"Man kennt eigentlich jeden"

Von Josefine Janert · 06.12.2008
In den Städten betreuen Pfarrer in der Regel eine Gemeinde und feiern am Sonntagvormittag einen Gottesdienst. Anders sieht es auf dem Land aus. In der Altmark, einer dünn besiedelten Region in Sachsen-Anhalt, sind einige Pfarrer für zehn und mehr Gemeinden verantwortlich. Sie fahren von Dorf zu Dorf und feiern am Wochenende mehrere Gottesdienste hintereinander.
Sonntagmorgen, viertel nach zehn. In der Kirche von Grieben, einem Dorf in Sachsen-Anhalt, ist es bitterkalt. Eine Heizung gibt es nicht. 15 Personen sitzen in Anoraks und Mänteln auf den Bänken: ein Ehepaar mit Kind, Menschen ab Mitte vierzig. Pfarrer Peter Gümbel hat gestern in dieser Kirche schon eine Goldenen Hochzeit gefeiert und anschließend in Ringfurth, einem benachbarten Dorf, einen Gottesdienst gehalten.

Peter Gümbel ist 37 Jahre alt. Er trägt einen dunklen Bart und eine Brille. Seit 1999 betreut er zwölf Gemeinden, die alle an der Elbe liegen. 1970 waren im selben Gebiet noch vier Pfarrer tätig. Die Stellen wurden schon in der DDR abgebaut, die Gemeinden zu einem Pfarrbereich zusammengelegt. Organisten findet man in den Dörfern der Altmark kaum mehr. Die Menschen sind daran gewöhnt, a capella zu singen.

Nach dem Sonntagssegen drückt Gümbel zwei Geburtstagskindern die Hände, auch Manfred Geue, der 71 Jahre alt geworden ist. Geue ist mit seiner Frau Gisela in den Gottesdienst gekommen. Die beiden bedauern, dass kaum noch junge Menschen in die Kirche gehen. Viele wandern aus der Altmark ab.

Manfred Geue: "Das ist inzwischen nach der DDR-Zeit die dritte Generation, die ohne Religionsunterricht und Christenlehre aufgewachsen ist. Und wenn die Eltern keine Motivation haben, sich am kirchlichen Leben zu beteiligen, dann können Sie auch die Kinder nicht motivieren."

Gisela Geue: "Es ist schwer für die Jungen, die noch da sind, dann allein zu sein, wenn se zum Gottesdienst kommen. Es sind schon noch 'n paar da, aber die müssten sich entweder absprechen und zusammen kommen oder immer da sein und das geht nicht."

Rund 650 Gemeindemitglieder wohnen in dem Pfarrbereich, den Peter Gümbel betreut. Jeder fünfte Altmärker ist evangelisch.
Sonntagsstille liegt über Grieben, als der Pfarrer in sein Auto steigt. In der Altmark, die einst eine der Kornkammern Deutschland war, leben nur noch wenige Leute von der Landwirtschaft. Manche Dorfbewohner sind als Verkäuferinnen oder Verwaltungsangestellte im nahen Stendal tätig. Viele Männer pendeln in die Ballungszentren, nach Hannover oder Süddeutschland. Die Arbeitslosigkeit ist hoch.
Peter Gümbel fährt durch Jerchel, einen Ort mit einer hübschen alten Kirche. Die Kirchenälteste ist fortgezogen. Bislang hat sich niemand gefunden, der das Ehrenamt übernimmt.

Gümbel: "Es ist ein kleines Dorf und die Bereitschaft, dann doch diese zahlreichen Aufgaben zu übernehmen, für den Friedhof, für die Kirche, für Gottesdienste verantwortlich zu sein, ist doch für viele zu erschreckend hoch. Aber die Gesamtverantwortung zu tragen, da braucht man den Überblick und auch Zeit dazu, und die Jüngeren, die den Überblick hätten, sind sehr oft in Berufen eingespannt und haben die Zeit nicht, und die Älteren, die die Zeit haben, die trauen sich dann oft den Überblick nicht zu."

Gegen Mittag ist Gümbel zur Geburtstagsfeier bei Manfred Geue eingeladen. Clemens Geue, der 41-jährige Sohn des Jubilars, ist Kirchenältester in Grieben. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Die christliche Erziehung seiner Kinder ist ihm wichtig.

Clemens Geue: "Ich weiß nicht, ob in der Christenlehre nicht viel zu viel gespielt und gemalt wird, ob da noch die Gedanken vermittelt werden: Wie Leute sich untereinander zu verhalten haben, wie man denkt, wie's vernünftig wäre, dass man auch später miteinander klar kommt."

Zum Mittagessen fährt Peter Gümbel nach Hause in das Dorf Cobbel.

Im Pfarrhaus übt sein Sohn Klavier, die drei Töchter decken den Tisch und die Frau, eine gelernte Erzieherin, steht in der Küche. An diesem Sonntagnachmittag will Hiltrud Gümbel mit ihren Kindern spielen und musizieren. An anderen Wochentagen nimmt die 41-Jährige oft Anrufe für ihren Mann entgegen und koordiniert seine Termine. Die gebürtige Wuppertalerin ist beliebt bei den Altmärkern. Peter Gümbel kann bei seiner Familie immer aufs Neue Kraft schöpfen. Sein Vater war ebenfalls Pfarrer. Geprägt hat ihn außerdem die Kindheit auf dem brandenburgischen Dorf Wittbrietzen. Gümbel lebt gern auf dem Land. Die Pfarrstelle hat er deshalb ohne Zögern angenommen.

Peter Gümbel: "Diese Verbindung, diese Nähe zur Natur, die Direktheit der Menschen hier, dass man sehr schnell in persönliche Kontakte kommt, dass nicht so 'ne große, anonyme Gesellschaft ist, sondern dass man sich eigentlich auch kennt, wenn man nicht den Namen gleich weiß."

Peter Gümbel fährt im Monat bis zu 2000 Kilometer mit dem Auto, um möglichst viele Menschen ins Gemeindeleben einzubinden. Jedes Dorf ist mindestens alle vier Wochen mit dem Gottesdienst dran, Grieben, der größte Ort, alle zwei Wochen.

Gümbel ist wieder in Eile. Um 14 Uhr beginnt der Gottesdienst in Ütz, das knapp 200 Einwohner hat. Zwölf Frauen warten auf ihn. Birgit Schäfer arbeitet in der kommunalen Verwaltung. Sie ist froh darüber, dass es den Pfarrer gibt:

Birgit Schäfer: "Er ist so mitreißend. Und er macht ja nicht nur die Gottesdienste, sondern leitet einen Posaunenchor, seine Frau den Chor, den Kirchenchor, beteiligt sich auch an Ereignissen im Ort."

Obwohl viele Familien Autos besitzen und die nächsten Städte mit größeren Gemeinden nur nicht weit entfernt sind, möchten sie, dass Pfarrer Gümbel weiter zu ihnen kommt. Das sei wichtig für den Zusammenhalt, betont Ines Schubert:

Ines Schubert: "Es war also vor fünf, sechs Jahren so, dass die Kirche abgerissen werden sollte, und ja, dann wurde eine Sammlungsaktion gemacht. So dass man gesehen hat, auch die, die nicht bei jedem Gottesdienst anwesend sind, haben ein Herz für ihre Kirche hier im Dorf. (...). Das Konsistorium hat auch was gegeben, so dass die Kirche im Dorf geblieben ist, wie man so schön sagt."