Digitaler Blackout

Wenn die Welt plötzlich offline ist

Globus und Fiberkabel-Optik (Illustration)
Die Welt ist umspannt mit einem Netz von Datenkabeln - ein sensibles System © imago stock&people
Von Johannes Nichelmann · 20.09.2018
Keine E-Mails, keine Notrufe, kein Strom, kein Trinkwasser: Ein längerer Totalausfall des Internets könnte die Welt ins Chaos stürzen. Wie gut wären wir auf einen solchen Fall vorbereitet? Und wie realistisch ist die Gefahr eines globalen Internetcrashs?
New York, Manhattan. Ich bin für ein paar Tage in der Stadt und habe mich in eine Wohnung eingemietet. Wie sich direkt nach der Ankunft herausstellen soll: ein Fehler. Denn hätte ich gewusst, dass das Internet hier nicht funktioniert, hätte ich mir eine andere Bleibe gesucht.
Alle Lampen am Router leuchten. Aber es kommt einfach kein Internet raus. Wenn ich jetzt einfach mein mobiles Internet benutzen wollen würde, dann würde das für 50 MB drei Euro kosten. Und 50 MB sind sehr schnell aufgebraucht. Das heißt, ich muss jetzt also für jede WhatsApp-Nachricht, für jede E-Mail, für jeden Mist zum Café rennen, um da ins WiFi zu kommen. Oh, funktioniere bitte!
Eine Woche ohne Internet. Ich bin Journalist, und ohne Netz kann ich nicht arbeiten. Ich verplempere einen ganzen Abend damit herauszufinden, warum das WiFi nicht funktioniert. Die Besitzerin der Wohnung meint, sie habe nie Probleme gehabt. Ich könne aber irgendeinen Service anrufen, der dann irgendwann vorbeikommt. Vielleicht am nächsten Tag. Vielleicht auch nie.

"Die Wall Street wäre ausgeschaltet"

Ich denke darüber nach, was wäre, würde das Internet für alle ausfallen. Hier in New York. In Berlin. In Singapur oder Sydney. Ich rufe David Belson an und erzähle ihm von meinem Gedankenspiel. Er ist Senior Director of Internet Research and Analyses bei einem der größten Softwareherstellern der Welt, dem US-Konzern Oracle. Er und seine Kollegen beobachten und analysieren jeden Winkel des Internets.
"Darüber möchte ich nicht einmal nachdenken", sagt David Belson. "Gerade New York – die Stadt ist ein Medienzentrum, ein Finanzzentrum. Die Wall Street wäre ausgeschaltet!"
Alles nur eine Fiktion?
Matthias Wählisch: "Es gibt Pläne, es gibt Gruppen, die sich damit beschäftigen, wie wir damit umgehen, wenn das Internet flächig ausfällt."
Gäbe es Auswirkungen auf die Wirtschaft?
Aminata Turay: "Es gab keine Verbindung mehr. Arbeiten war nicht mehr möglich."
Wie stünde es um unsere Sicherheit?
Scott Borg: "Die NATO will regelmäßig darüber informiert werden."
Sind wir vorbereitet? Fast 3,5 Milliarden Menschen sind mit dem Netz verbunden – das ist gut die Hälfte der Weltbevölkerung.
Das hier ist eine globale Erzählung über den Tag X. Sie führt uns durch Europa, Afrika und die USA.

"Das ganze Land war offline"

