Matthew Desmond: "Zwangsgeräumt. Armut und Profit in der Stadt"

Gedemütigt auf dem Wohnungsmarkt

Collage aus dem Buchcover von Matthew Desmonds "Zwangsgeräumt" und einem Anwohnerprotest bei einer Zwangsräumung in Detroit
Matthew Desmond beschreibt den Wohnungsmarkt in Amerika als unwürdigen, menschenverachtende "Geldmach-Industrie". © Ullstein / imago/imagebroker / Collage: DLF Kultur
Von Kim Kindermann · 23.05.2018
Der persönliche Reichtum einiger weniger ist wichtiger als das Gemeinwohl - das zeigt Mathew Desmonds Buch "Zwangsgeräumt. Armut und Profit in der Stadt". Seine Interviews zeigen: Wohnraum entscheidet über Glück und Unglück im Leben.
Als Jori und sein Cousin aus Spaß ein vorbei fahrendes Auto mit Schneebällen bewerfen und der wütende Fahrer bei der Verfolgung der Kinder die Wohnungstür eintritt, wird aus dem Kinderstreich eine folgenschwere Geschichte: Jori, seine Mutter Arleen und sein Bruder Jafaris werden aus der Wohnung geworfen. Fristlos zwangsgeräumt. Der Vermieterin war die Sache mit der Tür einfach zu viel.
Die dreiköpfige Familie muss von jetzt auf gleich Unterschlupf finden. Es ist Winter. Kein Erbarmen. Schließlich dürfen sie in einer 120-Betten-Obdachlosenunterkunft leben.
Die Kinder sind 13 und 5 Jahre alt. Für vier Monate bleiben sie dort – bis ihre Mutter eine neue Bleibe findet: Ein baufälliges Haus, das für Arleen das schönste ist, was sie je bewohnt hat, das aber nach wenigen Wochen von der Stadt zu "menschenunwürdigem Wohnraum" erklärt und geräumt wird.
Arleen und ihre Jungen ziehen erneut um. In einen tristen Wohnblock, inmitten eines Drogenmilieus. Nach vier Monaten ziehen sie von dort wieder weg: in eine Erdgeschosswohnung mit kaputten Fenstern und Türen, verwanztem Teppich. Und wie zuvor auch kostet dieses Wohnung 550 Dollar, das sind 88 Prozent von Arleens monatlichen Einkommen. Zum Leben bleiben ihr und den Kinder danach also noch genau 78 Dollar. Die nächste Zwangsräumung ist demnach nur eine Frage der Zeit.

Kreislauf aus Armut und Demütigung

Willkommen in Amerika! Mit einem Wohnungsmarkt, der einer unwürdigen, menschenverachtenden "Geldmach-Industrie" gleicht, die Menschen wie Arleen in einen fortlaufenden Kreislauf aus Armut und Demütigung schickt und Hausbesitzer von Schrottimmobilien zu Millionären macht. Der amerikanische Traum wird hier zum Albtraum.
Schonungslos offengelegt von Matthew Desmond, heute Professor für Soziologie und Sozialwissenschaften an der Harvard University. 2008 zog er für seine Forschung in eines der ärmsten Viertel von Milwaukee und lebte in den kommenden Monaten mit Menschen wie Arleen. Er hörte ihnen zu, begleitete sie und zeichnete alles mit einem digitalen Aufnahmegerät auf.
Hunderte von Interviews sind so entstanden, mit Mietern und Vermietern, Sozialarbeitern, Gerichtsvollziehern, Bauinspektoren und Hausverwaltern. Am Ende verdichtet Mathew Desmond diese Interviews zu der Geschichte von acht Familien und ihren Vermietern.
Sein Konzept geht auf. Denn schnell wird klar, die Menschen, von denen Matthew Desmond hier erzählt, erleben alle das gleiche Schicksal: Sie sind arm, leben am Rande der Gesellschaft, stecken über die Hälfte ihres Einkommens in ihre Miete und erleben Zwangsräumungen als alltägliche Routine.
Über 500 Seiten umfasst diese Geschichte und oft ist sie so frustrierend, dass man es schwer aushält. Etwa dann wenn man liest, dass Kinder auf nacktem Boden schlafen müssen, dass sie hungrig ins Bett gehen, es für nichts reicht, und ihre Eltern einen immer währenden Kampf ums Überleben führen, der an ihrer Selbstachtung so heftig nagt, dass sie am Ende selbst glauben, es nicht besser verdient zu haben und nichts wert zu sein.

Wurzellos ohne Zuhause

Das ist wohl die heftigste Erkenntnis dieses Buches: Wenn man keine Zuhause hat, keinen Mittelpunkt im Leben, dann wird man halt- und wurzellos. Denn zuhause steht für Wärme, Geborgenheit und Familie. Die große Kunst des Autors ist es, genau davon zu erzählen. Er legt den Finger in die Wunde von Gesellschaften, in denen der persönliche Reichtum einiger weniger wichtiger ist als das Gemeinwohl. Insofern ist dieses Buch eine Warnung – auch an Länder wie Deutschland. Selbst wenn die soziale Absicherung hier völlig anders ist als in den USA.
Großartig an seinem Buch ist zudem, dass Matthew Desmond auch über die Vermieter schreibt. Auch sie hat er begleitet, auch ihrer Sicht gewährt er Raum. Da ist etwa Sherrena, eine ehemalige Lehrerin, die mittlerweile mehrere Immobilien zumeist in den armen afro-amerikanisch geprägten Wohngegenden Milwaukee besitzt.
Jeden Tag ist sie unterwegs, geht zu den Familien, hört sich ihre Klagen an, beauftragt Reparaturen, sitzt im Gericht, setzt Räumungen durch, kauft wenn die Not zu groß ist, ihren Mietern auch mal was zu Essen. Ein Knochenjob.
Doch egal, wie nah sie ihren Mietern kommt, nie verschiebt sich ihre Machtposition: Sie ist es, die entscheidet, wer bleibt und wer gehen muss. Nicht schön. Letztendlich aber ist Sherrena damit auch nur ein Produkt eines Systems, das glauben lässt, jeder ist seines Glückes Schmied.
Wie fern das von aller Wahrheit ist, zeigt dieses beeindruckende Buch, für das Matthew Desmond 2017 den Pulitzer Preis für das beste Sachbuch erhielt. Zu Recht. Denn er macht deutlich, über Glück und Unglück im Leben entscheiden Wohnraum und Wohnort. Und dass gilt für alle Länder. Weltweit.

Matthew Desmond: Zwangsgeräumt. Armut und Profit in der Stadt
Übersetzt von Volker Zimmermann
Ullstein Verlag, Berlin 2018
528 Seiten, 26 Euro

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