Digitale Heilsversprechen

Überlasst die Medizin nicht den Computern!

Ein Arzt erklärt seinem Patienten ein Röntgenbild.
Jeder gute Arzt wisse, dass Entscheidungen in der Medizin immer "zufallsbehaftet" seien, sagt Gerd Antes. Der Mathematiker warnt davor, dem Computer zu viele Kompetenzen einzuräumen. © imago/Westend61
Gerd Antes im Gespräch mit Ute Welty · 12.06.2018
Mit Smartphones und anderen technischen Geräten sammeln wir immer mehr Daten über den menschlichen Körper. Dies mache Diagnosen aber nicht verlässlicher, sondern bewirke das Gegenteil, sagt der Mathematiker und Biometriker Gerd Antes.
Ute Welty: Korrelation und Kausalität, das sind die zwei Begriffe, die jetzt wichtig sind für das Gespräch mit Professor Gerd Antes, und die es zu unterscheiden gilt. Zum Beispiel lässt sich statistisch durchaus eine Korrelation, ein Zusammenhang nachweisen zwischen Schuhgröße und Einkommen: Je größer die Schuhgröße, desto höher das Einkommen. Das bedeutet aber nicht, dass größere Füße ein höheres Einkommen verursachen, was eben eine Kausalität bedeuten würde, oder dass ein höheres Einkommen die Füße wachsen lässt. Was diese Unterscheidung für die Medizin bedeutet, das hat Gerd Antes untersucht. Der Mathematiker und Biometriker ist Kodirektor von Cochrane Deutschland – das wissenschaftliche Netzwerk will Entscheidungen im Gesundheitswesen verbessern. Guten Morgen, Herr Antes!
Gerd Antes: Schönen guten Morgen!
Welty: Heute geht in Zürich ein Symposium zu Ende, wo Sie einen Vortrag gehalten haben über eben diesen Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität, über den Unterschied zwischen dem Sammeln von medizinischen Daten und der medizinischen Studie. Was macht diesen Unterschied tatsächlich aus?
Antes: Sie haben es ja in der Einführung schon sehr schön auf den Punkt gebracht, und was gegenwärtig auf die Fachwelt, aber auch auf die Bevölkerung einprasselt, ist, dass wir mit unbegrenzten Daten diesen Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität mehr oder weniger vergessen können. Wenn wir genug Daten haben, dann wird die Korrelation, also nur der Zusammenhang zur Kausalität, und das ist einfach falsch, aber es wird überall verbreitet.

"Weil damit natürlich viel Geld zu verdienen ist"

Welty: Ist das so eine Idee von Masse statt Klasse?
Antes: Das ist auf der einen Seite Masse statt Klasse, nur da es aus berufenen Mündern kommt, wird das auch vertuscht. Wir sehen teilweise eine grenzenlose Naivität, die das nicht so klar verstehen will, wie Sie es gerade beschrieben haben, und auf der anderen Seite aber auch eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit, weil damit natürlich viel Geld zu verdienen ist.
Welty: Wer hat ein Interesse daran, dass die Bevölkerung bewusst getäuscht wird?
Antes: Na ja, zum Beispiel die Hersteller. Also wenn Sie jetzt mal hinschauen, was versprochen wird, dass wir irgendwie vielleicht in ein paar Jahren mit Mikrochips zugenagelt sind, die alles sofort weitermelden und dann sofort die Reaktion kommt, gesundheitlich, dann müssen ja diese Sachen alle produziert werden, und da stecken Milliardenbeträge drin.
Welty: Aber die Frage ist natürlich berechtigt, warum es noch medizinische Studien braucht, wenn Daten en masse zur Verfügung stehen, wenn mehr als anderthalb Millionen Menschen in Deutschland zum Beispiel einen Fitness-Tracker tragen, der Bewegung, Schlaf und Puls misst.
Antes: Ja, die Frage ist sehr berechtigt, und die Antwort ist ganz klar: Dass diese Daten für die medizinischen Entscheidungen relativ wertlos sind.
Welty: Warum ist das so?
Antes: Ja, dazu müssten wir jetzt ein bisschen mehr Zeit haben wahrscheinlich, aber es ist tatsächlich so, Sie haben einfach irgendwie einen Vergleich zu vorher, aber Sie kriegen daraus nicht die zuverlässige Basis für die medizinischen Entscheidungen an dem Menschen. Wir kriegen damit Statistiken und können sehen, dass wir irgendwann fordern, der Mensch muss am Tag 10.000 Schritte machen, damit er seinen Kreislauf irgendwie auf Trab hält, aber wenn es jetzt darum geht, eine Entscheidung zu fällen zwischen einer Chemotherapie oder einer Chemotherapie und Bestrahlung, dann sind diese Daten weitgehend wertlos.
Welty: Okay, dann versuch ich es mal andersrum, Herr Antes: Welche Daten sind denn notwendig, um eine profunde medizinische Entscheidung treffen zu können?
Antes: Das sind Daten, die sehr gezielt genommen werden. Zum Beispiel eine maschinelle Bewertung eines Röntgenbildes kann eine wunderbare Unterstützung für den Arzt sein. Aber die Entscheidung, die auch ganz viele Nebenäste noch miteinbeziehen muss, die einer Maschine zu überlassen, dazu ist die Maschine heute noch viel zu dumm, weil sie nur genau da hinschaut, wofür der Mensch sie programmiert hat, und nicht nach nebendran. Und auch der Fitness-Tracker, der liefert ja nur die Daten, die er liefern soll. Das ist ganz nett, und ich finde es auch ganz interessant, mal zu sehen, was man tagsüber gemacht hat, aber darauf jetzt eine Entscheidung zu fällen, die dann auch noch eventuell – das ist ja auch schon in den Visionen drin – mehr oder weniger dann gleich automatisiert eine Fernapotheke beauftragt, ein Medikament zuzusenden, das, glaube ich, kann im gegenwärtigen Stadium nur schiefgehen.

