Wenn Prävention zur Paranoia wird

Moderation: Joachim Scholl · 28.10.2013
In den USA begegne man der Um- und Außenwelt mit "konstitutionellem Misstrauen", sagt Bernd Greiner vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Und in Deutschland müsse man sich fragen, ob man nicht Teile dieses Denkstils übernommen habe.
Joachim Scholl: Der Historiker und Politologe Bernd Greiner forscht am Hamburger Institut für Sozialforschung. Viel Aufmerksamkeit hat er 2011 mit dem Buch "9/11 – Der Tag, die Angst, die Folgen" gefunden, und gerade diese Folgen nehmen immer groteskere Formen an. Dass die amerikanische NSA mittlerweile die halbe Welt abhört, haben jüngst auch die Franzosen endlich verstanden. Dass Angela Merkels Handytelefonate nun auch auf einem NSA-Server lagern, hat der Diskussion zwischen den Verbündeten nochmals richtig Schub gegeben, aber keinen guten. Bernd Greiner, ich grüße Sie, willkommen im Deutschlandradio Kultur!

Bernd Greiner: Schönen guten Nachmittag!

Scholl: Als letzte Woche Angela Merkels Handy plötzlich im Blickpunkt war und die Empörung groß, was haben Sie denn da gedacht, Herr Greiner? Geschieht der Kanzlerin ganz recht? Erst so tun, als sei nichts, und jetzt sich aufregen?

Greiner: Na, für Häme gibt es keinen Grund, wiewohl man sich hat schon ärgern können, dass der Umstand, dass die halbe Republik oder die ganze Republik abgeschöpft wird mit ihren Internetdaten, im Sommer wie eine Lappalie behandelt worden ist, und jetzt natürlich die Aufregung groß ist, wenn es das Handy der Kanzlerin betrifft. Aber wie gesagt, für Häme und Nachkarten besteht hier kein Grund. Das Problem ist zu gravierend, als dass man jetzt das mit diesen vordergründigen Argumenten aufrechnen könnte.

Scholl: Ist die NSA nicht inzwischen so etwas wie Al-Qaidas williger Vorstrecker. Sie macht genau das, was die Terroristen vorhaben, den Westen zersetzen, Zwietracht säen.

Greiner: Nun, zumindest hat Al-Qaida mit diesen Anschlägen im Westen zu tiefgreifenden Veränderungen beigetragen. Ob das immer in ihr strategisches Kalkül gepasst hat oder nicht, sei dahingestellt. Aber was wir beobachten, ist eine Maßlosigkeit des politischen Denkens, des politischen Handelns zumindest in den USA, teilweise auch in Europa, aber vornehmlich in den USA, dass sich eine ganze Gesellschaft und ihre politischen Eliten quasi in Geiselhaft von einem Sicherheitsdenken begeben, das jedes Maß verloren hat, in jeder Hinsicht über die Stränge schlägt und darüber, ja, die Grundlagen beschädigt, die diese Gesellschaft im Grunde genommen zusammenhalten und ihre Stärke ausmachen.

Scholl: Jetzt wird drüber diskutiert, was wusste der mächtigste Mann der Welt, und vor allem, wann wusste er es? Man hat ja wirklich den Eindruck, dass Barack Obama selbst längst nicht mehr Herr im Hause ist, sondern seine Geheimdienste längst machen, was sie wollen. Sind Sie auch dieser Meinung?

