Digitale Betreuung

Wie Senioren länger zu Hause leben können

07:57 Minuten
Eine ältere Frau geht am Rollator vom Wohnungsflur in ein Zimmer.
Bewegungsmuster mithilfe digitaler Technik: 200 Seniorinnen und Senioren machen bei der Studie mit. Fühlen sie sich überwacht? © picture-alliance / Sven Simon
Von Philip Banse · 10.03.2020
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Wie kann die Betreuung älterer Menschen durch digitale Technik verbessert werden? Ein Berliner Projekt untersucht, ob dadurch Senioren länger in ihren eigenen vier Wänden leben können. Auch mögliche unerwünschte Nebenwirkungen werden analysiert.
"Also eins wird hier angebracht an der Wohnzimmertür", sagt Frida Zschage. "Eins wird an der Badezimmertür angebracht und eins soll hier über die Eingangstür."
Die Rentnerin Frida Zschage führt durch ihre 2-Zimmer-Wohnung und zeigt, wo überall Bewegungsmelder angebracht werden.
"Und ein Teil an den Kühlschrank", sagt sie. "Weil man den am meisten bewegt am Tag und das ja an den Pflegedienst Sophia geht - und die dann ein bisschen Kontrolle haben."
Frida Zschage ist 80 Jahre alt, in ihrer Wohnung wohnt sie seit 30 Jahren: "Und da es mir gut gefällt, denke ich gar nicht daran, auszuziehen."

Seit dem Tod ihres Mannes alleinlebend

Frida Zschage wirkt fit, eher 60 Jahre alt als 80. Sie braucht keine Pflege, wohnt aber – seit ihr Mann gestorben ist – allein: "Und das war auch der Grund, bei dieser Aktion mitzumachen. Ich habe es in der Zeitung gelesen und gedacht: Das ist was für dich."
Diese Aktion – das ist eine Studie, angestoßen und bezahlt von der BKK VBU, einer Berliner Krankenkasse mit über 500.000 Versicherten, geleitet von Andrea Galle.
"Wir sind Projektinitiator", erläuter sie, "weil wir festgestellt haben, dass Senioren möglichst lange in ihren eigenen vier Wänden leben möchten. Wir haben uns die Frage gestellt, wie das mit moderner Technik möglich ist, dass man lange, sicher und selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden leben kann."
"Da haben wir einen Bewegungssensor, der kommt zum Beispiel oben an die Tür", sagt Frida Zschage. 200 Seniorinnen und Senioren, die bei der Studie mitmachen, bekommen dieser Tage solche Bewegungssensoren eingebaut. Die Bewegungsdaten werden von der Software des Technikanbieters analysiert und zum Pflegedienst Sophia in Berlin Marzahn übertragen, wo Anne Gersitz vor einem Bildschirm sitzt.

Bewegungsabweichungen werden analysiert

"Das ist unser Monitoringsystem", erklärt sie, "bei dem uns die Bewegungsmuster angezeigt werden und auch direkt die Abweichungen. Die Abweichungen werden farblich markiert, sodass wir aufmerksam werden, wo wir vielleicht aktiv werden sollten."
Bei einem Senior ist unter der Überschrift "Schlafzimmer" ein gelber Balken.
"Wenn da eine Abweichung vorliegen würde, würde sich das orange verfärben und dann könnten wir uns die vergangenen Tage ansehen und sehen, was ist so sein Normalverhalten", sagt Anne Gersitz.
Der Pflegedienst könnte dann telefonisch mal nachfragen oder hinfahren oder jemanden vorbeischicken.
"Ich fühle mich damit nicht kontrolliert oder beobachtet, aber ich fühle mich irgendwie geschützt", sagt Frida Zschage.

Sinnvolle Hilfe oder Überwachung?

