Besessen von Angst

Von Ulfried Geuter · 01.08.2010
Depression ist eine Volkskrankheit geworden: Keine andere Krankheit erzeugt in Deutschland pro Fall so viele Tage an Arbeitsunfähigkeit. Mittel und Methoden, die Krankheit in Schach zu halten, gibt es viele. In der Kritik sind neuerdings bestimmte Medikamente, die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer.
"Angst und Schrecken in der Nacht wie am Tage, Schlaflosigkeit, Missgriffe, Irrtümer, unangebrachte Sorgen, mangelnde Einsicht in die tatsächliche Lage und Handeln wider die Gewohnheit - alles das kommt über uns vom Gehirn her, wenn es nicht gesund, sondern wärmer oder kälter, feuchter oder trockener als normal ist."

Das schrieb der griechische Arzt Hippokrates im fünften Jahrhundert vor Christus. Die Melancholie hielt er für kalt und trocken. Sie zeuge von einem Übermaß an schwarzer Galle, einem der vier Körpersäfte neben der gelben Galle, dem Blut und dem Schleim.

Die moderne Säftelehre handelt von Noradrenalin, Serotonin, Dopamin. Und vom Ungleichgewicht dieser Botenstoffe im Gehirn. Während Hippokrates die Säfte mit Diät oder mit Nieswurz ins Gleichgewicht bringen wollte, empfehlen seine modernen Nachfahren kleine Pillen, Antidepressiva.

"Der Melancholiker igelt sich ein. Er fürchtet, dass man ihn verfolgt und einsperrt, martert sich mit abergläubischen Vorstellungen, ist besessen von Angst. Er glaubt an die eigenen Phantasien, klagt über eingebildete Krankheiten, verflucht das Leben und sehnt sich nach dem Tod."

Aretaios von Kappadokien, 2. Jahrhundert nach Christus, fast 700 Jahre nach Hippokrates. Seine Schilderung der Melancholie, die erst im 19. Jahrhundert den Namen Depression erhielt, ähnelt heutigen. Was die Therapie angeht, stritt man in der Antike darüber, ob Nieswurz, Basilikum, Pfeffer, Ingwer oder Blumenkohl helfen. Heute haben die Substanzen weniger mit Küchenkräutern zu tun und heißen Sertralin, Imipramin, Paroxetin oder Citalopram. Sie werden von Pharmafirmen propagiert, und deren Umsätze sind gut: Rund 900 Millionen Tagesdosen Antidepressiva jedes Jahr in Deutschland für gesetzlich und privat Versicherte. Das macht Pillen für ca. 2,5 Millionen Menschen, Tag für Tag, 365 Mal im Jahr.

"Ich habe die Einführung der ersten Psychopharmaka miterlebt. Das war ein ungeheurer Fortschritt."

Bruno-Müller-Oerlinghausen leitete viele Jahre lang eine psychiatrische Universitätsambulanz für depressive Patienten in Berlin. Als Professor für Psychopharmakologie stand er zwölf Jahre lang der "Arzneimittelkommission" der Bundesärztekammer vor, die über Arzneimittel informiert. Forschung und Erfahrung nährten seine Zweifel am Wert der Antidepressiva. Heute urteilt er kurz und klar:

"Die Wirksamkeit von Antidepressiva ist schwach."

Anfang des Jahres 2008 sorgte die Veröffentlichung einer Gruppe von Forschern um den englischen Psychologieprofessor Irving Kirsch für Aufsehen. Sie gingen in die Archive der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde. Dort müssen Firmen alle Studien an Patienten zur Wirksamkeit von Medikamenten anmelden und die Ergebnisse hinterlegen. Irving Kirsch und seine Mitarbeiter sahen sich an, wie hoch die Wirkung von Scheinmedikamenten, so genannten Placebos im Vergleich zu Antidepressiva war:

"Wir haben herausgefunden, dass die Wirkung des Placebos zwischen 75 und 82 Prozent derjenigen des Medikamentes entsprach. Das war das Ergebnis von zwei Metaanalysen. Die eine beruhte auf der veröffentlichten Literatur, die andere auf den Daten, die die Pharmafirmen der staatlichen Zulassungsbehörde schickten, um die Zulassung der Medikamente zu erreichen."

Und noch eine weitere Studie erschütterte den Ruf der Antidepressiva. Der US-amerikanische Psychiatrie-Professor und Pharmakologe Erick Turner und seine Mitarbeiter sahen die Unterlagen der US-amerikanischen Zulassungsbehörde unter einem anderen Gesichtspunkt durch, und zwar dem, welche Befunde zur Wirksamkeit der Antidepressiva veröffentlicht wurden und welche nicht. Das Ergebnis: Fast alle Studien, die ergeben hatten, dass die Medikamente nicht wirken, wurden nachher nicht veröffentlicht. Zeigte sich ein positiver Effekt der Medikamente, wurden sie veröffentlicht. Manche Studien mit fraglichen Ergebnissen wurden veröffentlicht, ihr Zweck aber falsch dargestellt:

"Die Wirksamkeit dieser Medikamentengruppe war nur halb so groß, wie aus der veröffentlichten Literatur zu schließen wäre."

