zukunft der Gemeinden auf dem Dorf nachgedacht wird, dann landet man meistens bei einer Maßnahme, nämlich der, zu kleine Gemeinden zusammenzulegen. Die Zielgröße in Ihrer Landeskirche in Sachsen ist 4000 Mitglieder pro Gemeinde, das muss man auf dem Dorf ja erst mal zusammenbringen. Gibt’s denn andere Vorstellungen dazu, wie ein sinnvolles Dorfpfarramt aussehen kann?
Stahl: Die gibt es, und hier muss ich wieder beides sagen, es gehört beides zusammen: Wir sind eigentlich im Rückbau der Volkskirche, und zum Rückbau der Volkskirche gehört es dazu, so große Gebilde zusammenzufassen. Gleichzeitig sind diese Gebilde furchtbar, sie sind wirklich nicht gut lebbar.
Wir sprechen in der Forschung eigentlich von der „Regiolokalen Kirchenentwicklung“. Da müssten wir viel genauer sagen, wie unterschiedliche Orte, unterschiedliche kirchliche Gemeinschaften, die Regionen als einen Verantwortungsraum für das Evangelium begreifen, sich gegenseitig befruchten, miteinander da sind, voneinander wissen, unterschiedliche Profile ausbilden.
Und wir als Kirche müssten eigentlich die unterschiedlichen Mitarbeitenden mit unterschiedlichen Qualifikationen stellen, sodass so eine Region insgesamt auf die Beine kommt.

Regionen in den Blick bekommen

Das ist dann was anderes als Ortsgemeinde, Sonntagsgottesdienst, überall das gleiche Angebot, sondern das müsste ein bisschen bunter, ein bisschen kleiner in manchen Teilen und in manchen Teilen auch ein bisschen leuchtturmmäßiger zugehen.
Dietrich: Also dass die Pfarrerinnen und Pfarrer gleichzeitig als so eine Art Landschaftspfleger angestellt sind?
Stahl: Landschaftspfleger ist ein schöner Begriff. Das wahre Moment an diesem Bild ist, dass wir schon weit über unsere Kirchenstrukturen hinausgucken müssen, dass wir die Region als gesamten Raum in den Blick nehmen – also: Wie bewegen sich die Menschen, wohin fahren die zur Schule, wohin zum Arzt, wo sind eigentlich die Menschen, wie sind die unterwegs, wie ist der Lebensrhythmus der Menschen unserer Region, was hält die Menschen zusammen?
Das in den Blick zu nehmen und nicht nur „mein“ Feld, das ist die neue Herausforderung, das ist die Aufgabe der Region, und ich glaube, dass da die Pfarrerinnen und Pfarrer mehr und mehr in die Pflicht genommen werden. Die Aufgabe ist natürlich Transformation von dem einen in das andere und der gleichzeitige Rückbau der Volkskirche, die nicht mehr ganz so hilfreich ist als Struktur.

Dorfpfarramt – reizvoll und frustrierend

Dietrich: Zentrale Figur in diesem Geschehen ist der Dorfpfarrer oder die Dorfpfarrerin. Benjamin Stahl, in wie viel Kirchen predigen Sie sonntags?
Stahl: Zu unserer Kirchgemeinde gehören vier Dorfkirchen, vier Kirchdörfer dazu. Pro Sonntag sind es zwei Gottesdienste für mich, das ist schön fair verteilt. Das ist aber noch nicht das Ende der Fahnenstange, denn wir sind jetzt in einer Region zusammengeschlossen mit zwölf Kirchdörfern. Irgendwann, 2040 werden zwei Pfarrer oder zwei Pfarrerinnen zwölf Kirchen bespielen müssen.
Dietrich: Ist das eher reizvoll oder eher eine Schreckensvorstellung?
Stahl: An dem Punkt möchte ich für das „und“ plädieren. Es ist reizvoll, und manchmal ist es eine Schreckensvorstellung, es gehört beides zusammen, es kommt drauf an, welches Narrativ ich bespiele. Wenn ich das kurz ausführen darf: Ich liebe es, mit meinem Moped – das ist im Ostdeutschen noch die Schwalbe – über die Felder und Wälder von Dienst zu Dienst zu fahren, das ist wunderbar.

