Leben in Gemeinschaft

Die Rückkehr der Kommunen

57:17 Minuten
Zwei Menschen werfen einem Mann auf einem Baugerüst einen Strohballen zu.
Hausbau mit Stroh und Lehm in Sieben Linden: Das Ökodorf hat sich in den 90ern gegründet und besteht bis heute. © imago / Joerg Boethling
Von Robert Fishman · 11.01.2023
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Ressourcen teilen, ökologischer leben und für sozialen Ausgleich sorgen: Diese Utopie leben einige Kommunen in Deutschland, manche sehr erfolgreich. Doch das Leben mit vielen anderen zusammen hat auch seinen Preis.
Der Mensch, heißt es, sei ein soziales Wesen. Menschen haben über Jahrtausende in Gemeinschaften zusammengelebt: Großfamilien, Sippen, Dörfer, Clans. Die Vorstellung, jeder und jede allein sei seines oder ihres „Glückes Schmied“ ist relativ neu – ein Produkt der Aufklärung und des frühen Kapitalismus im ausgehenden 18. Jahrhundert.
Nach 40 Jahren „Neoliberalismus“ und Privatisierungen hat sich der gesellschaftliche Wind wieder gedreht. Spätestens die Banken-, Schulden- und Finanzkrise hat gezeigt, dass die „freie Marktwirtschaft“ allein kein gutes Leben für alle schafft. Hinzu kommt die Klima- und Energiekrise.
Immer mehr Menschen erkennen, dass es kein unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten gibt. Wenn wir überleben wollen, müssen wir weniger verbrauchen, nachhaltiger wirtschaften – zum Beispiel in Kommunen, also Lebensgemeinschaften, in denen die Menschen sich die Ressourcen teilen: vom Wohnraum über Autos bis hin zum Einkommen und Vermögen. Wer teilt, hat mehr vom Leben: mehr materielle Güter, mehr Freunde und manchmal auch mehr Probleme.

Die größte Landkommune: Niederkaufungen

Zwischen restaurierten Fachwerkhäusern im nordhessischen Niederkaufungen hängen Apfel- und Pflaumenbäume voller Früchte. An langen Tischen sitzen gut 20 Menschen im Schatten der großen alten Bäume beim Mittagessen. Dazwischen spielen die Kinder. Jeden Tag um 13 Uhr ruft die Gemeinschaftsküche zum Mittagessen für alle. Die meisten Kommunen haben eine solche Gemeinschaftsküche, die für alle einkauft und kocht. Das ist nicht nur praktisch. In großen Mengen kauft man auch billiger ein.
Blauer Bauwagen hinter einem Apfelbaum mit reifen Früchten in einem Garten
Landidylle in Niederkaufungen: Mittlerweile ist die Landkommune aber auch ein großes Wirtschaftsunternehmen.© Imago / ecomedia / robert fishman
Der Weg in diese Idylle war für die rund 60 Bewohnerinnen und Bewohner der Kommune Niederkaufungen lang und oft beschwerlich. 1986 kaufte rund ein Dutzend Idealistinnen und Idealisten einen alten Bauernhof, um dort eine Kommune zu gründen. Getreu dem Motto „Alle geben, was sie können, und bekommen, was sie brauchen“.
Kritik an den Auswüchsen des Kapitalismus, an der Not und Ausbeutung im Globalen Süden und der Zerstörung von Natur und Umwelt brachte Menschen immer wieder zu der Frage: Wie können wir es besser machen? Vor allem in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren gründeten oft „Aussteiger“ genannte Menschen überall in Westeuropa Kommunen – gern dort, wo das Land billig war, wo große alte Höfe freistanden und die nächsten Nachbarn weit weg waren.
Den „Sozialismus im Kleinen“ wollten die Gründer aufbauen, gleichberechtigt und gleichwertig miteinander leben und arbeiten, die Trennung von Leben und Arbeit überwinden, ebenso die Entfremdung des Menschen von der Arbeit. Ein Leben im Einklang mit der Natur. Deshalb gründeten viele Kommunen Bio-Bauernhöfe.