Ob das allen Senioren so geht, will Johanna Nordheim erforschen. Sie ist Psychologin am Institut für medizinische Soziologie an dem Berliner Uniklinikum Charité. Nordheim leitet die Studie im Auftrag der Krankenkasse.
Digitale Assistenzsysteme seien schon oft wissenschaftlich untersucht worden, sagt die Medizinerin: "Was bisher meines Wissens im deutschsprachigen Raum noch nicht so viel untersucht wurde, ist ob so ein System von Sensoren vermeidbare Krankenhausaufenthalte wirklich reduzieren kann. Dazu gibt es wenig."
Können also alte Menschen mit der Technik wirklich länger zu Hause leben? Können Pflegedienste ihre Ressourcen besser einsetzen? Gibt es vielleicht unerfreuliche Nebenwirkung der Technik?
"Was natürlich passieren könnte, ist, dass Angehörige, die sich sonst mehr kümmern, jetzt denken, ja, Vater oder Mutter ist ja versorgt, da ist dieser Notruf, da ist dieses Gesundheitsbüro, da muss ich mich nicht mehr so oft melden und gucken", sagt die Psychologin. "Und das – dieser soziale Kontakt – ist etwas, was wir wirklich erfassen wollen, denn das wäre natürlich jetzt nicht so ein wünschenswertes Ergebnis aus unserer Sicht. Soziale Isolation."

Erforschung unerwünschter Nebenwirkungen

Ihren Forscherkollege Jan Zöllick interessiert auch, ob das digitale Assistenzsystem statt mehr Sicherheit, nicht auch weniger Sicherheit bringen kann:
"Durch die Installation dieses Systems ändert sich ja etwas in der Wahrnehmung, die sich selber habe", erklärt er. "Ich fühle mich sicherer und bin vielleicht gewillt, ein Verhalten zu zeigen, was ich vorher nicht gezeigt hätte. Ich bin vielleicht unvorsichtiger, ich zeige risikoreicheres Verhalten, weil ich ja weiß, da ist im Hintergrund jemand, der kümmert sich um mich. Wenn das dann nicht funktioniert, wird es natürlich schwierig. Wenn das dann ausfällt, sind die Folgen schwerwiegender, als hätte ich das System gar nicht gehabt."
Und wer dann für Schäden hafte, sei unklar, sagt Christiane Rock vom Verbraucherzentrale Bundesverband: "Das sind noch viele ungeklärte Rechtsfragen. Da fordern wir, dass da für Klarheit gesorgt wird, wenn die Produkte in die Regelversorgung kommen. Denn die Produkte sind ja alle miteinander vernetzt und wenn etwas schiefläuft, muss natürlich klar sein, wer dafür verantwortlich gemacht werden muss."
Deswegen, so der vzbv, gehe die aktuelle Studie in die richtige Richtung, weil sie klären könne, welche digitalen Pflegesysteme wirklich funktionieren.

Mehr als nur Bewegungsdaten im Blick

Andrea Galle von der Krankenkasse BKK VBU will sich nicht festlegen, ob ihre Studie dazu führen wird, dass mehr digitale Pfleghelfer von den Kassen erstattet werden. Bewegungsdaten dürften aber schon bald nicht mehr die einzigen Indikatoren sein, die das Wohlbefinden der Senioren signalisieren.
"Perspektivisch könnte man sicher auch Blutdruck, Herzfrequenzen und Blutzucker mit hinzufügen", sagt sie, "vorausgesetzt der Nutzer ist damit einverstanden. Das Gesundheitsbüro, das monitort, könnte dann viel individueller auf Situationen reagieren."
Noch ist das Zukunftsmusik. Aktuell werden kaum digitale Assistenzsysteme von den Krankenkassen bezahlt – weil Hersteller schlicht zu wenige Anträge stellten, sich den Nutzen ihrer digitalen Pflegehelfer nachweisen zu lassen, sagt der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung. Das Problem sei, dass Gesetze geändert werden müssten, sagen Verbraucherschützer.
Dann dürfte die Nachfrage nach digitalen, vernetzten Pflegehelfern steigen – und bei Krankenkassen gehen führende Mitarbeiter fest davon aus, dass dann auch selbstverständlich Blutdruck, Herzfrequenz und andere Parameter genutzt werden, um Senioren zu überwachen – und besser, effizienter zu versorgen.
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