April 2018, Sierra Leone. Freetown. Entlang der westafrikanischen Küste sind gleich sechs Länder von einem massiven Internetausfall betroffen. Für ein bis zwei Tage geht nichts mehr. Ein Ereignis, von dem die Leute noch heute sprechen. Auch der 35-Jährige Journalist Mohamed Kabba. Er arbeitet für die Tageszeitung "Awoko".
"My name is Mohamed Kabba, I am a Sierra Leonean journalist. I work for 'Awoko' Newspaper. I write on issues across the country."
Reporter: "So earlier this year you faced this internet black out. What happened?"
Mohamed Kabba: "Das ganze Land war offline. Erst drei Tage, nachdem alles wieder in Ordnung war, gab es Informationen von der Regierung. Wir konnten hier weder telefonieren, noch hatten wir Zugang zum Internet."
Besonders delikat: Der Vorfall ereignet sich während der Wahlen. Die damals regierende Partei ordnet eine analoge Auszählung der Stimmen an. Und das dauert.
"Vor der Wahl gingen eine Menge Storys rum. Es hieß, dass die Regierung WhatsApp und die sozialen Medien offline nehmen will."
Das Bild zeigt den Politiker Julius Maada Bio aus Sierra Leone bei der Stimmabgabe am 31.3.2018.
Bei der durch den Internetausfall verzögerten Präsidentschaftswahl 2018 in Sierra Leone gewann mit Julius Maada Bio der Kandidat der Opposition.© AFP / Issouf Sanogo
Beweise gibt es dafür bis heute nicht. Über die technische Ursache werden wir später mehr hören.
Sie haben mit einigen Menschen über deren Erfahrungen mit dem Blackout geredet. Wen haben Sie getroffen?
Mohamed Kabba: "Aminata. Sie ist Geschäftsfrau."
Aminata Turay: "Normalerweise stehe ich im Kontakt mit meinen Geschäftspartnern in Liberia, Ghana, Kenia, China und Dubai. An diesem Tag war das unmöglich. Mein Geschäft stand still. Darauf waren wir definitiv nicht vorbereitet. Ich habe nicht einmal mit meiner Mutter telefonieren können, sie lebt in der Provinz. Das war schlimm für unsere Geschäfte. Ich bete dafür, dass die Verantwortlichen so etwas künftig nicht noch einmal tun werden."

Ebola als Motor der Digitalisierung

Aminata Turay hat Geld verloren. Die Ebola-Krise sorgte vor einigen Jahren dafür, dass sich Sierra Leone immer weiter digitalisiert. Persönliche Begegnungen müssen wegen der hohen Ansteckungsgefahr umgangen werden. Statt Banken zu besuchen oder Geldscheine auszutauschen, werden mobile Zahlungsmethoden immer populärer und bringen immer mehr Menschen ans Netz. Dennoch hat nur knapp drei Prozent der Bevölkerung Zugang. In Deutschland sind es 88 Prozent.
Wie abhängig ist das normale Leben der Menschen in Sierra Leone vom Internet?
Mohamed Kabba: "Schauen wir auf Edward John. Er ist einer von vielen Betreibern eines Internet-Cafés. Für das tägliche Leben, für die Versorgung der Familie braucht er natürlich ein funktionierendes Internet."
Edward John: "Der Tag war wirklich schlimm für mich."
Mohamed Kabba: "Wie hast Du das Deiner Familie erklärt?"
Edward John: "Am Ende des Tages musste ich ihnen das irgendwie beibringen. Ich musste ihnen klar machen, dass dieser Tag die Hölle für mich war."
Sierra Leone zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Das wenige Geld, das Edward John in seinem Internetcafé einnimmt, gibt er am selben Tag wieder aus, um seine Familie zu ernähren. Deswegen lautet die Rechnung: Kein Internet, kein Essen. Dennoch ist das Land insgesamt längst nicht so abhängig vom Netz wie Deutschland.