Es sind diese vielfältigen Beziehungen, dass ich hier eben Mensch bin und nicht nur Funktion, die Möglichkeit, in so nahen Austausch zu gehen, der jenseits ist von: "Wir nutzen uns gegenseitig aus". Das finde ich ziemlich gut.

Kommunardin Annette Birk

Die Kommune Niederkaufungen entstand auf einem Hof, der umgebaut wurde. Nach und nach hat die Kommune immer mehr Gebäude und Land dazu gekauft. Die Häuser haben die Kommunardinnen und Kommunarden überwiegend selbst renoviert. Heute ist die Kommune Niederkaufungen mit rund 80 Bewohnerinnen und Bewohnern die größte und älteste Landkommune in Deutschland und ein Wirtschaftsunternehmen mit eigener Bio-Landwirtschaft, Kindertagesstätte, einer Tagespflege für Demenzkranke, Handwerksbetrieben und mehr.

In Gemeinschaft anders leben

Die meisten Kommunardinnen und Kommunarden leben schon lange in Niederkaufungen. Viele sind seit der Gründerzeit dabei. Sie teilen ihr Einkommen und ihr Vermögen mit allen. Denn in Gemeinschaft anders leben und arbeiten war und ist eine Kernidee der Kommune Niederkaufungen und vieler ähnlicher Projekte. Niemand soll das Recht haben, über andere zu bestimmen. Alle Menschen haben den gleichen Wert. Entscheidungen werden möglichst einvernehmlich getroffen. Man hilft und unterstützt sich gegenseitig, ist füreinander da.
Das Leben in Gemeinschaft ist an vielen Stellen bequemer und einfacher. Alle Einnahmen fließen in eine gemeinsame Kasse, aus der die Kommune sämtliche Ausgaben bezahlt. Handy- und Stromverträge, Versicherungen, Monatskarten für Bus und Bahn, Autos für den gemeinsamen Fuhrpark – die Verwaltung kauft, was die KommunardInnen und Kommunarden im Alltag brauchen. Das ist meist billiger und effizienter, als wenn jeder und jede sich um alles selbst kümmert. Wer Dinge mit anderen teilt und gemeinsam nutzt, entlastet nicht nur Klima und Umwelt. Er oder sie spart auch eine Menge Geld oder kann sich mit wenig Geld sehr viel mehr leisten.

Kommune in der Stadt: Locomuna

Die Stadtkommune Locomuna liegt im Kasseler Vorderen Westen, einer eher teuren, innenstadtnahen Gegend mit viel Grün. Die Straßenbahn hält fast vor der Tür. In einer Fabrikantenvilla aus den 1920er-Jahren und einem umgebauten ehemaligen Ausbildungswohnheim der Deutschen Bahn leben hier rund 20 Menschen auf rund 900 Quadratmetern Wohnfläche zusammen. Auch sie wirtschaften in einen gemeinsamen Topf, betreiben also eine „gemeinsame Ökonomie“.

Ich habe ein Büro hier vor Ort. Ich habe einen Raum, in dem ich Partys feiern kann. Ich habe die Auswahl zwischen drei Terrassen. Ich habe Möglichkeiten, mich hier politisch zu betätigen, ökologisch wirksam zu sein, kreativ tätig zu sein, interessante Leute kennenzulernen, auch ein paar doofe Leute kennenzulernen. Ich habe einfach ein lebendiges Leben.

Stefanie Ross wohnt in Locomuna

Anders als in Niederkaufungen arbeiten die Kommunardinnen und Kommunarden hier allerdings außerhalb in ganz unterschiedlichen Jobs. In der Locomuna lebt ein Heilpraktiker, zwei Menschen, die einen Bioladen betreiben und Leute mit vielen anderen Berufen. Die Gemeinschaft versteht sich seit ihrer Gründung vor 23 Jahren als gelebte soziale Utopie. Der Name Locomuna setzt sich aus dem spanischen loco, also verrückt, und Kommune zusammen.

