Dimitri Verhulst: Die Unerwünschten. Zwei Geschichten nach wahren Begebenheiten.
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
Luchterhand Literaturverlag, München 2016
144 Seiten, 18 Euro
Bittere Geschichten in ruppigem Ton
Ein Frau springt von einer Brücke, ein junges Elternpaar tötet seine Kinder. Selbstmörderin und Mörder sind ehemalige Heimkinder. In dem Erzählband "Die Unerwünschten" rechnet der niederländische Autor Dimitri Verhulst brachial mit dem Aufwachsen im Waisenheim ab.
Vor ein paar Jahren, als Dimitri Verhulst ein Haus am Rande eines Tales "voll schweigender Bäume" bewohnte und gelegentlich zum Fernglas griff, wurde er Zeuge eines Suizids. Er sah, wie eine Frau von einer hohen Brücke sprang. In innerer Monologform reflektiert er die Tragödie und erlebt schreibend den Schrecken aufs Neue. Wie er aufschrie, an den Ort des Geschehens raste und die unverletzt wirkende Leiche als Erster fand. Eine Meldung in der Lokalzeitung sollte seine Vermutung bestätigen. Die Selbstmörderin, ein Ex-Heimkind, eine junge Mutter. "Es überraschte dich nicht, du hättest schwören können, dass du dieses eigentlich bedeutungslose Detail bereits kanntest, als du sie in die Tiefe stürzen sahst."
Heimkinder, das sind "Unerwünschte".Dimitri Verhulst, 44 Jahre alt, ist in Heimen und bei Pflegeeltern aufgewachsen. Die Liebe zur Literatur und der Wunsch, sich in eigenen Worten auszudrücken, lesen wir, habe ihn vor dem Abgleiten in die Kriminalität bewahrt. Das Ruppige seines erzählerischen Tons, das Hinschleudern von Gemeinheiten und die Entschiedenheit, mit der er die Selbstsucht unfähiger Eltern und das ausweichende Gerede vieler Erwachsener angeht, findet sich in all seinen Büchern. Das Brachiale und der Sarkasmus sind dem unbedingten Willen geschuldet, als "Kind von Ramsch" zu überleben.
Eine Freundin nahm sich durch einen Fenstersprung das Leben
Der Selbstmord der jungen Mutter, die im selben "Haus Sonnenkind" gelebt hatte wie Jahre zuvor Dimitri Verhulst, weckte die Erinnerung an eine Freundin, die sich im Heim durch einen Fenstersprung das Leben genommen hatte. Verhulst durchlebt die Totenmesse für das Mädchen Gianna, mit der er als Jugendlicher heimlich Sex hatte. Alle Zöglinge seien besessen von Sex gewesen. "Zuneigung, die erfuhrt ihr zwischen den Beinen." Wurde ein Mädchen schwanger, fuhr der Sonnenkind-Direktor es "gegen die Dekrete seines Papstes" in die Klinik. "Montag - Abtreibungstag. Und abends Salzkartoffeln mit Rosenkohl." Eine Handvoll Leute war zum "Requiem für eine Fotze" gekommen. Niemand stimmte in den pastoralen Gesang ein, und der Erzähler, der der Kirche Verrat an den Heimkindern vorwirft, kommentiert die zur Messe gehörenden Psalmen mit ätzender Verachtung. Zwischen die frommen Gebete und Lieder ruft er die ganze Verlorenheit der Unerwünschten wach.
Hart zu ertragen ist die emotionale Verrohung, für die Verhulst im Text "Die Ankunft am bleichen Morgen" Worte findet. Auch diese Fallgeschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Verhulst hat einen dramatischen Dialog für ein junges Elternpaar – ehemalige "Sonnenkind"-Zöglinge - verfasst, das seine kleinen Kinder in einem Hotel umgebrachte. Ein Chor aus Geschworenen kommentiert die Einlassungen der Soziopathen. Verhulst denunziert die krude Logik der Mörder, die töten, weil sie ihre Kinder vor einem Leben in einer Pflegeeinrichtung bewahren wollen, und zugleich spricht er ein abschließendes, vernichtendes, bewusst überzogenes Urteil über Kinderheime. Sie gebären offenbar nichts als den Tod.