"Die Jungfrau in Orléans" in Hamburg

Kraftvolle Ideen fürs Auge

Das Gebäude des Theaters Deutsches Schauspielhaus
Zeigt Köhlers jüngste Inszenierung: Das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg © dpa - picture alliance / Markus Scholz
Von Michael Laages · 31.10.2015
Tilman Köhler inszeniert "Die Jungfrau von Orléans" in Hamburg. Konsequent hat er alles weggestrichen, was er für verzichtbar hält - und so kommt er mit nur zwei Stunden Spielzeit aus. Zum Genuss gerät das Stück aber vor allem wegen der Bühnenbilder von Karoly Risz.
Schillers Klassiker aus dem Jahr 1801 gehört ja nicht unbedingt zu den Stammgästen auf den Spielplänen deutscher Bühnen. Der Stoff hat's auch in sich und fordert viel Haltung – gegenüber der Fabel vom armen Bauernmädchen, das von der Jungfrau Maria persönlich zum Kampf gegen die Invasion der Engländer in Frankreich gerufen wird und das "mit Gottes Hilfe" derart charismatisch in die Schlachten zieht, dass sie die Angreifer quasi im Alleingang besiegt. Sie scheitert jedoch, als sich (gegen die gottesmütterliche Anwei-sung) die Liebe in ihr regt... Die ist nicht vorgesehen im göttlichen Plan. Vor allem dieses Motiv ist Schillers Zutat zum Mythos – tatsächlich schickte die katholische Kirche die echte Jeanne d'Arc als Hexe auf den Scheiterhaufen.
Der vorwiegend in Dresden tätige Regisseur Tilmann Köhler gehört zu den jüngeren Regisseuren, die Klassiker "können"; auch und gerade weil er sich immer um Haltung bemüht. Köhler weiß mit Klassikern umzugehen. Zeigen kann er immer, wohin das Alte heute ganz neu führt. Darum ist jetzt in Hamburg und mit dieser "Jungfrau" viel Gegenwart zu sehen. Und das ist gut so.
Das Bühnenbild liefert Struktur
Zu den unübersehbaren Stärken des Regisseurs gehört der wichtigste Partner, der (fast) immer nur im Doppelpack zu haben ist mit ihm: der Bühnenbildner Karoly Risz. Dessen szenische Entwürfe garantieren Köhlers Inszenierungen stets klare, kraftvolle Ideen fürs Auge und den ersten Blick sowie (was noch wichtiger) ein Maß an Struktur, das in der Folge meistens unausweichlich wird; das heißt: dem Theaterabend Orientierung gibt.
In Hamburg sieht das so aus: Auf die Rückseite von einer Art Stadion-Halbrund blickt das Publikum, und aus dem "Stadion" heraus klingt Kaiser Wilhelms berüchtigte "Hunnen"-Rede, gehalten in Wilhelmshaven anno 1900 bei der Entsendung deutscher Soldaten nach China, wo sie den "Boxeraufstand" niederschlagen sollten. Dann dreht sich das "Stadion", und wir sehen es von innen - wie die glatt-silberne Innenwand von Topf oder Schüssel sieht es nun aus, und vom oberen Rand (fast unmöglich zu erklettern für das Mädchen, das drinnen hockt) tönen weitere Reden, die zu Schlacht und Kampf aufrufen: von Winston Churchill, George W. Bush und vielen anderen; auch im Stile fremdenfeindlicher Hassprediger von heute.
Dann kommt des Mädchens Papa in den Saal gerauscht; und agitiert: Zwar ziert ihn ein keckes Baskenmützchen, aber was er sagt, verwandelt sich immer deutlicher zu nationalistischem Gelärme; der Schauspieler Josef Ostendorf fügt (damit's auch der und die letzte kapiert) in der Premiere das vermaledeite "Lügenpresse"-Wort hinzu, als er endlich geht. Aber dieser ganze Chor aus Kampf und Schlacht, Feindbild und Hass und Tod, hat - das wird klar- wie die "göttliche Berufung", wie die Erscheinung der Mutter Gottes bei Schiller und im Mythos den Boden bereitet, für das, was jetzt passiert. Das Mädchen ist nun konditioniert für die Karriere als Kriegerin; wirft sich in Kampfkluft wie für den Straßenkampf und erklimmt im zweiten Versuch die Höhe der silbernen Steilwand, um oben mit beiden Armen das "Victory"-Zeichen zu zeigen. Sie ist bereit. Sie zieht in die Schlacht.
Das Stück verblüfft und überzeugt
Und sie tut nun Wunder - wendet das Kriegsglück des schon in tiefe Depression verfallenen Franzosen-Königs Karl, unterwirft den vom König abgefallenen Herzog von Burgund, metzelt die englischen Invasoren ab wie den jungen Rekruten Montgomery. Der Sieg ist total - nur über sich selber wird Johanna nicht siegen. Erst wollte der König sie zum Lohn günstig verheiraten - aber sie will nicht; und ausgerechnet in der Begegnung mit dem englischen Krieger Lionel packt sie die Liebe, das Verlangen... Nach der Krönung übergibt sie sich den Engländern - und stirbt im Kampf; nicht (wie in der Wirklichkeit) auf dem Scheiterhaufen.
Schon bei Schiller wendete sich ja die Bühnen-Fabel en detail und en gros gegen die Überlieferung; Tilmann Köhler heute nimmt nichts anderes ins Visier des zeitgenössischen Blicks. Seine Johanna (gespielt von der grandiosen Anne Müller, einer schmalen, zarten Schauspielerin, die über das seltene Talent verfügt, zu "brennen" auf der Bühne, wie im Furor pur!) zieht in die Schlachten von heute, die sich längst wieder aller Vernunft, aller Politik, aller abwägenden Diplomatie zu entziehen beginnen.
Und was nicht passt zu dieser Orientierung im Umgang mit dem Klassiker, ist konsequent gestrichen - Schillers "Jungfrau" kommt in Hamburg mit weniger als zwei Stunden aus. Und selbst die könnten zuweilen noch etwas mehr Tempo vertragen... so verblüfft dieser Schiller und überzeugt.
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