"Es wird schon überlegt, wie man Mitgefühl programmieren kann"

Welty: Kann das auch gefährlich werden für die Patienten?
Antes: Extrem gefährlich natürlich. Wenn zum Beispiel an irgendeiner Stelle nur auf einen Punkt geschaut wird von einer Maschine und der Arzt – das gibt’s ja –, der sieht an der Körperhaltung, am Gesichtsausdruck irgendwie, was da los ist, und dann hat er vielleicht die Intuition und schaut ganz woanders hin und landet einen Volltreffer, und das ist ja auch bei einer Maschine völlig unmöglich. Und wenn man noch weitergeht, gegenwärtig wird schon überlegt, wie man jetzt Mitgefühl programmieren kann, und dann geht’s natürlich auch an unser Menschenbild und dann ist es noch eine ganz andere Gefahr, die weit über das Medizinische hinausgeht.
Welty: Inwieweit besteht auch das Risiko des umgekehrten Prozesses, dass sich der Mensch, in diesem Fall der Mediziner oder die Medizinerin, sozusagen in den Bann der Maschine und der maschinellen Entscheidung hineinziehen lässt, dass er vielleicht gar nicht mehr guckt, sondern sagt, das Röntgenbild, das CT, das MRT, das sieht soundso aus, und dann ist eigentlich klar, was passiert, und vielleicht andere wichtige Faktoren aus dem Blick geraten.
Antes: Die Gefahr ist sehr groß, die hat auch eine juristische Komponente. Deshalb, wenn da irgendwann juristische Sicherheit ist, der Maschine zu vertrauen, dann ist das noch mal ein ganz anderer Aspekt. Aber was ein guter Arzt nicht vergisst, ist, dass jede Entscheidung in der Medizin zufallsbehaftet ist. Es gibt nicht die hundertprozentige Sicherheit. Es gibt auf der anderen Seite aber Bücher, die heißen zum Beispiel "Das Ende des Zufalls", und das ist genau dieser große Konflikt, in dem wir gegenwärtig stecken. Der gute Arzt weiß, dass er immer irgendwie Entscheidungen in Unsicherheit fällen muss, und wenn er das bewusst macht, dann hat er auch das ganze Spektrum im Sinn.
Andere, und gerade auch die nächste Generation, die lässt mich teilweise schon irgendwie erstaunt draufschauen, was da passiert, wie die Ärzte jetzt genau versuchen, die Verantwortung auch an die Maschine abzugeben. Und dann kommt alles wieder zurück, was wir seit hundert Jahren besser und besser begreifen. Die Fehler, die bei Entscheidungen unvermeidlich sind, die müssen wir mit extremer Anstrengung beherrschen, und da fangen die Maschinen jetzt gerade wieder bei null an.
Welty: Ich spitze es noch mal zu, Herr Antes: Ist Überleben dann doch am Ende eine Frage von Glück oder Pech?
Antes: Zum großen Teil ja, klar. Und die Wahrscheinlichkeit des Überlebens zu maximieren – das klingt jetzt extrem technokratisch –, die sollten Ärzte, Patienten und Maschinen im Kopf haben, und das haben die Maschinen gegenwärtig noch mit Abstand am wenigsten.
Welty: Nicht wild Daten sammeln, sondern gezielt Studien unternehmen, das empfiehlt der Mathematiker und Biometriker Gerd Antes dem Medizinbetrieb dringend. Herr Antes, haben Sie herzlichen Dank!
Antes: Auch Dank von mir!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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