Anfang der 50-er Jahre hatten Ärzte entdeckt, dass Tuberkulosepatienten, die man mit einem neuen Mittel behandelte, beflügelt wirkten. So stieß man zufällig auf antidepressiv wirkende Substanzen. Bruno Müller-Oerlinghausen erinnert sich noch gut an die Hoffnungen aus jener Zeit:

"Ich habe die Einführung der ersten Psychopharmaka miterlebt. Das war ein ungeheurer Fortschritt. Das ist die eine Seite der Medaille. Aber die andere ist, dass alle Antidepressiva, Dutzende und Aberdutzende, die auf den Markt gekommen sind, nicht besser waren als die vorangegangenen in ihrer Wirksamkeit und im Vergleich zu Placebo nicht besonders gut ist. Wir hätten gerne bessere Substanzen. Aber es sind keine besseren da."

Das gilt auch für eine neue Generation von Antidepressiva, die so genannten "selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer". Sie sind heute die am meisten verordneten Mittel. Denn sie haben weniger Nebenwirkungen, sind aber auch teuer. Am teuersten ist Sertralin, von dem in Deutschland jährlich 40 Millionen Tagesdosen verordnet werden. Nach der Studie von Turner ist es eines von drei Medikamenten, zu dem besonders viele negative Studienergebnisse verschwiegen wurden. Die Hoffnung, dass die neuen Mittel bei schweren Depressionen, dem eigentlichen Einsatzgebiet für medikamentöse Therapie, besser helfen, hat sich zerschlagen. Matthias Dose, Professor für Psychiatrie der Isar-Amper-Klinik in Taufkirchen sagt:

"… dass bei den stationär behandelten depressiven Patienten, dass es da einen Überlegenheitseffekt der so genannten klassischen Antidepressiva gegenüber den neu entwickelten, insbesondere selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern gibt."

Antidepressiva sind nützlich, bei schweren Depressionen oft unerlässlich, aber ihr Nutzen hält sich in Grenzen. Der gesundheitspolitische Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Professor Jürgen Fritze, nennt die Zahlen:

"Unter dem Antidepressivum erreichen nach sechs Wochen in Placebo-kontrollierten Studien 45 Prozent der Patienten eine Gesundung gegenüber Placebo 30 bis 35 Prozent. Das ist natürlich enttäuschend, aber dennoch ist das eine gute Wirksamkeit."

"Gut" heißt nach diesen Zahlen: Einem von zehn Patienten hilft ein Antidepressivum, wenn ihm ein Placebo nicht geholfen hätte. Das ist die 10-Prozent-Differenz zwischen den 45 Prozent Wirkung durch das Medikament und den 35 Prozent Wirkung durch ein Placebo. Placebos allerdings kann man in der Praxis nicht geben. Denn Ärzte dürfen Patienten nicht täuschen. Daher zählt der absolute Wert: Bei knapp der Hälfte der Patienten schlagen Antidepressiva an.

"Nützlich ist der Verzehr von Lauch und Brombeeren, aber auch, die Symptome auszusprechen, damit sich dadurch der Patient von seinen Ängsten befreien kann."

Das empfahl Aretaios von Kappadokien. Auch dieser Ansatz aus der Antike tauchte später als Behandlungsmethode wieder auf: in der Redekur der Psychoanalyse, aus der die moderne Psychotherapie entstand. Bei leichteren Depressionen, zeigen wissenschaftliche Forschungen, helfen nicht die Mittel, die die Nervensäfte ins Gleichgewicht bringen, sondern das Reden. Der Züricher Psychiatrieprofessor Ulrich Schnyder:

"Vor allem im Langzeitverlauf, wenn es um die Frage der Nachhaltigkeit geht, insbesondere nach Absetzen der Therapie, dann wird die Psychotherapie der Pharmakotherapie deutlich überlegen."

Denn Antidepressiva wirken nur, so lange man sie einnimmt. Setzt man sie ab, kommt es häufig zu einem Rückfall:

"Wohingegen bei psychotherapeutischen Interventionen es nach Absetzen tendenziell über eine längere Zeit noch zu einer weiteren Verbesserung kommen kann, jedenfalls viel seltener zu einem Rückfall in die ursprüngliche Krankheit."

So beschrieb vor über 100 Jahren der Altmeister der Psychiatrie, Emil Kraepelin, einen depressiven Patienten:

"Mit müden kleinen Schritten tritt er ein, setzt sich langsam hin und bleibt in etwas gebeugter Haltung sitzen, fast regungslos, vor sich hinstarrend. Auf Befragen wendet er ein wenig den Kopf und antwortet nach einer gewissen Pause leise und einsilbig."

Kraepelin behandelte die Kranken mit Ruhekuren, Bädern, leichter Nahrung oder Opium. Mehr wusste man damals nicht zu tun. Dabei hätte Kraepelins genaue Schilderung der Bewegung und des Körperausdrucks seines Patienten ihn dazu bringen können, einen alten Rat des Menodotos von Nikomachien Ernst zu nehmen:

"Neben Nieswurz und seelischer Selbstprüfung empfahl er Gymnastik, Reisen, Massagen und Mineralwasserkuren."

Heute weiß man, dass leichter Dauerlauf oder Nordic Walking bei Depressionen ähnlich wirksam ist wie Medikamente. Was sich Menodotos einst überlegte, ist daher nicht so weit entfernt von dem, was heute Professor Bruno Müller-Oerlinghausen empfiehlt:

"Es geht darum, was wir heute an psychotherapeutischen Möglichkeiten haben, an körpertherapeutischen, physiotherapeutischen, soziotherapeutischen Verfahren zusammen mit der bescheidenen Wirksamkeit der Medikamente zum Einsatz zu bringen. Das ist die Aufgabe."

Literaturtipp:
Andrew Solomon: "Saturns Schatten. Die dunklen Welten der Depression"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2001
576 Seiten, 29,90 Euro
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