Bodenständige Menschen, verlassene Dörfer

Es ist fantastisch, aus meinem Garten mit Kapuzinerkresse meine Nudeln zu vervollständigen, und es ist großartig für meine Familie, bezahlbar großen Wohnraum zu haben, und die Kinder sind im Pfarrgarten. Und ich bin mit Menschen unterwegs, die ich für ihre Barmherzigkeit, für ihren Fleiß, für ihre Bodenständigkeit bewundere. Wenn ich so übers Land rede, ist es richtig reizvoll, Landpfarrer zu sein.
Wenn ich darüber nachdenke, was wir als Hausaufgaben haben, wenn ich drüber nachdenke, wie Abwanderung passiert, wie manches Dorf infrastrukturell immer mehr aufgegeben wird, wie sich in den Köpfen so eine Art Rückzug breit macht, so eine Art Abgehängtsein, so ein Frust, und wenn ich mir da noch einige regionale Entwicklungen angucke, dann ist es auch ein Schreckensszenario.
Der Punkt ist, es kommt immer aufs Narrativ an, das ich erzähle. Und noch viel wichtiger ist, ich glaube, dass wir gute Wissenschaft brauchen, um das dann auch einmal zu sortieren und zu prüfen. Denn das Dorf in der Uckermark ist doch was ganz anderes als das Dorf kurz vor München. Und darum gibt’s dann auch nicht den ländlichen Raum und das Narrativ, das überall zieht.

Belastung hält sich in Stadt und Dorf die Waage

Dietrich: Sie haben sich ja genau mit dieser wissenschaftlichen Betrachtung des dörflichen Lebens beschäftigt, Sie waren an einer groß angelegten Untersuchung zur psychischen Gesundheit von Pfarrerinnen und Pfarrern beteiligt. Man könnte ja annehmen, dass ländliche Gebiete durch Faktoren wie Abwanderung, Überalterung, das Gefühl des Abgehängtseins eben Problemgebiete sind und deswegen auch die Pfarrer, Pfarrerinnen auf dem Dorf angestrengter sind und eher von Burn-out betroffen sind. Hat sich die Annahme bewahrheitet?
Stahl: Genauso, wie Sie das beschreiben, wird das in der Forschung "Peripherisierung" genannt, diese Abkopplung, die Abwanderung, und wir haben genau das vermutet: Das müsste doch bei den Pfarrerinnen und Pfarrer, die in diesen Gebieten unterwegs sind, spürbar sein.
Und wir waren arg überrascht, nachdem wir 1200 Fragebögen versandt haben und einen ordentlichen Rücklauf hatten, dass sich die Arbeitsbelastung von Stadt- und Landpfarrern nicht unterscheidet. Wir konnten keinen Unterschied in der Arbeitsbelastung feststellen.
Und jetzt kommt’s drauf an, ob man das Glas halb voll oder halb leer sieht – entweder geht’s den Pfarrern auf dem Land genauso gut oder eben genauso schlecht wie denen in der Stadt.

Berufsrisiko: psychische Erschöpfung

Dietrich: Die Zahlen insgesamt sind ja, finde ich, schon beunruhigend, denn Pfarrerinnen und Pfarrer sind offenbar erheblich mehr gefährdet als die Durchschnittsbevölkerung, einen Burn-out zu bekommen.
Stahl: Das kommt drauf an, wie spezifisch man schaut. Wenn man allgemeine Werte nimmt, dann sind Pfarrerinnen und Pfarrer mit Lehrerinnen und Lehrern gut vergleichbar, das ist ein ähnliches Belastungsprofil.
Wir konnten nun in unserer Studie eine spezifische Belastung feststellen: Pfarrerinnen und Pfarrer haben so eine breite Symptomatik, dass keines dieser Symptome, die physischen und psychischen Auffälligkeiten, so groß ist, dass man sagt, oh, damit geh ich zum Arzt.
Aber es gibt so vieles, was zwickt, dass es durchaus belastet ist. Und wir konnten eben feststellen, dass mindestens 13 Prozent sich eigentlich mal in die Hände einer Ärztin, eines Arztes begeben müssten, um sich diagnostizieren zu lassen im Hinblick auf psychische Erschöpfung.
Also, ja: Wir konnten eine hohe Dunkelziffer aufdecken von zehn, elf Prozent. Wir konnten aber nicht feststellen, dass Pfarrerinnen und Pfarrer besonders belastet sind als Helferberuf oder religiöser Beruf.

