„Dissens“-Motto im Jahr 1977

Als die Biennale in Venedig politisch wurde

07:51 Minuten
Schwarz-Weiß-Porträt von Carlo Ripa di Meana, der Präsident der Biennale in Venedig im Jahr 1977, er stützt seinen Kopf auf seine Hand
„Biennale del dissenso culturale“ nannte Präsident Carlo Ripa di Meana 1977 seine außerplanmäßige Biennale in Venedig. © imago / ZUMA / Keystone
Von Noemi Schneider · 24.11.2022
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Die Biennale in Venedig hat es schon 1977 bewiesen: Eine Kunstausstellung kann politisch wirken und freiheitliches Denken beflügeln. Sie holte den Dissens als Leitbegriff zurück in die kulturelle Debatte zwischen Ost und West. Die Provokation gelang.
Im Januar 1977 gab der Präsident der Biennale in Venedig, Carlo Ripa di Meana, überraschend bekannt, in diesem Jahr, außerplanmäßig, anlässlich des 60. Jubiläums der russischen Oktoberrevolution, eine „Biennale del dissenso culturale“, eine Biennale des kulturellen Dissens, stattfinden zu lassen.
Das Phänomen des „Andersdenkens“ in den sozialistisch-kommunistischen Ostblockstaaten sollte im Rahmen von Ausstellungen, Workshops und Symposien diskutiert werden. Ein provokatives Projekt des sozialistischen Biennale-Präsidenten, der seit seinem Amtsantritt schon zwei politische Biennalen umgesetzt hatte.

Politischer Anspruch der Biennale in Venedig

Das ist auf jeden Fall der wichtigste Beitrag von Ripa di Meana. Der hat von Anfang an die Biennale reformiert von einer Kunstausstellung, die schon ziemlich alt war, zur Biennale, die wir noch heute kennen mit vielen Veranstaltungen und auch mit politischen Ansprüchen und deshalb kam die Biennale von ’77 als dritte politische Veranstaltung, die diesmal mit Osteuropa zu tun hatte.“
Matteo Bertelé ist assoziierter Professor für zeitgenössische Kunstgeschichte an der Universität Ca’ Foscari in Venedig und beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmäßig mit russischer und sowjetischer Kunst im 20. und 21. Jahrhundert. Vor einigen Jahren hat er einen Band zur Geschichte der sogenannten „Dissensbiennale von 1977“ mitherausgegeben.

Begriff "Dissens" sollte Aufmerksamkeit erzielen

Dissens: Diesen programmatischen Begriff wählte der Biennale-Präsident bewusst, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Kulturell wollte er ihn verstanden wissen, doch schon bei der Ankündigung kam es zu lautstarken politischen Protesten von mehreren Seiten. Kein Wunder, die Kommunistische Partei Italiens war zu dieser Zeit mit 34 Prozent im Parlament vertreten und die Sowjetunion ein wichtiger, vor allem wirtschaftlicher Partner Italiens.
Von Anfang an hatten die sowjetischen Diplomaten diese Initiative als anti-sowjetische und sogar anti-kommunistische Veranstaltung gestempelt“, sagt Bertelé. Italienische und sowjetische Intellektuelle und Politiker sprachen sich für einen Boykott aus.

Sowjetischer Botschafter forderte Absage

Im März 1977 forderte der sowjetische Botschafter in Rom die italienische Regierung im Namen aller Länder des Warschauer Pakts offiziell dazu auf, die Dissens-Biennale abzusagen. Die ursprünglich für den Sommer geplante Biennale musste in den Herbst verschoben werden, da die italienische Regierung auf den diplomatischen Druck hin der Biennale, die damals eine staatliche Kultureinrichtung war, zunächst das Jahresbudget sperrte.
Dieses Vorgehen wurde monatelang in den italienischen Zeitungen diskutiert, bis das Budget schließlich im Juni freigegeben wurde und die Vorbereitungen für das Festival beginnen konnten.
Die konnten das nicht verhindern und die wollten das wahrscheinlich auch nicht, das wäre vielleicht noch schlimmer gewesen.“

