Discounter bauen auf ihren Dächern

Wohnen über dem Supermarkt

Wohnen über Lidl: Im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg hat sich der Discounter gleich mehrere Prachtwohnungen aufs Dach gebaut
Wohnen über Lidl: Im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg hat sich der Discounter gleich mehrere Prachtwohnungen aufs Dach gebaut © imago stock&people / Jürgen Ritter
Von Wolf-Sören Treusch · 30.05.2018
Deutschlands Innenstädte werden immer attraktiver. Doch der Wohnraum dort ist knapp und diese Knappheit macht erfinderisch: Einige Discounter bauen über ihre Verkaufsfläche attraktive Wohnungen: Drei Zimmer über der Kasse.
"Wir haben nur wenige Stützen im Markt, diese schmalen Stützenstreifen hier, und das in der Mitte, dieser große Kasten, das ist der Aufzug, der durchgeht, und das ist praktisch das einzige, das diesen Markt hier zerteilt."

Eine Lidl-Filiale in Berlin, Prenzlauer Berg. Hell ist es hier, die Gänge sind breit, die Auslagen großzügig, es gibt eine Kundentoilette. Der Aufzug führt in das darüber liegende Wohngebäude. Jenny Stemmler, Bereichsleiterin Immobilien bei Lidl Berlin, präsentiert das Geschäftskonzept der Zukunft: oben wohnen, unten einkaufen. Und alles ohne Lärmbelästigung.
"Der Lkw fährt rückwärts in diese Anlieferrampe rein, wir können schnell und einfach entladen, dabei geht vorne ein geräuschgedämmtes Rolltor runter, und der Mieter bekommt nichts mit von diesem Be- und Entladevorgang."

Ein bisschen Lüftung, aber sonst...

Der Supermarkt wurde neu gebaut und dabei komplett überbaut. Drei Gebäude mit insgesamt 44 Wohnungen entstanden darauf. Dazwischen liegen begrünte Innenhöfe, die viel Ruhe bieten. Vom Supermarkt bekäme sie kaum etwas mit, bestätigt eine Bewohnerin:
"Bisschen was von der Lüftung. Also die ist nachts 'n bisschen aktiv, aber schaltet sich wieder aus. Wenn man jetzt nicht mit offenem Fenster schläft, ist es eigentlich superentspannt. Ich finde es genial mit Kindern, dass ich wirklich im Schlafanzug nach unten kann, um kurz vor zehn 'mal Milch holen oder so. Man kriegt das echt nicht mit. Gar nicht. Auch keine Anlieferung oder so, gar nichts."
"Haben Sie das tatsächlich schon mal gemacht: im Schlafanzug runtergehen?"
"Ja. Aber wegen Chips und Wein."
Natürlich sei die Miete sehr hoch, aber das sei für eine Wohnung in dieser Lage völlig normal. "Leider", ergänzt sie. Das Konzept jedenfalls – oben zu wohnen, unten zu einkaufen – überzeugt sie.
"Das ist nicht die Zukunft, das ist eigentlich die Vergangenheit. Das war was völlig Normales, überm Tante Emma Laden zu wohnen."

Möglichst keine Stützen wegen des freien Käuferblicks

Die Anlage in Prenzlauer Berg ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie ein großflächiger Supermarkt in eine stark verdichtete Innenstadtlage integriert werden kann und dabei dringend benötigte Mietwohnungen entstehen. Der Entwurf stammt vom Architekten Peter Deluse. Das Entscheidende, sagt er, sei die Statik. Das Hauptgewicht verteile sich auf die massiven Außenmauern.
"Erstmal sieht es ja alles ganz einfach aus: hier sind drei Häuser auf einen Laden gebaut, aber faktisch ist es natürlich nicht so einfach. Sie haben es unten ja schon gesehen: Lidl will natürlich in der Verkaufsfläche möglichst keine Stützen haben, möglichst keine Aufzüge, das heißt wir haben hier auch ganz früh begonnen, das Ganze so rein zu zirkeln, dass es in dieses Regalierungssystem von Lidl reinpasst, wenn aber das Regalierungssystem von Lidl sich morgen ändert, dann steht da natürlich ein Betonschacht, und den kann man nicht einfach weg nehmen."
Der Lebensmittel-Discounter wird weiter investieren in den Wohnungsbau mit darunter liegendem Supermarkt. Jedes seiner Berliner Grundstücke, erklärt Jenny Stemmler, steht deshalb nun auf dem Prüfstand.