Die Grundstruktur des Internets ist dezentral

Hier scheint das gesamte öffentliche Leben vom Datenverkehr abzuhängen. Selbst für Menschen im Allgäu oder in Vorpommern, die bis heute keinen Zugang zu einem Breitbandanschluss haben. Ich habe mit Katastrophenschützern und IT-Fachleuten verschiedener Regierungen über die möglichen Auswirkungen solch einer Katastrophe gesprochen. Aber zunächst will ich verstehen, wie das Internet aufgebaut ist. Matthias Wählisch ist Professor an der Freien Universität Berlin. Er leitet die Arbeitsgruppe für Internettechnologie:
"Das Internet ist relativ stark verwundbar. Insofern gibt es eine gewisse Wahrscheinlichkeit, und die ist vielleicht auch höher, als man es auf den ersten Blick denkt. Also, wenn man über das Internet redet, muss man sich erst die Frage stellen, über welche Schicht des Internets man redet. Also, reden wir tatsächlich über Kabel, das ist dann die physische Schicht, oder reden wir über die logischen Verbindungen? Auf beiden Ebenen ist das Internet angreifbar. Richtig ist wohl auch, dass das Internet im Vergleich zum Telefonnetz viel stärker vermascht ist. Im klassischen Telefonnetz haben Sie eine Punkt-zu-Punkt-Verbindung und das ist im Internet nicht so. Server, Endgeräte sind über das Backbone des Internets mehrfach unter Umständen angebunden. Wenn eine Verbindung, sei es eine logische oder auch eine physikalische, wegfällt, dann können die Pakete über einen anderen Weg zugestellt werden."
Es gibt also viele unzählige Knotenpunkte. Fallen drei Knotenpunkte aus, die üblicherweise funktioniert hätten, ist der vierte in der Lage zu helfen. So geht es weiter, bis mein Datenpaket am Ziel angekommen ist. Vorausgesetzt, es gibt genügend funktionierende Knotenpunkte.
"Nichtsdestotrotz gibt es im Internet natürlich auch neuralgische Punkte, wenn die wegfallen, ist natürlich nicht sofort das ganze Internet weg, aber Sie haben dann vielleicht das Problem, dass das Internet sich anfängt zu partitionieren. Wenn Sie davon ein paar Punkte, nicht nur einen, sondern mehrere dann auf einmal attackieren, können Sie es schon schaffen, dass ganze Städte abgehängt werden."
Und das hätte Folgen…
"Überlegen Sie sich, wie heute Güter durch die Gegend verteilt werden. Dann ist das alles Just-In-Time. Keiner lagert mehr etwas. Das kostet alles viel zu viel Geld. Bei Bedarf werden die Güter geliefert. Die Koordinierung dessen basiert auf dem Internet. Wenn das Internet nicht geht, kann ich nicht mehr ohne Weiteres meine Güter von A nach B liefern. "

Gewährleistung der staatlichen Sicherheit in Gefahr

Bonn. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, BBK. Hier werden sämtliche dramatische Szenarien durchgespielt, die auf Deutschland zukommen könnten. Die Behörde ist dem Bundesinnenministerium unterstellt. Im Jahr 2013 lässt dieses eine gutachterliche Stellungnahme erstellen. Veröffentlicht von Wikileaks. Darin ist zu lesen:
"Aufgrund der erheblichen Abhängigkeit staatlicher Institutionen von lnformations- und Kommunikations-Infrastrukturen, IuK, sind diese als sicherheitskritisch anzusehen. Eine Störung oder ein Ausfall kann, insbesondere in Krisensituationen, die Handlungsunfähigkeit des Staates nach sich ziehen und damit die Gewährleistung der staatlichen Sicherheit gefährden."
Die elektronische Anzeigentafel der Bahn im Hauptbahnhof Leipzig (Sachsen) zeigt am 13.05.2017 nur den Schriftzug «Bitte Aushangfahrplan beachten». Die weltweite Welle von Cyber-Attacken hat auch die Deutsche Bahn getroffen.
Cyber-Attacken erreichen auch die Deutsche Bahn: Hier eine leere Anzeigetafel im Bahnhof Leipzig mit dem Schriftzug: "Bitte Aushangfahrplan beachten!"© dpa-Zentralbild / Jan Woitas
Die Gefährdung der staatlichen Sicherheit. Dr. Wolfram Geier ist leitender Regierungsdirektor, Chef der Abteilung Risikomanagement und internationale Angelegenheiten des BBK. Ich will wissen, was im Fall der Fälle auf Deutschland zukäme.
"Gehen wir mal so ein Szenario durch, wir hätten in einem erheblichen Teil Deutschlands einen Internetausfall. Wir hätten die großen Probleme im wirtschaftlichen Bereich. Für viele Unternehmen wäre dann erstmal das Arbeiten so nicht mehr möglich. Viele Finanztransaktionen wären nicht mehr möglich. Also, Banken wären ganz massiv in ihrem Geschäftsablauf betroffen."
In der Schweiz gab es vor einigen Jahren Berechnungen, wonach durch einen Totalausfall 25 Prozent der Unternehmen Insolvenz anmelden müssten, sollte der Schaden nicht binnen kürzester Zeit behoben werden. Eine Bank hätte eine Überlebensdauer von zwei, ein Handelsunternehmen von drei Tagen.

