Die schnödeste Alltagswelt ganz normaler Leute

Patriarchalische Strukturen, Inzest und Missgunst: In "Càmfora" (deutsch: "Kampfer") schildert María Barbal sensibel und präzise die Geschichte einer Familie aus einem Dorf in den katalanischen Pyrenäen, die in den 1960er-Jahren vergeblich ihr Glück in Barcelona sucht.
Literatur als ein Bewahrungsort für Geschichte, das wird von vielen schnell unterschrieben und ist durch geradezu monumentale Beispielwerke beinahe per se legitimiert. Wo sich berühmte Figuren, Ereignisse, Intrigen und Epochen der Vergangenheit spiegeln und in griffigem Narrativ vermittelt werden, da kann man den Bestsellerverdacht fast schon mit Händen greifen. Das klappt aber nicht immer. Und manchmal ist dieses Scheitern sehr wohl kalkuliert. Wenn nämlich nicht die Epochenwenden und Hauptgestalten, die Schlüsseldaten und Skandale in den Vordergrund rücken, sondern die schnödeste Alltagswelt ganz normaler Leute, obendrein in einer zwar bedrückenden, aber doch auch sehr normalen Zeit.

Als María Barbal diesen Roman 1992 veröffentlichte, war er so etwas wie die Verkörperung des Anti-Zeitgeistes. Spanien und insbesondere Barcelona, wo sich weite Teile der Romanhandlung abspielen, gab sich ganz dem Rausch der Modernität hin: Olympische Spiele und partieller Stadtumbau, beschwingter Nationalismus plus Demokratie, Europa-Muskel und avantgardistisches Designzentrum, jugendlicher Nachtclub-Tourismus und ironisierter Belle-Epoque-Schmelz, das war die ganz und gar aufs Künftige gerichtete Perspektive jener Zeit.

In diesen euphorischen Rahmen passte ein Roman, der ausgerechnet "Kampfer” heisst, an Mottenmittel und unangenehmen Geruch erinnert und dazu in einer zwar vergangenen, aber doch nicht sehr weit entfernten Zeit spielt, nicht so sehr. An ihr dörfliches und schmuddeliges Gestern will so eine Metropolen-Mentalität nicht unbedingt erinnert werden.

María Barbal aber tut genau dies. Ihre Familiengeschichte handelt in den frühen 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, sie wurzelt in einem abgelegenen Dorf in den katalanischen Pyrenäen. Aus archaisch anmutenden Konstellationen ergeben sich Konflikte, die mit patriarchalischen Strukturen, Erbrechten, Inzest und Missgunst zu tun haben. In der Folge zieht ein Zweig dieser Familie, bestehend aus dem Patriarchen, seinem Sohn und dessen Frau, vom Dorf nach Barcelona, um sich – recht und schlecht – mit einem Lebensmittelladen eine neue Existenz aufzubauen.

Das Vorhaben scheitert letztlich, die Familie zerbricht. Zwischen der Lust am Neuen, der Urbanität und dem Verhaftetsein im Alten, einer dörflichen Lebensstruktur, entstehen Spannungen, die bis ins Tragische reichen. Das alles ist erzählenswert, weil es einen hochdramatischen Plot hat, in dem episodenhaft und in allmählichen Schritten das Geschehen rekonstruiert wird. Vor allem aber ist es das psychologisierende Erkunden der Seelenlagen der Figuren, das die Qualität dieser Autorin ausmacht. "Càmfora” ist das sensible Porträt einer Zeit – unspektakulär und von höchster Genauigkeit.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

María Barbal: Càmfora
Aus dem Katalanischen von Heike Nottebaum
Mit einem Nachwort von Pere Joan Tous
Transit Buchverlag, Berlin 2011
240 Seiten, 19,80 Euro
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