Drei Biennale-Direktoren traten zurück

Doch auch innerhalb der Biennale-Führung war Ripa di Meanas Vorhaben nicht unumstritten. Anfang Juli traten die drei Direktoren der Sparten Bildende Kunst, Kino und Theater von ihren Ämtern zurück, offiziell wegen des unzureichenden Zeitplans. Im August gaben verschiedene venezianische Institutionen wie die Universität Ca' Foscari bekannt, die Kooperation mit der Biennale in diesem Jahr zu verweigern.
Doch der Initiator blieb unbeirrt. In einem Interview mit dem italienischen Nachrichtensender Rai betonte di Meana, dass gerade die Reaktionen und Diskussionen, die diese Biennale schon im Vorfeld auslöse, zeigen würden, wie wichtig es sei, den Dissens ins Zentrum der politischen und kulturellen Debatte zu rücken und in Ost und West die Auseinandersetzung darüber zu führen.

Alternative Events der sowjetischen Behörden

Die sowjetischen Behörden initiierten als Reaktion über das ganze Jahr eine Reihe alternativer kultureller Veranstaltungen in Italien, die in mehreren Städten, auch in Venedig, stattfanden. Den Höhepunkt bildete eine gutbesuchte Ausstellung im Dogenpalast mit Sammlungsbeständen der Leningrader Eremitage.
Gleichzeitig behinderten sie die Korrespondenz mit den im Ostblock lebenden Intellektuellen. Briefe und Einladungen wurden zurückgeschickt, Verlage und Verleiher daran gehindert, die vom Festival angeforderten Rechte, Partituren und Filme weiterzugeben.
Bei der offiziellen Eröffnungsveranstaltung der Biennale del dissenso culturale am 15. November waren dann jedoch neben Intellektuellen und Künstlern aus West- und Osteuropa auch zahlreiche Vertreter der sowjetischen Intelligenzija im Exil anwesend, wie die Schriftsteller Andrej Sinjawskij und Iosif Brodskij.

Rezeption fiel vernichtend aus

Das Hauptaugenmerk galt der zentralen Kunstausstellung „Die neue sowjetische Kunst: Eine inoffizielle Perspektive“, die der Kunstkritiker und Kommunist Enrico Crispolti und die Slawistin Gabriella Moncada kuratiert hatten. Die ausgestellten Kunstwerke stammten aus westeuropäischen Sammlerbeständen und waren größtenteils aus den 60er-Jahren, da die diplomatischen Verstimmungen keine Exporte von Werken oder Ausreisen der geladenen Gäste aus der Sowjetunion zuließen.
Die Rezeption der Werke in der italienischen und internationalen Presse fiel teilweise vernichtend aus. Die „FAZ“-Korrespondentin Ute Diehl bezeichnete die Ausstellung sogar als „hässlich“.

Debatte über künstlerische Freiheit gelang

Kunstgeschichte schrieb die Biennale del dissenso culturale nicht, aber Carlo Ripa di Meanas Vorhaben verfehlte trotzdem nicht seine Wirkung. Er nutzte die Biennale, um eine kulturelle und politische Debatte zum Thema Dissens über künstlerische und gedankliche Freiheit in einem obrigkeitsstaatlichen System zu entfachen. Das gelang.
Die Dissens-Biennale von Venedig forderte die sowjetische Herrschaft im Ostblock heraus. Im selben Jahr 1977 traten in der Tschechoslowakei Dissidenten mit der Charta 77 hervor. Die Sowjetunion boykottierte die folgenden offiziellen Biennalen bis 1982, den Dissens und die Dissidenz innerhalb ihres Herrschaftsbereichs wurde sie aber nicht mehr los.

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