Coming-of-age-Groteske

09.06.2011
Dimitri Verhulst - gefeiert als "der Roddy Doyle der flämischen Literatur" - baut von Buch zu Buch an seinem Kosmos: kleine miese Figuren in schäbigen Verhältnissen, Komik und Tragödie, hoffnungslos, aber nicht ernst. So auch in seinem jüngsten Roman: "Die letzte Liebe meiner Mutter" ist eine garstige coming-of-age-Groteske, der just das coming of age, das Erwachsenwerden, fehlt.
Die erzählte Zeit umfasst nur ein paar Tage im Leben des elfjährigen Jimmy Vos und ein paar Minuten 80 Jahre später. Der erste Teil ist auf das Jahr 1982 zu datieren. Folglich, und absurderweise, spielt der zweite Teil im Jahr 2062. Dazwischen - nichts. Und vom Davor gerade soviel an Rückblenden, dass man beim Lesen unter Dauerspannung bleibt.

Jimmys Mutter Martine Withofs steppt Kunstledersättel für Motorräder. Glück gibt es in ihrem Leben nur als kurze, serielle Auszeit, wenn "Home is where my children cry" läuft und der Fernseher funktioniert. Das Höchste, was für sie drin ist, ist die Abwesenheit von Unglück, und die hat sie endlich geschafft. Sie hat sich und den Sohn losgerissen vom saufenden, prügelnden Kindsvater. Aber plötzlich tritt das Unerhörte ein - die Aussicht auf echtes, nämlich: Liebesglück. Es heißt Wannes Impens, ist Arbeiter bei VW und müsste eigentlich gottsfroh sein, überhaupt eine Frau gefunden zu haben. Aber darf ein Mann das zugeben? Nicht wenn er ein aufgeblasener, aufwärtsstrebender Spießer ist wie Wannes, den auch Duftwolken von Paco Rabanne keinen Hauch attraktiv machen.

Koordinaten für kreuzunglückliche Kindertage: Jimmys Lage eskaliert zur Katastrophe während der ersten "Familienferien" - mit Reisebus samt -gruppe in den Schwarzwald. Nicht nur, dass Wannes plötzlich Vater genannt werden will, um den Mitreisenden "heile Familie" vorzugaukeln. Nicht nur, dass Jimmy bei Héloïse nicht so ankommt, wie er gern würde. Er langweilt sich entsetzlich. Er ist das fünfte Rad an einem Wagen, den er sowieso für eine Fehlkonstruktion hält. Und dann kommt raus, dass seine Mutter ein Kind von diesem Wannes erwartet - ein gewolltes obendrein. Jimmy erwägt, Philosoph zu werden, hängt aber erstmal nur mit den Händen in einem steilen Schwarzwälder Felswand. Ende einer Kindheit.

Atmosphärisch knüpft Verhulst an seine Novelle "Madame Verona steigt den Hügel hinab" an. Bei aller exkrementellen Drastik, aller galligen Freude an zwischenmenschlichen Mies- und Fiesheiten - dieser Roman ist kein hinreißend grobianistischer Karneval wie "Die Beschissenheit der Dinge" und kein brüllkomischer Wutanfall über die vermaledeite Menschheit wie "Gottverdammte Tage auf einem gottverdammten Planeten". Er erzählt ruhiger, mit zarteren, melancholischen Tönen, aber nie ohne das intelligent inszenierte Lachen, das einem trotz aller Beklemmung Luft zum Atmen verschafft. Dank der kongenial funkelnden Übersetzung, wieder von Rainer Kersten, ist Verhulst auch auf Deutsch einfach zum Heulen - komisch.

Besprochen von Pieke Biermann

Dimitri Verhulst: Die letzte Liebe meiner Mutter
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
Luchterhand Verlag, München 2011
192 Seiten, 16,99 Euro