"Nicht allein im Hamsterrad"

Neben materiellen Vorteilen nennen Kommunardinnen und Kommunarden in der Locomuna, in Niederkaufungen und anderswo vor allem die menschlichen Vorzüge des Gemeinschaftslebens.
Engin Dayogolu ist aus Berlin in die Kommune Niederkaufungen gezogen. Hier arbeitet der Erzieher in der Kommune eigenen Kita: „Das Besondere ist hier eigentlich auch die Art zu leben, wie man sich das eigentlich draußen in der normalen Welt wünscht“, sagt Dayogolu. „Das Problem, dass man in einer Kleinfamilie so viel allein zu stemmen hat, das wird hier aufgefangen. Man ist nicht allein im alltäglichen Hamsterrad.“
Dank gemeinsamer Ökonomie sind Arbeit und Wohnen allen sicher. Niemandem droht eine Kündigung wegen Eigenbedarfs eines Vermieters, oder weil er oder sie die Miete nicht bezahlen kann. Auch wer krank wird, bekommt die Unterstützung der anderen.
Für Familien mit kleinen Kindern hat das Leben in Gemeinschaft viele Vorteile. Die Kleinen haben immer jemanden zum Spielen und viele verschiedene erwachsene Bezugsperson. Sie lernen früh, sich in einer Gemeinschaft zu orientieren und mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt zurecht zu kommen.
Nicht umsonst besagt ein afrikanisches Sprichwort: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind groß zu ziehen. Wenn die Sozialwissenschaftlerin und Locomuna-Bewohnerin Anne-Kathrin Schwab unterwegs ist, muss sie sich um ihren Jungen keine Sorgen machen.
Tunnel zum energiesparenden, ökologischen Trocknen von Wäsche in einem Windkanal in einem Garten
Hier wird die Wäsche von allen in einem energiesparenden Windkanal getrocknet: in der Kommune Niederkaufungen.© imago / ecomedia / robert fishman
In einer Gemeinschaft kommt allerdings nur klar, wer sich öffnet und weiterentwickelt. Diese Erfahrung hat zumindest Anne-Kathrin Schwab gemacht. „Es ist schön und gleichzeitig auch herausfordernd, sich immer wieder neu zu öffnen für diese Menschen und sie auch zuzulassen und sie mit ihren ganzen Einzigartigkeiten und Eigenheiten so zu nehmen, wie sie sind.“

Gesellschaftlichen Wandel vorleben

"Walk your Talk", "lebe nach Deinen Ansprüchen", sagt Anne-Kathrin Schwabs Partner Steffen Emrich, der in der Lebensgemeinschaft Gastwerke weit draußen an der hessisch-niedersächsischen Landesgrenze lebt – auch dies eine Kommune ähnlich der in Niederkaufungen. „Ich will eine Form von gesellschaftlichen Wandel auch so gut es geht vorleben, selber auszuprobieren“, sagt er. „Dass wir umverteilen, dass Leute, die viel Geld verdienen können, auch ökonomisch solidarisch mit denen sind, die das aufgrund ihres Berufes nicht können.“ Solche Ungerechtigkeiten wollen die Kommunen zumindest intern ausgleichen.

Ich finde die Kommune total sinnvoll, was das Kümmern angeht, in Notsituationen, um Kinder, beim Älterwerden. Ein soziales Konstrukt zu schaffen, wo wir füreinander da sind.

Steffen Emrich, Lebensgemeinschaft Gastwerke

Die meisten Kommunardinnen und Kommunarden erleben ihre Lebensweise als Experiment mit offenem Ausgang. Niemand weiß genau, wie viele solcher Kommunen es in Deutschland, Europa oder weltweit gibt. Die Sozialwissenschaftlerin Iris Kunze schätzt, dass es weltweit etwa 12.000 sind – in Deutschland mehrere Hundert.
Kunze forscht seit mehr als zehn Jahren weltweit zu nachhaltiger Lebensweise, Gemeinschaften und sozialer Innovation. Sie hat auch selbst lange in verschiedenen Öko-Gemeinschaften gelebt. „Es gibt einen wachsenden Trend, dass solche Gruppen gegründet werden“, sagt sie.