Auch die Trinkwasserversorgung hängt am Internet

Aber das Internet hat auch Einfluss auf ganz andere lebensnotwendige Bereiche.
Hängt das Wasser am Internet mit dran?
Wolfram Geier: "Die Trinkwasserversorgung ja, die reguläre Trinkwasserversorgung. Die Nottrinkwasserversorgung nicht. Aber die Trinkwasserversorgung ja. Es gibt eben internetbasierte Kontrolldienste und die laufen auch automatisch ab. Da ist jetzt in den Leitwarten zum Teil auch kein Mensch mehr. Das ist alles voll automatisiert. Und wenn es dort zu einem Internetausfall käme, wäre die Versorgungsleistung als solche zunächst nicht betroffen, aber zum Beispiel das Kontrollsystem würde für eine gewisse Zeit dann ausfallen können. Das wäre natürlich dann ein Problem, wenn es dann in der Zeit zu einer Verunreinigung käme."
Außerdem, erzählt mir Wolfram Geier, könnten Großteile der Bevölkerung nicht mehr informiert werden. Fernseh- und Radioprogramme werden von vielen mithilfe des Internets empfangen. Und in Ländern wie Norwegen ist der UKW-Betrieb bereits eingestellt worden, während längst nicht alle auf Digitalradio umgestellt haben.
"Wir sind gewohnt, dass wir unseren Lichtschalter betätigen und es hell wird. Wir sind gewohnt, dass wir unseren Computer einschalten und eben eine E-Mail schreiben können. Viele Menschen sind schon sauer, wenn eben mal eine Stunde der E-Mail-Verkehr gestört ist. So. Wenn es jetzt tatsächlich zu einem langen, flächendeckenden Ausfall käme, hätte das so viele Wechselwirkungen in hochkomplexen, sehr sicheren Gesellschaften, auf die die Öffentlichkeit, der Bürger eben nicht eingestellt ist. Das führt dann dazu, dass möglicherweise eine Katastrophe überhaupt erst entsteht, weil eben die Bevölkerung mit so einer Situation nicht umgehen kann."

Notfallplan fürs Krankenhaus

Ursachen für einen Totalausfall des Internets könnten Cyberangriffe oder Naturkatastrophen sein. Gerade letztere haben womöglich viel mehr Probleme zur Folge als nur ein defektes Internet. Wie sähe im Fall der Fälle die Situation in den Krankenhäusern aus? Fast alle Versorgungsprozesse stützen sich auch dort auf IT-Dienste und -Anwendungen. Ich will mit einer Vertreterin oder einem Vertreter der Berliner Charité sprechen. Hier werden im Jahr allein knapp 75.000 Operationen durchgeführt. Leider hat niemand Zeit für ein Interview. Aber Martin Peuker, der Chief Information Officer, schreibt mir auf die Frage, ob die Charité in der Lage wäre, bei einem längeren Netzwerkausfall Patientinnen und Patienten zu versorgen, diese Antwort:
"Bei einem Netzwerkausfall werden die Versorgungsdienstleistungen entsprechend ihrer Dringlichkeit behandelt. Bei einem längerfristigen Ausfall greifen die papierbasierten Notfallprozesse, die vorbereitete Notfallbögen nutzen. Diese müssen allerdings nach Wiederverfügbarkeit manuell nachgetragen werden. Viele bildgebende Systeme ermöglichen eine Auswertung direkt am Gerät, sodass auch damit eine gewisse Zeit überbrückt werden kann. Bei einem längeren Netzwerkausfall könnte aber die Versorgungsqualität nicht aufrechterhalten werden, sodass geplante elektive Operationen verschoben und die Kapazität der Notaufnahme reduziert werden müsste. Die stationäre Behandlung könnte mit Einschränkungen aufrechterhalten werden, indem man auf die Papierakte zurückgreifen müsste."
Wenngleich dieses Netzwerk, so lässt es die Charité ausrichten, "im weitesten Sinne" ein Intranet sei, also nur innerhalb des Hauses zirkuliere. Aber dieses Beispiel zeigt deutlich, wie abhängig wir von unseren IT-Netzwerken sind. Nicht nur in Krankenhäusern, sondern in unserem gesamten Alltag.

Sind wir alle onlinesüchtig?