"Grundsätzlich sind wir gern bereit, solche Projekte selber zu entwickeln, selbst Bauherr zu sein. Wir befinden uns hier in hoch verdichteten Ballungsgebieten, Boden und Wohnraum ist ein knappes Gut, das ist ein teures Gut, und deshalb ist es uns ja auch wichtig, insbesondere in solch hoch verdichtete Quartiere zu gehen, solche kombiniert genutzten Objekte sind für uns eine Möglichkeit, Nahversorger in solch einem Quartier zu sein, und wir werden sicherlich bundesweit auf mehr als 2.000 Wohn- und Gewerbeeinheiten kommen, genaue Zahlen für Berlin kann ich Ihnen noch gar nicht sagen."
Jenny Stemmler von Lidl Immobilien im Gespräch mit Architekt Peter Deluse
Jenny Stemmler von Lidl Immobilien im Gespräch mit Architekt Peter Deluse© Deutschlandradio / Wolf-Sören Treusch

Es wird aufgestockt

Aufstocken! Lautet die Devise aller großen Player im Lebensmitteleinzelhandel. Jetzt, da die Zinsen niedrig sind und der Bedarf an Wohnungen hoch ist. Es ist eine klassische Win-Win-Situation: Lidl, Aldi und Co. bekommen größere Verkaufsflächen, die Städte mehr Wohnungen. Auch Aldi-Nord will seine Grundstücke veredeln: "Deshalb glauben wir, dass die Kombination mit Aldi-Markt unten und angeschlossenem Wohnraum oben eine konsequente und zukunftsorientierte Lösung für alle Beteiligten ist."
2.000 Wohnungen an 30 Standorten will der Lebensmittel-Discounter in der Hauptstadt bauen.
Berlin ist bundesweit die erste Stadt, die das Potenzial von Wohnungsbau über Supermärkten errechnet hat. Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher von der Linken kennt die Zahlen.
"330 Standorte über Supermärkten und Discountern, die wir grundsätzlich für bebaubar halten mit mehrgeschossigen Wohnhäusern, wenn man dann also 50 bis 100 Wohneinheiten je Standort ansetzt, dann entsteht ein rechnerisches Potenzial, was bei 15.000 anfängt und bei 36.000 Wohnungen endet, das heißt das ist keine unerhebliche Zahl."
50 Projekte seien zurzeit in Arbeit, so die Senatorin. Die Stadtplanungsämter in den Bezirken verhandeln mit den Lebensmittel-Discountern. Dabei gilt es, vor allem eine Frage zu klären: Wie groß dürfen die Verkaufsflächen unter den neu zu bauenden Wohnungen sein? Das Gesetz erlaubt bisher 800 Quadratmeter.

"Macht doch einfach!" - Das geht nicht.

"Man muss es standortabhängig entscheiden, ob ein Bebauungsplan erforderlich ist für ein untergeschobenes Verkaufsgeschäft mit mehr als 800 Quadratmeter Verkaufsfläche oder nicht. Wir unterstützen die Bezirke, aber wir können nicht einfach per ordre de mufti sagen: Macht doch einfach!"
Der Deal – neue Wohnungen gegen größere Verkaufsflächen – klingt einfach, ist mitunter aber kompliziert. Hat Architekt Peter Deluse festgestellt, der bei mehreren Gesprächen schon dabei war.
"Das sind ganz simple Verhandlungen: Gibst du mir, gebe ich dir! Wenn die Bezirke nicht bereit sind, etwas zu geben, gibt der Einzelhändler nicht. Kein Einzelhändler der Welt kann dazu gezwungen werden, Wohnungsbau zu bauen, und dafür wollen sie eine größere Verkaufsfläche haben. Und in manchen Bezirken, finde ich, wird das schon ganz schön konterkariert. Wir haben neulich eine Situation gehabt, wo wir einen dreiseitigen Brief vom Leiter des Stadtplanungsamtes bekamen, der uns dann zugestand, 800 Quadratmeter Verkaufsfläche zu haben, der Laden, der jetzt da aber schon ist, der ist 950 Quadratmeter groß, wo man dann denkt: Was für eine absurde Diskussion?"
"Na ja, es ist schon völlig absurd, wie die Flächen unternutzt sind." Oliver Schruoffeneger von Bündnis 90/Die Grünen ist Baustadtrat im Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Bei ihm laufen die Fäden zu dem Thema zusammen. Grundsätzlich ist er ein großer Fan der Idee, die Supermärkte zu überbauen: "Die eingeschossigen, auch architektonisch nicht sehr schönen Hallen, die da stehen, die Riesen Parkplätze, das sind natürlich alles wertvolle Wohnbauflächen, die man jetzt auch dem Wohnungsbau zuführen kann, das Problem ist auch überhaupt nicht, das wirtschaftlich darzustellen oder architektonisch zu gestalten, sondern das Problem sind die Übergangszeiten. Was macht man mit dem Supermarkt in den drei Jahren, wenn abgerissen und neu gebaut wird? Wie stellt man die Versorgung sicher? Und was hat das für wirtschaftliche Auswirkungen bei den jeweiligen Betreibern?"
Und noch ein Problem sieht der Baustadtrat. Es sei noch gar nicht genügend darüber diskutiert worden, wie denn der Supermarkt der Zukunft aussehen solle? Einfach nur größer, breiter, heller? Damit sei es doch nicht getan, sagt er.