Ökologische und soziale Aspekte

Wichtig sei diesen Gruppen nicht nur das Soziale und die Frage der Gerechtigkeit, sondern immer stärker ein nachhaltiges Leben, das Umwelt und Klima möglichst wenig belastet. Eine Studie der Uni Kassel von 2004 habe gezeigt, dass Kommunen wie Niederkaufungen oder das Ökodorf Sieben Linden „ein Potenzial haben, bis mehr als ein Drittel des Pro-Kopf-Energieverbrauchs zu reduzieren“, so Kunze. Durch vegane Ernährung, Gemeinschaftsküchen, geteilte Räume und ökologische Bauweise.
Wissenschaftlerin Anne-Kathrin Schwab betont zudem die Rolle der Prosumenten. Das sind, frei übersetzt, Menschen, die Dinge, die sie verbrauchen, möglichst selbst herstellen, zum Beispiel Lebensmittel für den Eigenbedarf.

Selbstversorger und Prosumenten

In Niederkaufungen bringt Kommunarde Max das frisch geerntete Gemüse mit dem Lastenfahrrad zur Küche im Haupthaus. Die Kommune versorgt sich zu einem großen Teil selbst mit Lebensmitteln aus eigenem Bio-Anbau. Im Garten gedeihen Obstbäume, die eigenen Hühner liefern frische Eier. Draußen auf den Feldern wächst Gemüse. Auf einem dazugekauften Hof hat die Kommune eine Milchviehherde mit angeschlossener Käserei aufgebaut.
Bio-Gemüse wird auf einem Fahrradanhänger geliefert
Selbst geerntet, dann mit dem Lastenrad in die Küche gebracht. Die Kommune Niederkaufungen versucht, möglichst viel selbst zu produzieren.© imago / ecomedia / robert fishman
Kommunardin Christiane Rüter hat Landwirtschaft studiert. Einen eigenen Hof könnte sich die 53-Jährige ohne Eigenkapital nicht leisten. In manchen Gegenden haben sich die Preise für Ackerland in den letzten 15 bis 20 Jahren verdreifacht. Entsprechend sind die Pachten gestiegen. Kleinbauern können kaum noch überleben. In der Kommune ist das noch möglich, weil man sich diesem Wettbewerb weitgehend entzogen hat.
Draußen auf den Feldern experimentieren die Kommunen-Landwirte und andere erfolgreich mit regenerativem Landbau, Humus-Aufbau und Agro-Forstwirtschaft, also dem Anbau von Gemüse und Getreide unter Bäumen. Die konventionellen Landwirte im Dorf haben sie anfangs belächelt. Das ändert sich.

Gemeinsame Entscheidungsprozesse

Ausschlaggebend für das Gelingen von Kommunen ist der Umgang mit Konflikten. Entscheidungen müssen so getroffen werden, dass zumindest alle damit leben können. Viele Gemeinschaften sind schon an diesem mühsamen Prozessen gescheitert.
In der Kommune Niederkaufungen treffen sich die Kommunardinnen und Kommunarden jede Woche zum Plenum. In den Anfangsjahren galt hier das Konsensprinzip. Ein Vorschlag war nur angenommen, wenn alle zugestimmt haben. Das hatte große Nachteile, wie sich Kommunardin Annette Birk erinnert. „In der ersten Zeit waren diese Plena ein Ort der Diskussion: Wer am längsten durchhält, gewinnt.“
Inzwischen hat die Kommune ihre Entscheidungsverfahren vereinfacht. „Ich schlage eine Entscheidung vor.“ Diese werde eine Woche lang ausgehängt. „Dann werden Stimmungsbilder erhoben, und wenn es dann noch eine Woche hängt, im Idealfall wenige etwas dagegen haben oder niemand, dann wird es eine Woche später ganz einfach als Entscheidung verlesen.“
Das war nicht immer so. Gunter Kramp arbeitet in der Verwaltung der Kommune Niederkaufungen. Der 50-Jährige erinnert sich an endlose Diskussionen auf Plena. Einzelne konnten wichtige Entscheidungen aller blockieren. Auch eine Form von Macht. Daraus entstanden sei „ein Konsens minus drei. Nach einem längeren Verfahren, wo versucht wird, sich zu verständigen, können bis zu drei Gegenstimmen übergangen werden. Das hat den interessanten Effekt, dass Menschen, die Einwände haben, wesentlich bereiter sind, auf die Position von anderen Menschen, die was voranbringen wollen, einzugehen“, berichtet Kommunarde Gunter Kramp, der in Niederkaufungen in der Verwaltung arbeitet.