Greiner: Nun, Geheimdienste wie Militärapparate wie im Übrigen alle großen Institutionen neigen dazu, auf Kosten anderer ständig ihr eigenes Terrain auszuweiten. Die Definitionsmacht nicht nur über ihr Politikfeld behaupten zu wollen, sondern auch über angrenzende Politikfelder. Das ist nichts Neues. Dass das bei Geheimdiensten in besonderer Weise ausgeprägt ist, ebenfalls nicht. In den USA kommt allerdings eines dazu, und da verschränkt sich Politik und Institution, da geht das institutionelle Gefüge mit der politischen Praxis Hand in Hand. Dort gibt es nämlich das Prinzip der sogenannten plausible deniability. Das heißt nichts anderes, als dass man dem Präsidenten mit dessen Einstimmung vor peinlichen oder ihn belastenden Aktivitäten fernhält. Das heißt, der Präsident will teilweise gar nicht informiert werden. Er gibt den großen Kurs vor und will sich über die Details nicht informieren, weil wüsste er diese Details, könnte er im Zweifelsfall dafür haftbar gemacht werden.

Scholl: So kann er sozusagen es plausibel verneinen, dass er …

"Obama kann sich nicht herausreden"
Greiner: Er kann es in jedem Fall plausibel verneinen, und das ist keine nachgängige Entschuldigung, sondern das ist eine im Vorwege von allen Beteiligten abgesegnete und diskutierte Politik. Und deshalb kann sich Barack Obama auch nicht herausreden und sagen, ich habe von nichts gewusst. Möglicherweise wusste er von den operativen Details nichts, aber in den Grundlagen der Politik, die hat er mit Sicherheit mit verabschiedet.

Scholl: Alle diese Abhörmaßnahmen, diese gigantische Logistik, das gigantische Personal, dass sozusagen seit 9/11 geschaffen wurde, werden immer als Prävention gesehen, Herr Greiner, und dargestellt. Eindämmung des Terrors im Vorhinein, also Anschläge verhindern. Und alle Regierungen sind oder waren sich bisher darin einig. Ist das eigentlich eine falsche Politik, diese Art von Prävention, die am Ende jetzt doch nur gegenseitiges Misstrauen schafft oder darauf hinausläuft.

Greiner: Man wird im Grunde keine Politik kritisieren können, die verhindert, Sicherheit zu schaffen, die danach strebt, den Wirkungsraum von Terroristen einzudämmen und die Gefahr von terroristischen Aktivitäten zu begrenzen. Allerdings hat man sehr guten Grund, eine Politik zu kritisieren, die darüber jedes Maß verliert. Die USA bewegen sich seit 9/11 zunehmend in einem Sicherheitswahn. In der Vorstellung, man könne Terrorismus mit dem Aufbieten der entsprechenden Mittel im Keim ersticken, man könne ihn aus der Welt schaffen. Und dabei verlieren sie völlig aus dem Blick, dass beispielsweise jedes Jahr in den USA weniger und auch im Ausland weniger Amerikaner an terroristischen Aktivitäten sterben als Opfer von tödlichen Bienenstichen zu werden. Das ist statistisch erwiesen, und gleichwohl werden hier Milliarden und Abermilliarden für Aktivitäten ausgegeben, die in keinem erkennbaren Zusammenhang mehr stehen mit dem vorgegebenen Ziel, respektive, die am Ende dazu führen, dass, wie gesagt, die Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit unterhöhlt werden, dass Beziehungen zu Bündnispartnern aufs Äußerste belastet werden, und damit die ganze Stabilität des innen- wie außenpolitischen Gefüges ins Wanken kommt. Das ist eine Politik, die ich als maßlos glaube bezeichnen zu können, eine, die ihr eigenes Ziel, die Korrelation zwischen Mitteln und Zwecken aus dem Blick verloren hat.

Scholl: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit Bernd Greiner vom Hamburger Institut für Sozialforschung und Autor des Buches "9/11 – Der Tag, die Angst, die Folgen". Sie haben in Ihrem Buch die sicherheitspolitischen Veränderungen direkt nach den Anschlägen vom 9. September als eine Kette auch von demokratieschädlichen Entscheidungen der USA geschildert, Herr Greiner. Dazu gehörten die Kriege in Irak und Afghanistan, Abu Ghraib, Guantanamo, der Patriot Act – immer, wenn die Vereinigten Staaten angegriffen werden, wird auf die Grundrechte erst mal gepfiffen. Das muss man leider so folgern. Wieso ist das eigentlich Tradition geworden?