Meine Zeit in New York City ist vorbei. Was soll ich sagen? Der Techniker, der das W-Lan wieder zum Laufen bringen sollte, ist nicht erschienen. Ich hatte ziemlich schlechte Laune und war extrem gereizt. Zurück in Berlin bin ich mit Gordon Emons verabredet. Er leitet die Beratungsstelle "Lost in Space" für Menschen mit Onlinesucht. Sie wird von der Caritas betrieben und 95 Prozent der Klienten sind männlich. Ich traue mich nicht, ihm davon zu erzählen, wie sehr mich die Internetlosigkeit in New York fertig gemacht hat, und versuche das Gespräch etwas, ja, softer zu starten:
Wo fängt den dieses Onlinesüchtige an? Ich würde jetzt sagen, wenn mein Telefon, also ich habe es vorhin, war in einem Café frühstücken, es war in der Gesäßtasche und ich habe es nicht gefunden. Das löst bei mir schon leichte Panik aus. Ich würde sagen, mein gesamtes Umfeld hat die gleichen Symptome.
Gordon Emons: Das kenne ich auch. Der Griff, oh Gott, wo ist es und sich dann unwohl zu fühlen, wenn man es nicht gleich wieder zur Hand hat. Ich glaube, man muss hier unterscheiden, bei dem Verhalten, wo treten dann massive Folgen auch auf. Einfach auch im Hinblick darauf, dass unsere Welt einfach digitalisiert ist und sich auch das Leben dahingehend verändert hat. Wir sind in diese Welt eingebunden. Ob wir alle direkt süchtig sind, das würde ich in Frage stellen, weil schon auch bestimmte Kriterien vorhanden sein müssen, um von einer Sucht zu sprechen, wie beispielsweise, dass man sich auch aus dem sozialen Leben immer weiter zurückzieht. Dass man Angehörige anlügt, um die virtuelle Nutzung herunterzuspielen.
Reporter: Kennen Sie das? Wenn man mit Freunden im Café sitzt und man unbedingt auf sein Handy gucken will, ob es neue Nachrichten gibt und man sagt, oh, ich geh mal kurz auf Klo oder so, nur um kurz aufs Telefon zu schauen.
Gordon Emons: Ich mach es meistens andersrum, dass ich warte, bis derjenige auf Toilette geht und dann der Griff aufs Smartphone, ob es wichtige Nachrichten ab. Die Angst etwas zu verpassen.
Im Berliner Lustgarten sitzen junge Menschen auf dem Boden und starren auf die Displays ihrer Smartphones.
Was würden diese jungen Menschen im Berliner Lustgarten machen, wenn das Internet ausfiele? © imago / Ralph Peters
Wenn wir per Definition womöglich also nicht alle onlinesüchtig sind, eine gewisse Abhängigkeit besteht schon. Allerdings: bei einem Ausfall des Internets wären wir alle zugleich betroffen – niemand könnte irgendwas verpassen. Zu Gordon Emons in die Beratungsstelle kommen vor allem Menschen, die ihre Finger nicht mehr von Computerspielen lassen können. Die meisten dieser Games würden ohne das Internet ebenfalls nicht mehr laufen. Denn der Reiz besteht darin, mit anderen Spielerinnen und Spielern auf der ganzen Welt zu zocken. Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung sollen, laut Emons, wirklich per Definition abhängig sein. Ein Totalausfall des Internets käme für diese Menschen einem kalten Entzug gleich.
"Sodass eben depressive Verstimmungen auftreten können. Vielleicht ein Unwohlsein, Schwitzen, Schlafstörungen. Was Betroffene auch berichten, wenn die sich bei uns von der Abstinenz von einem bestimmten Spiel entscheiden. In dieser Form, wenn das überraschend kommen würde, ohne Vorbereitung, wäre das für sie ein enormer Einschnitt und eine Unsicherheit: was mach ich jetzt?"
"Lost in Space" ist übrigens die einzige Beratungsstelle ihrer Art in Berlin. Betroffene können sie, abgesehen von einem Flyer, nur über das Internet finden.

