Die unglaubliche Wahrheit

Von Bernd Sobolla |
In "Shoah" berichtet der Widerstandskämpfer Jan Karski von seinen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Er war ins Warschauer Ghetto und ein Konzentrationslager eingeschleust worden und sollte dann der Welt davon berichtet. In "Der Karski-Bericht" wird jetzt der bisher unveröffentlichte zweite Teil des Interviews mit Karski gezeigt.
"Aber ich berichtete, was ich gesehen hatte!" Mit diesen Worten endet Jan Karskis Beschreibung in "Shoah", und mit diesen Worten beginnt der Film "Der Karski-Bericht". Claude Lanzmann verzichtete 1985 in "Shoah" auf den zweiten Teil des Interviews vor allem wegen der Filmlänge. In "Der Karski-Bericht" geht er darauf als erstes ein:

"Doch sie werden gleich einen Teil dieser Passagen sehen, besonders den vom Treffen zwischen Jan Karski und Präsident Roosevelt. Karski lässt uns in seinem Bericht über die Reaktionen seiner verschiedenen englischen und amerikanischen Gesprächspartner eine zentrale Frage in all ihrer Schwere untersuchen:'"Was heißt es zu wissen?'"

Jan Karski, ein perfekter Gentleman, sitzt 1978 in seinem Haus in Washington: Im grauen Anzug, edlem Hemd, die Krawatte eng gebunden, sitzt er vor der Kamera. 64 Jahre ist Karski alt, und er ist sich der historischen Dimension des Gesprächs bewusst. Denn auch wenn die Frage nicht explizit gestellt wird, so steht sie doch im Raum: "Hätten die europäischen Juden gerettet werden können? Oder wenigsten viele von ihnen?" Denn Karski hatte doch damals Zugang zu den Entscheidungsträgern in London und Washington.

Und mit den Worten: "Vergessen Sie nicht, was Sie hier gesehen haben!" war der polnische Widerstandskämpfer Jan Karski 1942 heimlich aus dem Warschauer Ghetto hinausgeleitet worden und hatte dann auch noch in ein Vernichtungslager nahe Lublin eindringen können. Er sollte die Welt aufrütteln, sie informieren über Unterdrückung, Verfolgung und Mord.

Im Film schildert Karski zunächst wie er 1943 der polnischen Exilregierung in London berichtet, dann Intellektuellen wie Arthur Koestler und H.G. Welles, aber auch dem britischen Außenminister Anthony Eden. Anschließend reist er nach Washington, um dort Regierungsmitglieder zu treffen. Dem polnischen Botschafter Ciechanowski gelingt es, ein Treffen mit Präsident Roosevelt zu arrangieren. Allerdings instruiert er Karski zuvor: "Seien Sie präzise und reden Sie nur, wenn Sie gefragt werden! Für Polen interessieren die sich nicht besonders. Denen gehört die ganze Welt". Diese Sätze und die Vorstellung, plötzlich dem "Weltenführer" gegenüber zu sitzen, schüchtern den 29-jährigen Karski ein. Er hält sich minutiös an die Vorgaben.

"Für mich ging es vor allem um Polen, um sowjetische Forderungen, Kommunisten in der Untergrundbewegung. Was wird aus Polen? Dann komme ich auf das jüdische Problem. 'Herr Präsident, bevor ich Polen verlassen habe, wurde ich mit dieser Mission beauftragt von den wichtigsten jüdischen Vertretern. Sie organisierten für mich zwei Besuche im Ghetto. Und ich sah ein Vernichtungslager. Herr Präsident, die Situation ist grauenhaft. Ohne Hilfe von außen werden die Juden vernichtet in Polen.' / Was antwortete er? / Nichts. / Damit endete ihr Bericht? / Ja. / Hier kommt seine Antwort: 'Die Alliierten werden diesen Krieg gewinnen.'"

Warum war Roosevelt so desinteressiert? Kannte er die Berichte vielleicht schon von Mittelsmännern? Konzentrierte er sich auf das absehbare Kriegsende? Oder schien ihm die Ermordung der Juden angesichts von Millionen Kriegstoten nur ein Problem unter anderen? Karski hat darauf keine Erklärung. Immerhin erhält er kurz danach von Roosevelt eine Liste mit Namen von Leuten, die er sprechen soll. Darunter sind religiöse Vertreter, Kriegsminister Stimson und der Jude Felix Frankfurter, Richter am Supreme Court und Vertrauter von Roosevelt.

"Mr. Karski, was haben Sie zu sagen? / ... Was passiert mit den Juden in ihrem Land? / Ich werde zur Maschine und spule alles ab. ... Der Mann sitzt da, wird kleiner und kleiner. Ich erzähle ihm von den jüdischen Führern, dem Ghetto, Belzec. 15 bis 20 Minuten später höre ich auf. Richter Frankfurter schaut mich an: Junger Mann, ... Ich glaube ihnen nicht! Hier schaltet sich Botschafter Chieranowski ein: Felix, war redest du da? / Herr Botschafter, ich habe nicht gesagt, dass er lügt. Ich habe gesagt, dass ich ihm nicht glaube. Das ist etwas anderes. Mein Geist, mein Herz sind so geschaffen, dass ich das nicht akzeptieren kann. Nein, nein, nein!"

Was aus heutiger Sicht absurd klingt und später Historiker als verpasste Gelegenheit bezeichnen oder gar als "unterlassene Hilfeleistung", darauf geht Claude Lanzmann explizit im Info-Heft der DVD ein. Dort weist er darauf hin, dass das Licht der Gegenwart die Schwere einer Epoche nicht wirklich rekonstruieren kann, indem es einige Funde aus der Vergangenheit beleuchtet. In diesem Sinne bietet der "Karski-Bericht" einen unglaublichen Erfahrungsbericht, ohne jedoch ein Urteil zu fällen.
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