Aufnahme in die Dorfgemeinschaft

Dietrich: Gibt’s irgendwelche besonderen Bedingungen, die dann eben doch aus der Situation auf dem Dorf in die Belastungssituation mit reinspielen? Also, ich könnte mir vorstellen, dass Einsamkeit vielleicht ein Thema ist, also dass man im Pfarramt auf dem Dorf es schwer hat, Freundschaften vor Ort zu finden, weil man ja immer der- oder diejenige ist, die von außen kommt, die studiert ist und die einfach anders ist als der Rest.
Stahl: Das ist eine interessante Vermutung, und hier kommt’s drauf an, wo man ist. Wie gesagt: "Das Dorf" gibt’s nicht. Wenn Sie auf das Dorf in der Nähe von Dresden, Erfurt, irgendwo hinkommen, werden Sie viele Akademikerinnen und Akademiker im Kirchenvorstand finden.
Kommen Sie als Single ins Pfarramt, könnte es schwieriger sein. Kommen Sie mit Familie, sind die Türen und Tore in die Gemeinde hinein vielleicht auch wieder anders. Ich würde sagen, das ist vor Ort jeweils abhängig, da konnten wir keine Besonderheiten zwischen Stadt und Land feststellen. Das ist in der Stadt interessanterweise genauso wie auf dem Land und vice versa.
Dietrich: Sehen denn Pfarrerinnen und Pfarrer selber eigentlich diese Situation so, dass sie schon in einer gewissen Belastungssituation arbeiten?
Stahl: Ja, auf jeden Fall. Die größte Angst ist der Nachwuchsmangel, der jetzt mehr und mehr einsetzt. Die schleichenden Veränderungen, die Gebietsvergrößerungen, die Vergrößerung der Verantwortungsbereiche der Pfarrerinnen und Pfarrer, das belastet sehr. Man bekommt oft ein „soll ich das auch noch machen“ zu hören.

Vom Seelsorger zum Wanderprediger

Dietrich: Ist da vielleicht auch prinzipiell einfach eine andere Vorstellung von Pfarrersein notwendig, also nicht mehr der-, diejenige, die global fürs Seelenheil aller zuständig ist und für alle Weisheit, Zuspruch und Rat auszuteilen hat?
Stahl: Oh, das ist ein sehr anspruchsvolles Bild, das Sie da gerade formulieren. Ich glaube, das dominierende Bild, wenn man in Studien guckt, ist immer das der Seelsorgerin und des Seelsorgers, und das ist natürlich geprägt von Einzelkontakten. Und Einzelkontakte auf einer großen Fläche zu halten, das wird irgendwann wirklich schwierig.
Wir sehen gerade, wie das Bild dreht hin zu dem der Wanderpredigerin, des Wanderpredigers. Das verändert sich auf jeden Fall, und es ist die Frage, wie gut wir uns darauf einstellen können.
Ich glaube, wir sehen auch noch nicht ganz das Ende der Fahnenstange, wo das wirklich hingeht. Ich glaube, dass gerade die Offenheit, wo das hingeht, gerade schwer auszuhalten ist.

Dorfkirche im "Entwicklungsland"

Dietrich: Es gibt ja diese Formulierung, "die Kirche im Dorf zu lassen" – das hat so etwas Beruhigendes, fast Abwiegelndes, so was Selbstbescheidenes. Sie haben einen Begriff gebracht, den fand ich interessant: die „Kirche im Entwicklungsland“. Das heißt, das ist nicht genau Ihr Begriff, sondern das hat der katholische Pastoraltheologe Rainer Bucher gesagt. Warum finden Sie das so einen anregenden Begriff?
Stahl: Oh, ich kenne Bucher, und so, wie ich ihn erlebe, schafft er es immer, eine gute provokante These zu setzen, und da schwingt auch der Blick der katholischen Geschwister der weltweiten Kirche mit: Lasst uns doch mal drüber nachdenken, dass wir das Entwicklungsland sind.
Die große, große Herausforderung ist: Wenn wir bei der Volkskirche, die dysfunktional wird, zurückbauen müssen – was entwickeln wir neu, wo kommen wir endlich vom Rückbau auch in einen Umbau, was bauen wir neu auf? "Kirche im Dorf lassen" heißt ja nicht, dass überall ein Pfarrer sitzt, und die Kirche aufschließt und dass das Gebäude intakt ist.
Kirche ist ja ein lebendiger Organismus, eine Gemeinschaft von Menschen, die da ist, und ich frag mich, wie die Dorfgemeinschaft der Zukunft merkt, dass es eine Kirche gibt. Was würde fehlen, wenn sie nicht da ist? Und dass wir an dem Punkt ans Nachdenken, ans Beten kommen und gemeinsam aufbrechen als Kirche. Und das macht dann auch Mut und Hoffnung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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