Der Supermarkt und seine gesellschaftliche Funktion

"Ich bin ein großer Fan der Diskussion um Mittagsangebote in Supermärkten, weil ich glaube, dass die älter werdende Gesellschaft auf der einen Seite, der Online-Handel auf der anderen Seite zu einer immer stärkeren Vereinsamung der Menschen führt, und ich glaube, dass der Supermarkt um die Ecke da auch eine Funktion haben kann, indem er ein bis zwei warme Gerichte mittags anbietet, wo man hin geht, wo man Nachbarn trifft, das sind schon etwas schwierigere Diskussionen als einfach nur zu sagen: Fläche gegen Wohnung."
Doch auch der Lebensmitteleinzelhandel hat seine Interessen. Im konkreten Fall eines Grundstücks in Charlottenburg-Wilmersdorf will Lidl beispielsweise erreichen, dass der große Kundenparkplatz nicht komplett verschwindet, wenn ein neuer, größerer Supermarkt samt darüber liegenden Wohnungen gebaut wird. Und hat daher ein Konzept vorgelegt, das Wohnungen gar nicht erst vorsieht, so die Lidl-Bereichsleiterin Immobilien Berlin, Jenny Stemmler: "Wir sehen in dem Gebiet hohen Bedarf für Kindertagesstätten. So etwas haben wir beispielsweise auch schon in Stuttgart realisiert: Tolle Lösung - Lidl-Markt unten, Kita oben drüber, die Freiflächen können auf dem Lidl-Dach realisiert werden, dementsprechend passt sich das auch sehr gut in die Bebauung dort ein."

"Ich wundere mich: Das wird sich doch gar nicht rechnen. Wenn sie jetzt hier nur ebenerdig bauen und 'ne Kita drauf, das würde mich wundern", meint hingegen Joachim Neu von der lokalen Bürgerinitiative. Er ist sicher, dass es in den Verhandlungen zwischen Bezirk und Lebensmittel-Discounter natürlich auch um Wohnungsbau gehen wird, denn laut Flächennutzungsplan darf an dieser Stelle neuerdings achtstöckig draufgesattelt werden.

Die Stadt braucht Sozialwohnungen

"Probleme gibt es natürlich, was den Lärmschutz betrifft, und dann auch dabei, welche Wohnungen da hinkommen. Wir haben 2017 in Spandau und Charlottenburg keine einzige Sozialwohnung gebaut. Das heißt: Das brauchen wir. Wir haben ja hier einen Haufen Eigentumswohnungen, hochpreisige Wohnungen. Wenn Wohnungen, dann natürlich auch bitte solche Wohnungen! Und wir haben natürlich eine starke Übernutzung des öffentlichen Raumes durch Verkehr. Das heißt: Da bräuchten wir ein Verkehrsgutachten."
Baustadtrat Oliver Schruoffeneger gibt sich in der Angelegenheit betont gelassen: "Warten wir mal ab. Lidl will dort unbedingt den Einkaufsmarkt erweitern, mehr Fläche haben. Dazu brauchen sie unsere Zustimmung, wir wollen Wohnungsbau und Kita, irgendwann wird es da eine Entscheidung geben."
Das Beispiel aus dem Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf macht deutlich: Es wird ein zähes Ringen. So verlockend die Vorstellung ist, alle Supermärkte mit Wohnungen zu überbauen, so kompliziert stellt sich das jeweils im Einzelfall dar. Dennoch ist klar: In deutschen Großstädten dürften die typischen Flachbauten mit ihren Satteldächern bald der Vergangenheit angehören.
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