Doreen Cunningham: „Der Gesang in den Meeren“

Graue Riesen

05:57 Minuten
Das Cover von Doreen Cunninghams Buch „Der Gesang in den Meeren“ zeigt eine Grauwal-Mutter unter Wasser, über deren Rücken ein Grauwal-Kind zu schweben scheint.
© Rowohlt

Doreen Cunningham

Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

Der Gesang in den MeerenRowohlt, Hamburg 2022

368 Seiten

23,00 Euro

Von Susanne Billig |
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Ostpazifische Grauwal-Mütter machen sich jedes Jahr auf eine der längsten Rundwanderungen im Tierreich. Die Autorin Doreen Cunningham ist ihnen gefolgt, mit einem Kleinkind an der Hand. Die Reise war Flucht, Befreiung und Selbstfindung zugleich.
An den Küsten Alaskas finden Grauwale reichlich Nahrung. An den Küsten Mexikos gebären sie ihre Jungen und ziehen sie vier Monate lang groß, ohne zu fressen. Im Frühjahr machen sich die ausgehungerten Walmütter mit ihren Kindern dann zurück auf die gefährliche Reise nach Norden.

Gestrandet im Wohnheim

In „Der Gesang der Meere“ verwebt Doreen Cunningham packendes Nature Writing über das Leben und Verhalten der Wale mit ihrer ganz persönlichen Reise und Selbstfindung. Als freischaffende Journalistin und junge Mutter geriet sie in einen erbitterten Sorgerechtsstreit, der sie seelisch und finanziell ruiniert hat.
Gestrandet in einem Heim für alleinerziehende Mütter schmiedete sie einen Befreiungsplan: Mit ihrem zweijährigen Sohn würde sie nach Mexiko reisen und den Grauwalen folgen.

Vom Leben am Meer

Von diesem wagemutigen Unterfangen erzählt ihr Buch. Die Beschreibung schroffer Natur und wilder Bootsfahrten über meterhohe Wellen auf der Suche nach Walmüttern und ihren Kindern bilden schriftstellerisch darin die stärksten Passagen. Brandung tost, Eisschollen gleißen in der Sonne, Walrücken türmen sich aus Wassern empor, Nebelschwaden liegen schwer über Alaska.
Schon auf früheren Reisen hat die Autorin dort einige Iñupiat kennengelernt und vertieft nun ihre Beziehung insbesondere zu indigenen Frauen. Ihr Buch gibt sehr persönliche und detaillierte Einblicke in die Herausforderungen des Lebens der Iñupiat zwischen Kulturzerstörung, Alkoholismus, Abwanderung junger Menschen, der Dunkelheit und Kälte eines Lebens im hohen Norden und einer tiefen Liebe zu traditionellen Lebensweisen, auch zur Waljagd.

Selbstfindung in der Natur

Im Kontakt zu diesen Menschen und den mit ihren Jungen wandernden Walen erfährt Doreen Cunningham ihre Transformation, findet Trost und Aufrichtung im Überlebenswillen von Mensch und Tier. Leider gleiten gerade die persönlichen Passagen des Buches mitunter in den Kitsch ab oder klingen, ganz im Gegensatz zur frischen, zupackenden Naturprosa, ein wenig einfallslos und gestanzt.
Ungleich stärker wird ihr Text, wenn die Autorin auf die Meeresverschmutzung zu sprechen kommt, den Klimawandel und die lebensbedrohliche Lage der Wale. Sehnsüchtig ruft sie über das Meer nach einem der grauen Riesen und fragt sich: „Kann er mich hören? Vielleicht ruft er mich, ein tiefer Ton, der von Unterwassercanyons widerhallt und sich über Hunderte von Meilen ausbreiten kann.“ Möglicherweise ist das Gehör des Tieres beschädigt, weil es der Bombardierung durch Luftpulser ausgesetzt war, mit denen nach fossilen Brennstoffen gesucht wird.

Schutz der Meerestiere

Solche Tests können Monate dauern, erzählt Doreen Cunningham. Die Pulserschüsse dringen im Minutentakt mehrere Hundert Kilometer in den Meeresboden ein, pulverisieren die inneren Organe von Riesenkalmaren, töten Zooplankton und machen Walen ihre komplexe Lautkommunikation unmöglich.
Verzweifelt versuchen die Tiere, dem Industrielärm auszuweichen. Einige Arten sind schon verstummt. Doreen Cunningham spendet einen Teil des Bucherlöses den indigenen Wächterinnen und Wächtern des Meeres, die von ihm leben und für seinen Schutz kämpfen.
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