Die verborgenen Motive des Handelns

12.11.2013
In seinem neuen Buch spannt der Soziologe Luc Boltanski den Bogen von der Kriminalliteratur bis zur Entstehung des Nationalstaates - beide stehen laut dem Franzosen in logischem Zusammenhang. Außerdem macht er den Weg für eine andere Lesart der NSA-Affäre frei.
Der Begriff "Paranoia" taucht zum ersten Mal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Populär wird er durch den deutschen Arzt Emil Kraepelin, der die Paranoia 1899 in seinem "Lehrbuch für Psychiatrie" als krankhaftes Misstrauen gegenüber der Wirklichkeit beschreibt: Der Paranoiker ist von einem "Deutungswahn" getrieben, er fühlt sich verfolgt und meint überall "geheime Zusammenhänge" zu erkennen. Hier stellt der französische Soziologe Luc Boltanski eine Parallele zur Kriminalliteratur her, einer Gattung, die ihre erste große Blüte zur gleichen Zeit wie die frisch diagnostizierte Geisteskrankheit erlebt.

Ermittler in Kriminalromanen handeln wie Paranoiker
Das ist eine steile These: Mit Arthur Conan Doyles Figur Sherlock Holmes betritt ein Detektiv die Bühne der Weltliteratur, dem "die Konturen und der Gehalt der Realität weithin problematisch" sind und Untersuchungen anstellt, die über "jedes vernünftige Maß" hinausgehen. Und Holmes ist nur ein Prototyp: Die Ermittler in Kriminalromanen, so Luc Boltanski, handeln bis heute wie Paranoiker.

Das ist der Ausgangspunkt von "Rätsel und Komplotte", einer knapp fünfhundert Seiten schweren Studie. Der Untertitel "Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft" deutet an, worauf Luc Boltanskis Überlegungen zielen: Der Soziologe interessiert sich für das Verhältnis von Nationalstaat und Gesellschaft an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert - und nähert sich dieser Frage elegant (und manchmal bezaubernd abstrakt) über den Umweg der Psychiatrie und der Literatur.

So bekam Kraepelins Konzept der Paranoia rasch eine politische und soziale Dimension: Vermeintlich Kranke konnten als "Querulanten" und Gesellschaftsfeinde denunziert werden. Und auch der Kriminalroman hat zunächst eine konservative, herrschaftsstabilisierende Funktion: Die Detektivgeschichte führt auf unterhaltsame Art und Weise vor, wie "ungewiss und wenig belastbar" das Regelwerk ist, das die Gesellschaft zusammenhält - und wie der Staat am Ende trotzdem den Sieg davonträgt: Der Fall ist gelöst, die Ordnung wiederhergestellt. Das Gleiche gilt für das Genre des Spionageromans: John Buchans stilbildender Klassiker "Die neununddreißig Stufen" (1915) erzählt von einem englischen Gentleman, der im Vorfeld des Ersten Weltkriegs ein groß angelegtes Komplott gegen den britischen Staat aufdeckt - und so auf eigene Faust in letzter Minute die Einheit der Nation wiederherstellt.

Wohin führen diese Überlegungen? Luc Boltanski, ein scharfer Kritiker des eigenen Fachs, weitet seine Überlegungen auf die Geschichte der Soziologie aus. In seiner Lesart haben die Gründerväter der Soziologie, namentlich Vilfredo Pareto, die gleiche Art von paranoiden "Untersuchungen" angeregt wie die Ermittler der frühen Kriminalromane - indem sie die Grundlagen dafür legten, vermeintlich verborgene Motive gesellschaftlichen Handelns zu erforschen.

Der Staat selbst kann wahnhafte Züge annehmen
Gerade diese Passagen in "Rätsel und Komplotte" sind nun nicht ganz leicht zu lesen, wenn man nicht tief in den fachlichen Kontroversen steckt. Spannender ist es, die mal abstrakt, mal historisch ausgerichteten Überlegungen zur Paranoia und zum "Generalverdacht" auf die Gegenwart zu übertragen: Dass der Staat selbst wahnhafte Züge annehmen kann, dieser Gedanke ist bei Luc Boltanski bereits angelegt.

Die eigentliche Pointe hat - gerade mal ein Jahr nach Erscheinen des französischen Originals - erst der amerikanische Whistleblower Edward Snowden mit seinen Einblicken in die Überwachungspraxis westlicher Geheimdienste geliefert: Die schier unvorstellbare Menge an Daten und Metadaten, die hier im Auftrag der Politik gesammelt werden, ist ganz offensichtlich Teil einer "Untersuchung", die "über jedes vernünftige Maß" hinausgeht, kurz: paranoid.

Die NSA-Affäre ist damit allerdings nicht nur später Ausdruck der Dauerkrise des Nationalstaats - sondern, so könnte man mit Luc Boltanski formulieren, auch ein weiterer Beleg für den kreativen Umgang der Politik mit dieser Krise: Die Geschichte von Edward Snowden und seinem ehrbaren Verrat besitzt den gleichen Unterhaltswert wie ein zeitgemäßer Spionageroman. Heute schreibt der moderne Staat sich seine Thriller gleich selbst.

Und der Effekt ist der gleiche, wie der, den Luc Boltanski in einem kühlen, pessimistischen Fazit formuliert: Durch die Lektüre von Kriminalromanen und Spionageromane haben wir uns angewöhnt, unsere "mit Verbrechen, Rätseln und Komplotten gespickte Realität als ebenso anormal wie banal zu betrachten".

Besprochen von Kolja Mensing

Edward Snowden
Edward Snowden© picture alliance / dpa / The Guardian Newspaper / FILE
Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft
Aus dem Französischen von Christine Pries
Suhrkamp, Berlin 2013
485 Seiten, 39,00 Euro
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