Konflikte gehören irgendwie dazu. Wir haben da kein allgemeingültiges Konzept gefunden. Es gibt aber immer wieder neue Dinge, die wir ausprobieren.

Kommunardin Annette Birk

Das Problem: Einerseits sollen alle gehört und bei Entscheidungen, wie es so schön heißt, "mitgenommen werden“. Andererseits ziehen sich Diskussionen dadurch endlos in die Länge. Oft fehlen aber Zeit, Kraft und Geduld, alles auszudiskutieren. Nach einem langen Arbeitstag sind die Menschen erschöpft und müssen auch ihre privaten Dinge regeln.
Hilfreich für derlei schwierige Gruppenprozesse sind Methoden wie die gewaltfreie Kommunikation (GfK) nach Marshall Rosenberg, das systemische Konsensieren oder die Soziokratie. Dabei geht es immer auch darum, Diskussionen zu sortieren und zu versachlichen. Die Kommunen haben von Anfang an vieles ausprobiert, viel falsch gemacht, viel gelernt. Weich gekocht vom endlosen Im-Kreis-sitzen und heftigen Eskalationen sind sie so etwas wie Experten in Sachen Beteiligung und Entscheidungsverfahren geworden.

Methoden gemeinsamer Entscheidungsfindung

Die Gewaltfreie Kommunikation geht davon aus, dass hinter jeder Position und jeder Forderung einer Person ein Bedürfnis steht. Die Teilnehmenden versuchen, dieses zu ermitteln. Dann wird unabhängig von den unterschiedlichen Meinungen und Wünschen gemeinsam nach Wegen gesucht, dieses jeweilige Bedürfnis so zu befriedigen, dass möglichst alle damit gut leben können.
Das systemische Konsensieren hilft dabei, Entscheidungen in strittigen Situationen zu treffen. Statt einer sofortigen Abstimmung über einen Vorschlag sammelt die Runde Bedenken, die jeder und jede Einzelne auf einer Skala von 0 bis 10 beziffert. 0 heißt "keine Einwände", 10 bedeutet "ich bin komplett dagegen". Stehen mehrere Entscheidungsvarianten zur Auswahl, wird der Vorschlag mit den wenigsten Punkten angenommen, oder er kommt im Auswahlverfahren eine Runde weiter.
Dann gibt es noch das Patenschaftsmodell. Die Idee dahinter: Nicht jeder könne mit jedem gleich gut reden und auskommen, erläutert Annette Birk. „Deswegen hat jede und jeder die Möglichkeit, hier drei Personen in diese Spalten einzutragen: Menschen des Vertrauens, an die ich mich wende, wenn ich ein Problem mit jemanden habe.“ 
Stuhlkreis auf einem Rasen
Alles gemeinsam ausdiskutieren: Die Entscheidungsfindung in einer Kommune kann anstrengend und zeitraubend sein.© imago images / Shotshop
Auch mit der Soziokratie können Gruppen schneller Entscheidungen treffen. Aufgaben werden an Arbeitsgruppen, sogenannte Kreise, verteilt. Diese entwickeln für das jeweilige Thema Lösungsvorschläge. In Meinungsbildungsrunden fragen die Beteiligten reihum nach Informationen, die sie für ihre Einschätzung benötigen. Entschieden wird dann nach dem Konsentprinzip. Angenommen ist ein Vorschlag, wenn niemand schwerwiegende Bedenken dagegen hat. Wer solche Bedenken anmelden will, muss diese ausführlich begründen. Wichtig ist dabei, dass alle Stimmen gleich viel Gewicht haben und alle gleichberechtigt gehört werden.
In Niederkaufungen bereiten Kleingruppen die meisten Entscheidungen gründlich vor. So müssen sich nicht mehr alle mit allem befassen. Andere Gemeinschaften wie der Lebensbogen verfahren ähnlich. Unerwünschte Hierarchien und Machtgefälle entstehen schon dadurch, dass Einzelne sich besser ausdrücken können als andere – oder mehr vom jeweiligen Thema verstehen. Da hilft nur, dies anzuerkennen und offen darüber zu sprechen – auch, wenn es schwerfällt.
Über die Jahrzehnte sind schon viele Lebensgemeinschaften und Kommunen zerbrochen – meist lag es am Zwischenmenschlichen. Deshalb achten gut funktionierende Gemeinschaften sehr auf das Soziale. Sie organisieren sich gemeinsame Auszeiten, Gruppentage und Gemeinschaftsabende, auf denen sie sich vor allem miteinander beschäftigen.