Ein zerstörtes Unterseekabel legt Sierra Leones Internet lahm

Auch in Westafrika hat der Ausfall des Internets massiven Einfluss auf einzelne. Wie kam es im Frühjahr 2018 in Sierra Leone und den anderen Nationen zu dem Totalausfall? Auch wenn die Infrastruktur dort nicht so stark abhängig vom Internet ist wie jene der westlichen Industrieländer, könnte das auch in Deutschland passieren? Könnte auch hier von einem auf den anderen Tag die Onlinewelt weg sein?
"Also, für meine Kollegen und mich ist das ein ganz normaler Tag im Internet."
David Belson. Analyst des US-Konzerns Oracle.
"Ausfälle sehen wir jeden Tag. Die Gründe sind vielfältig. Manchmal sind es zerstörte Kabel, manchmal fehlt der Strom, manchmal legen es die Staaten selbst lahm. Für uns war das in Sierra Leone also nichts Außergewöhnliches. Abgesehen davon, dass so viele Länder betroffen waren. Mehr Transparenz wäre hilfreich. Gibt es Probleme mit dem Internet, wäre es hilfreich, wenn die Telekommunikationsanbieter, aber auch die Betreiber der Unterseekabel, mehr Informationen veröffentlichen würden. Dann könnten wir die Ursachen besser verstehen."
Auch David Belson weiß nicht, was genau im April 2018 an der Küste Westafrikas passiert ist. War es ein Unfall oder Sabotage, um die Wahlen in Sierra Leone zu beeinflussen? Fest steht nur: ein Unterseekabel wurde zerstört. Diese Kabel verbinden die Kontinente. Durch sie ist es möglich, dass E-Mails aus China in Sierra Leone ankommen. Das Problem: es gibt nur ein einziges Kabel, von dem das Internet in Sierra Leone abhängt.
Porträt Johannes Nichelmann, Autor und Redakteur beim Deutschlandradio
Johannes Nichelmann, Autor und Redakteur beim Deutschlandradio© Niklas Vogt
Zum Vergleich: Deutschland ist mit zehn Unterwasserleitungen verbunden und wird außerdem über den Landweg versorgt. Großbritannien hängt an knapp 50 solcher Kabel. Erst kürzlich hat das britische Militär bekannt gegeben, das es sich noch intensiver dem Schutz dieser Unterseekabel widmen will. Ein erfolgreicher Angriff durch andere Staaten würde das Leben auf der Insel massiv einschränken. Die Verwundbarkeit der Kabel ist groß. Auch ohne böse Absichten.
David Belson: "Sie werden vor den ganz gewöhnlichen Gefahren durch verschiedene Schutzschichten geschützt. Gegen Haie oder Wassereinbruch. Die größte Gefahr aber geht von Schiffen aus. Verwundbar sind aber auch die Anlegeplätze, dort wo die Kabel an Land kommen. Oft landen hier nämlich mehrere Kabel an einem Anlegeplatz. Wenn also ein Angreifer solch eine Station zum Ziel hat, könnte es zu Unterbrechungen kommen."

Wie verwundbar ist die Infrastruktur?

Deutschlands Online-Infrastruktur ist so gut aufgestellt – durch ein paar defekte Kabel werden wir nicht offline gehen. Aber wer sagt, dass nur ein paar wenige Kabel kaputt gehen können?
Scott Borg: "Ich weiß, in Ihrer Sendung geht es um die Frage, welche Gefahren ein Ausfall des Internets hätte. Aber das ist nichts, worum sich Leute wie ich Sorgen machen! - Mein Name ist Scott Borg, ich kümmere mich um die wirtschaftlichen Aspekte der Internetsicherheit. Ich arbeite schon lange in diesem Feld. Ich habe zehn Jahre vor allen anderen damit begonnen, mich damit beschäftigen. Außerdem kenne ich mich ziemlich gut mit der technischen Seite aus. Mein Know-how reicht über so ziemlich jeden Aspekt dieses Themas."
Scott Borg ist Amerikaner. Er lebt in Minneapolis und ist Kopf der United States Cyber Consequences Unit, einer Non-Profit-Organisation. Einem Think Tank, der lange exklusiv für die US-Regierung gearbeitet hat. Heute werden Borg und sein Team nach eigener Angabe von der NATO und den Regierungen aus beispielsweise Deutschland und Großbritannien angerufen.
"Der Think Tank wurde gegründet, um herauszufinden, wie verwundbar die kritische Infrastruktur ist. Es geht um Elektrizität, um Kommunikation, das Bankwesen und so weiter. Solche Unternehmen, zumindest in den USA, wollen Informationen dieser Art nicht mit der Regierung teilen. Unsere wichtigste Mission war es also herauszufinden, welche Art von Attacken es geben könnte, wie schwer die durchzuführen seien und welche Konsequenzen sie hätten."