Greiner: Es ist spätestens seit dem Ersten Weltkrieg zu einer Tradition geworden. Man kann ja nicht in Abrede stellen, dass es immer wieder reale Bedrohungen gegeben hat. Aber das Überzeichnen, das Übertreiben, das ist eine Frage, an der sich mittlerweile Historiker, Politikwissenschaftler, Soziologen – man muss schon fast sagen, die Zähne ausbeißen. Nämlich die Frage zu beantworten, warum kommt es regelmäßig immer wieder zu diesen Aufwallungen, und warum halten diese Aufwallungen so lange vor. Vieles hat wohl damit zu tun, dass die USA im Grunde genommen eine sich ihrer selbst nicht gewisse Gesellschaft sind, eine im Kern zutiefst verunsicherte Gesellschaft. Woran das liegt? Es gibt mit Sicherheit einen ganzen Strauß von Argumenten. Ein Argument könnte darin gesehen werden, dass sich die USA selber gerne als die beste und letzte Hoffnung – Barack Obama hat das ebenfalls gesagt – der Menschheit begreifen. Wer dieses Selbstbild hat, der neigt auch dazu, den Rest der Welt von vorneherein als feindliche Macht zu definieren. Als eine Macht, die es darauf angelegt hat, diesem vorbildstiftenden Amerika in jedem Fall in die Parade zu fahren. Man begegnet dieser Um- und Außenwelt mit Misstrauen, mit einem konstitutionellen Misstrauen, und dieses Grundempfinden wird sozusagen immer aktualisiert, wenn etwas aus dem Ruder läuft, wenn man etwas nicht mehr unter Kontrolle hat. Und wenn man dem eigenen Selbstbild, zurecht führungsstärkste Macht zu sein, nicht mehr gerecht werden kann. Also da sind sehr viele machtpsychologische Faktoren im Spiel, die mit dem Selbstbild der USA zu tun haben, und die mit ihrem eigenen, nach außen gerichteten Blick zu tun haben.

Scholl: Gerade vorhin, Herr Greiner, haben wir unsere Hörer gefragt, wie man denn politisch darauf antworten soll, von deutscher, von europäischer Seite aus. Wie würde denn Ihre Antwort lauten?

Greiner: Nun, von all den Möglichkeiten, die sich da anbieten, ist meines Erachtens diejenige am realistischsten, im eigenen Land, vor der eigenen Haustür zu kehren und mal kritisch zu fragen, selbstkritisch zu fragen, ob wir nicht in den letzten zehn Jahren Teile dieses amerikanischen Denkstils übernommen haben. Denken Sie etwa an die maßlose Diskussion über die Vorratsdatenspeicherung oder an den Versuch, alle möglichen Daten im Vorwege zu speichern, auch ohne konkreten Anfangsverdacht. Das ist ja eine Politik, die überraschenderweise, frappierenderweise den amerikanischen Denkansätzen ähnelt. Es wäre an der Zeit, diese Politik der entgrenzten Vorratsdatenspeicherung zu prüfen, hier mal einen Punkt zu setzen und zu sagen: Schluss! Wir setzen an dem Punkt die Privatsphäre der Bürger, ihr Recht auf Privatsphäre, ihr Recht auf individuelle Freiheit höher an als das staatliche Begehren, alles und jedes zu dokumentieren. Hier anzusetzen, wäre viel wichtiger als jetzt herumzufummeln an irgendwelchen Freihandelsabkommen, die im Zweifelsfalle eher der Wirtschaft schaden als dass sie das Problem, um das es geht, in den Blick nehmen.

Scholl: Wenn Prävention jedes Maß verliert und nur noch Paranoia ist. Das war Bernd Greiner vom Hamburger Institut für Sozialforschung und Autor des Buches "9/11 – Der Tag, die Angst, die Folgen". Herr Greiner, ich danke für Ihren Besuch!

Greiner: Danke schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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