Wie baut man eine Kommune?

Achtet darauf, dass ihr genug Leute seid
Wählt die richtigen Leute aus
Trennt das Ökonomische und das Soziale
Schafft klare Strukturen
Schließt Verträge
Feiert eure Erfolge
Pflegt die Außen-Beziehungen der Gemeinschaft

Gemeinschaftsberaterin Eva Stützel hat in den 90er-Jahren das Öko-Gemeinschaftsdorf Sieben Linden in Sachsen-Anhalt mitgegründet und lebt auch weiterhin dort. Im Internet gibt ihre Seite Gemeinschaftskompass.de viele Tipps zur Gründung und Organisation von Lebensgemeinschaften.

Eva Stützel lebt im Ökodorf Siebenlinden in der Altmark, Deutschlands größter Gemeinschaftssiedlung. Hier fließen zwar nicht alle Einnahmen in einen gemeinsamen Topf, doch sehr vieles wird hier gemeinschaftlich organisiert und finanziert. So gehört das Land einer Genossenschaft. Wer einziehen will, muss dafür Anteile an der Ökodorf-Genossenschaft kaufen, laufend Beiträge bezahlen und Gemeinschaftsdienste leisten. Die Mieten gehen an eine gemeinsame Genossenschaft.
90 Prozent der Menschen, die eine solche Gemeinschaft gründen wollen, scheitern schon an der Suche nach einer geeigneten Immobilie für ihr Projekt. Mit den weiter steigenden Preisen wird es immer schwieriger, etwas Geeignetes und Bezahlbares zu finden.

Klare gemeinsame Ziele

Eine Kommune oder Lebensgemeinschaft braucht eine gemeinsame Vision, an der sich alle orientieren können. Berater und Kommunarde Steffen Emrich geht noch weiter. Extrem wichtig sei: „Einigt euch darauf, warum ihr das macht. Ich brauche etwas, das auf einer Werteebene über dem steht, und das mir genügend Kraft gibt, um auch mal durch die eine oder andere Schwierigkeit hindurchzugehen.“ Doch das allein reiche nicht aus. „Ich würde von Anfang an ganz viel Zeit rein investieren, wirklich in die soziale Architektur einer Gemeinschaft, Gemeinschaftswochenenden, Austausch, wenn es mal irgendwo Probleme gibt, Transparenz herstellen.“