Drei Angriffsflächen, um das Internet auszuschalten

Scott Borg hat unzählige Fälle ausgewertet, bei denen das Internet lokal für längere Zeit nicht zur Verfügung stand. Er nennt mir drei Gründe, warum das gesamte Szenario, das in dieser Sendung für einen längeren Shutdown des Internets in der westlichen Welt entworfen wurde, seiner Ansicht nach nutzlos ist.
"Es gibt drei Wege, über die man versuchen kann, das Internet auszuschalten. Erstens: über die Software. Zweitens: über die Hardware. Drittens: über den Strom."
Nummer eins, die Software: Borg sagt, dass es schon machbar wäre, sich in die Router oder in wichtige Server einzuhacken und große Teile des Internets lahmzulegen.
"Aber! Die Firmen, die Router herstellen, und die Internetanbieter verfügen über eine große Anzahl an extrem klugen und brillanten Leuten, die alles wieder zum Laufen bringen können. Im schlimmsten Szenario müssen sie eine neue Software aufspielen. Dazu sind sie ohne Weiteres in der Lage. Also, das Internet mit einer Attacke auf die Software für mehr als ein paar Stunden lahm zu legen, wäre ziemlich schwierig. Für mehr als zwei oder drei Tage, kaum vorstellbar."
Nummer zwei, die Hardware: Scott Borg geht davon aus, dass nicht einmal ein nuklearer Angriff das Internet zur Strecke bringen könnte.
"Das Internet ist dezentral angelegt. Es physikalisch anzugreifen, kann einzig lokale Auswirkungen haben. Wenn man eine Komponente des Internets herausnimmt, leitet es all den Verkehr automatisch um. So, das lässt nur die dritte Option zu. Wenn Sie das Internet für eine lange Zeit ausschalten wollen, dann müssen Sie die Stromversorgung stören. Mich haben hochrangige NATO-Vertreter und Vertreter anderer Staaten gefragt, wie ich das Internet ausschalten würde. Ich antworte immer: ich würde nicht direkt das Internet angreifen, sondern die Elektrizität. Wenn man die Elektrizität für längere Zeit, vielleicht einen Monat, ausstellt, dann ist ein fehlendes Internet unser allerletztes Problem."

Know-how der Offline-Ära reaktivieren

Der große Internetcrash scheint also auszubleiben. Ich erzähle Scott Borg von meiner Recherche. Selbst wenn das Internet nur für einen Tag stehen bleiben würde: Hätte das keine Auswirkungen? Ich meine, hat mir Wolfram Geier vom Katastrophenschutz nicht erzählt, dass selbst die Kontrollmechanismen in Wasserwerken internetbasiert sind?
"Momentan werden all diese Dinge über das Internet gesteuert. Aber es gibt immer Wege, sie auch ohne das Internet zu steuern. Eine Sache, um die meine Kollegen und ich uns sorgen, ist, dass die Leute, die am besten wissen, wie man die Systeme ohne das Internet bedient, die Leute sind, die sich schon in den 1980er-Jahren darum gekümmert haben. Vor der Automatisierung. Gerade gehen viele von ihnen in den Ruhestand. Wir ermutigen Unternehmen mit kritischer Infrastruktur Schulungen zu institutionalisieren, die den Verantwortlichen erklären, wie man Systeme mit Zuhilfenahme von weniger Hightech bedient."
Das bedeutet: Wir sollten hoffen, dass Experten weiterhin in der Lage sind, auch ohne onlinebasierte Kontrollmechanismen unser Trinkwasser auf Schadstoffe untersuchen können.
Wäre es nicht ein Problem für Geschäfte wie Amazon oder Apple, sollte das Internet in Frankreich oder Deutschland auch nur für kurze Zeit ausfallen? Das würde Millionen kosten oder nicht?
Scott Borg: "Nein. Das würde es nicht. Es ist schon passiert, dass große Internethändler wie Amazon für kurze Zeit aus verschiedenen Gründen offline waren. Wenn sowas geschieht, schreiben Journalisten, dass Amazon diese oder jene enorme Summe verloren hat, weil das dem entspräche, was sie innerhalb von zwei Stunden normalerweise einnehmen. Aber sie wickeln ihre Geschäfte einfach später ab. Sind Amazon oder andere Händler für ein paar Stunden oder sogar ein bis zwei Tage offline, dann erhalten sie dieselben Bestellungen, nur eben später. Ungeduldige Menschen gehen woanders einkaufen. Sollte ein Händler also doch etwas weniger Geschäfte machen, würde die Wirtschaft insgesamt noch immer profitieren. Also: Ausfälle der großen Anbieter wären keine große Sache."
Scott Borg berichtet mir noch davon, dass bei einem seiner Fälle ein Unternehmen seine Mitarbeiter lange Zeit im Voraus gebeten habe, sich auf den Tag X vorzubereiten. Jeder sollte etwas zu tun haben, auch, wenn das Internet für ein paar Stunden oder Tage nicht zur Verfügung stehen würde.
"Wir fanden heraus, dass sich die Produktivität in dieser Firma während des vierstündigen Ausfalls gesteigert hat."