Über Geld sprechen

Wichtig ist es auch, von Anfang an über Geld zu reden. Was braucht die Gemeinschaft, was ihre Mitglieder und wollen sie eine gemeinsame Ökonomie, in der sie alles teilen, die Einkommen, die Vermögen. Die Grundregel: Alle Einnahmen fließen in einen gemeinsamen Topf, aus dem die Gemeinschaft alle Ausgaben bestreitet. Gemeinsame Vermögensökonomie heißt dann, dass Neu-Kommunardinnen und -Kommunarden auch ihr Vermögen der Gemeinschaft überschreiben. Auch Erbschaften und Schenkungen gehen in den Gemeinschaftstopf.
Wohnhaus aus Holz mit Sonnenkollektoren für Heizung und Warmwasser. Im Vordergrund ein Holzstapel.
Das Ziel der Gemeinschaft sollte klar sein: Auf Sieben Linden geht es vor allem um eine ökologische Lebensweise.© imago images / Joerg Boethling
Im Lebensbogen fließen solche Einnahmen in die Genossenschaft oder werden für die Zeit „eingefroren“, die jemand in der Gemeinschaft lebt. Die Kommunardinnen und Kommunarden verpflichten sich also für die Zeit, in der sie im Lebensbogen wohnen, das Vermögen nicht zu nutzen. Grund: Niemand soll viel mehr haben, als die anderen, damit es wegen der Ungleichheit keine Spannungen gibt.
Wissenschaftlerin Anne-Kathrin Schwab ist eine der ganz wenigen, die als relativ Wohlhabende in eine Kommune gezogen ist. Sie lebt in der Stadtkommune Locomuna. Ihr eigenes Haus soll sie nun verkaufen und das Geld in die Gemeinschaft einbringen. Leicht fällt ihr das nicht.
Sind solche schweren Entscheidungen mal getroffen, funktionieren die gemeinsamen Ökonomien erstaunlich gut. Ausgenutzt oder übervorteilt fühlt sich kaum jemand, sagt Verwaltungsmann Gunter Kramp.

Einnahmen generieren

Funktionieren kann eine Kommune aber nur, wenn sie genug einnimmt, um die Kosten zu decken. In der Gemeinschaft Lebensbogen generiert das Seminarhaus einen Großteil der Einnahmen. Außerdem verdienen einige Kommunardinnen und Kommunarden ihr Geld außerhalb. Das zahlen sie in den gemeinsamen Topf ein.
Niederkaufungen ist deutlich breiter und diversifizierter aufgestellt. Die Kommunardinnen und Kommunarden betreiben eine Kindertagesstätte eine Tagespflege für Menschen mit Demenzerkrankung, eine Tischlerei, Landwirtschaft, Gemüseanbau und ein Tagungshaus. Hier wie dort reichen die Einnahmen für die Ausgaben. Pro Person brauchen die Kommunen etwa 1000 Euro im Monat. Dank vieler Synergien lebt es sich in Gemeinschaft deutlich günstiger als alleine oder in der Kleinfamilie.
Die gemeinsame, nicht am Profit orientierte Ökonomie schafft auch Freiräume, zum Beispiel für die Pflege Kranker. Eine krebskranke Kommunardin konnte dank der Unterstützung der anderen zu Hause sterben, wie sich Gunter Kramp erinnert. Dennoch brauchen die Kommunen dringend junge Leute.

Eine Gemeinschaft für Alt und Jung

In Niederkaufungen sind 12 von rund 60 Bewohnerinnen über 65. Kinder werden erwachsen und ziehen aus. Junge Menschen interessieren sich durchaus für das Leben in Gemeinschaft, wollen aber nicht nur mit Älteren zusammenwohnen und sich noch nicht auf eine Lebensform und einen Ort festlegen.
Mit grundlegenden Veränderungen tun sich dagegen manche Alt-Kommunarden schwer, auch wenn sie das nicht gerne zugeben. Eine eigene Arbeitsgruppe kümmert sich in Niederkaufungen inzwischen um das Thema. Menschen von außerhalb können Praktika machen und das Kommunenleben ausprobieren.
Der 67-jährige Dieter Junior lebt seit 15 Jahren in Niederkaufungen. Der gelernte Koch hat kürzlich die Gemeinschaftsküche in jüngere Hände abgegeben und ist in Rente gegangen. In der Kommune hat er seinen Frieden gefunden.

Es sprachen: Maria Lang und Andreas Tobias 
Ton: Hermann Leppich
Redaktion:  Martin Hartwig
Regie: Giuseppe Maio

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