Ein Totalausfall wird wohl nicht stattfinden

Zurück in Bonn. Gerd Schabhüser ist der Vizepräsident des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnologie, BSI. Ich will von ihm wissen, wie er die Sensibilität der Unternehmen hierzulande einschätzt.
"Ja, ich bin mir da nicht ganz sicher, ob sich alle Firmen schon hinreichend robust aufgestellt haben. Insbesondere, was tun sie wirklich, wenn denn partielle Services ausfallen. Wir hatten ja in 2016 einen Angriff auf einen der großen Domainname-Service-Anbieter Dyn gehabt. Das führte dann zu großen Problemen bei Amazon, bei CNN, bei Netflix, bei Twitter und vielen mehr. Da hat man erst gemerkt, wie sehr man von den Service-Anbietern abhängig ist. Wenn man dann nur an einem hängt, dann kann das sehr starke Auswirkungen haben."
Besucher des Kongresses des Chaos Computer Clubs (CCC) spielen mit ihrem digitalem Spiegelbild.
Die gute Nachricht: Ein Totalausfall des Internets ist äußerst unwahrscheinlich. © picture alliance / dpa / Axel Heimken
Haben wir das Internet unter Kontrolle oder hat das Internet uns? Die Organisation unseres Alltags, unseres Lebens hängt an den Datenautobahnen. Ein längerer Totalausfall wäre verheerend. Aber der Totalausfall fällt vermutlich aus.
Gerd Schabhüser: "Also, für einen Gesamtausfall haben wir keine Notfallpläne in der Vorbereitung, weil wir davon ausgehen, dass das so unwahrscheinlich ist."
Alles hatte angefangen, als ich völlig verzweifelt in New York saß und aufgrund eines kaputten Routers nicht online gehen konnte. Ich hatte einen leichten Anflug von Panik. Wie sollte ich noch mitbekommen, was um mich herum passierte? Ich fragte mich: Was wäre, wenn wir alle von heute auf morgen für lange Zeit offline wären? Ich habe mit Experten auf der ganzen Welt gesprochen. Die schlechte Nachricht: Es würde Chaos herrschen. Die gute Nachricht: Es ist technisch gesehen äußerst unwahrscheinlich, dass wir offline gehen.
Zumindest in der westlichen Welt. Anders sieht es in Freetown, Sierra Leone, aus. Bei meinem Kollegen Mohamed Kabba.
Denken Sie, dass Sie auf den nächsten Fall vorbereitet sind? Gibt es Möglichkeiten, wie Ihre Zeitung beispielsweise ohne Hilfe des Internets erscheinen könnte?
"Was unser Medienunternehmen angeht, bin ich mir nicht sicher, weil ich mir nicht sicher bin, ob dieser Teil der Welt überhaupt auf einen weiteren Internetausfall vorbereitet ist."

Dieses Stück entstand in Kooperation mit ze.tt.

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