Eine junge Frau, "die Menschen einfach beeindruckt"

Malte Prietzel im Gespräch mit Dieter Kassel · 06.01.2012
Sandte sie Gott oder sandte sie der Teufel? So fragten die Zeitgenossen. Doch im Nachhinein wurde Jeanne d'Arc von allen Parteien vereinnahmt, berichtet der Historiker Malte Prietzel, der ein Buch über die vor 600 Jahren geborene Jungfrau von Orléans schrieb.
Dieter Kassel: Die katholische Kirche und die Anglikaner, die Anhänger der Französischen Revolution und die Anhänger des Bürgertums, die Résistance in Frankreich zur Zeit der Besetzung durch die Nationalsozialisten und neuerdings auch die französischen Rechten – sie alle verehren die Jungfrau von Orleans und feiern deshalb heute ganz groß, denn heute ist der 600. Geburtstag der Jeanne d’Arc. Bevor wir über den Mythos reden, hier ein paar Fakten, Beitrag in Informationen am Mittag, Deutschlandfunk(MP3-Audio) zusammengetragen von Sarah Zerback.

Über den Mythos und vor allem über die Fakten dahinter wollen wir uns jetzt mit Professor Malte Prietzel unterhalten, er unterrichtet Geschichte des Mittelalters an der Berliner Humboldt-Universität und er ist der Autor des Buches "Jeanne d’Arc – das Leben einer Legende". Schönen guten Tag, Herr Prietzel!

Malte Prietzel: Guten Tag!

Kassel: Eines ist unbestritten so passiert, und es ist für mich bis heute unverständlich. Im Jahr 1429 reiste Jeanne d’Arc an den Hof des französischen Königs – König war er schon, gekrönt offiziell noch nicht – Karl VII., reiste an diesen Hof und teilte mit, im Traum, in einer Vision hätten ihr drei Heilige erzählt, sie werde die Belagerung von Orléans beenden und dann den König nach Reims führen zur Königsweihe. Ein Bauernmädchen, je nach Schätzung des Geburtsdatums 17 oder 18 Jahre alt damals. Warum hat man die nicht einfach für verrückt erklärt und wieder nach Hause geschickt?

Prietzel: Nun, zum einen hat man sehr sorgfältig untersucht, ob sie nicht doch verrückt ist. Aber sie machte offensichtlich einen vernünftigen Eindruck – man hat vor allen Dingen auch untersucht, ob eben nicht Gott womöglich der Urheber der Visionen sei, sondern der Teufel. Und nachdem man das geklärt hat, hat man sie schließlich erst zum König vorgelassen. Dahinter steht aber auch, dass es am Hof eine Gruppierung gab, die besonders daran interessiert war, dass die Stadt Orléans, die damals gerade belagert wurde, eben nicht fiel, nämlich die Anhänger des Herzogs von Orléans, und diese Personen waren nun daran interessiert, alles zu tun, um diese Belagerung aufzuheben. Und in dieser Situation waren sie nun offensichtlich psychologisch eher bereit, an eine von Gott Gesandte zu glauben, als Leute, die weniger zu verlieren hatten in dieser Situation.

Kassel: Mit anderen Worten, damals, im Februar/März 1429, kam sie auch zur rechten Zeit?

Prietzel: Sie kam genau zur rechten Zeit, insofern, als eben man am Hof sehr erfreut war, dass man eine solche Chance bekam. Man hat sicherlich eine Unternehmung gegen Orléans ohnehin geplant, und nun hat man es eben mit diesem Bauernmädchen, das vielleicht von Gott gesandt war, einfach einmal versucht. Und es war ein Erfolg.

Kassel: Man hat es mal versucht, hätte ja heißen können, man hätte sie als Symbolfigur irgendwo hinstellen können oder sie einfach am damaligen Königssitz sitzen lassen, während man diese Belagerung bekämpft. Das ist aber nicht so gewesen, wir kennen ja diese Darstellungen von Jeanne d’Arc als Kriegerin im Harnisch – im frühen 15. Jahrhundert, eine Frau als Kämpferin –, wieso hat man ihr das erlaubt?

Prietzel: Man hat es ihr wahrscheinlich nicht wirklich erlaubt, das zu tun, was sie tatsächlich getan hat. Nur wenn jemand von Gott gesandt ist, dann darf er natürlich so handeln, wie Gott das will. Und man hat sich dann offensichtlich überlegt, wie man Jeanne d’Arc in den Kampf schickt. Man musste sie schon mitschicken als von Gott Gesandte, die das Heer dann auch leiten soll, und man hat offenbar praktische Maßnahmen ergriffen dahingehend, dass sie zum Beispiel Dienerschaft bekam, dass sie ein paar Soldaten bekam, die sie – ja, man kann sagen, anführt, man kann aber auch sagen, dass das gewissermaßen eine Art Leibwache war. Und dann, als Jeanne d’Arc eben vor Orléans war, da hat sie das Heft in die Hand genommen. Sie hat sich eben nicht an das gehalten, was wohl andere vorgesehen haben, dass sie so als Symbolfigur mitgetragen wird bei den Kämpfen, sondern sie hat selbst eingegriffen. Sie hat selbst den Kampf gesucht, hat sich im Kampf engagiert, hat sich persönlich dem Gefecht auch ausgesetzt, ist ja auch verwundet worden. Das war sicherlich so nicht beabsichtigt, und das trug dann aber eben auch zu ihrem Mythos bei, weil sie eben durch diesen eigenen Einsatz ihre Leute mitgerissen hat.

Kassel: Wir reden heute an dem Tag, der nach Meinung vieler historisch – wirklich ganz sicher haltbar ist das so auf den Tag genau nicht – der 600. Geburtstag von Jeanne d’Arc ist, mit dem Historiker Malte Prietzel über diese Legende. Und nun kommen wir mal auf den Legendenteil, Herr Prietzel. Was mich bis heute fasziniert, ist, wie viele völlig unterschiedliche, manchmal gegensätzliche – was die Weltanschauung angeht – Gruppen sie – so muss man das wohl nennen – vereinnahmt haben im Laufe der Jahrhunderte. Nehmen wir die Französische Revolution später, da waren es die Bürgerlichen genau so wie ihre Gegner. Nehmen wir die Kirchen, die katholische Kirche hat sich irgendwann mit ihr versöhnt im frühen 20. Jahrhundert, sie zuerst selig, dann heilig gesprochen – aber die Briten, die Engländer waren ihre Erzfeinde, aber als Maid of Orleans ist sie auch da beliebt, die anglikanische Kirche verehrt sie. Wie passt das alles zusammen?

Prietzel: Jeanne d’Arc stand sehr bald eben nicht mehr nur für das, was sie eigentlich getan hat, sondern dieses konkrete Handeln wurde gewissermaßen abstrahiert von ihrer Person und von den konkreten Umständen. Eine junge Frau ohne jede weltliche Macht, überzeugt von einer Sendung, setzt sich für etwas ein, was sie für gut hält. Das ist der Kern des Mythos, und der lässt sich eben auf andere Umstände übertragen. Auch wenn man eben nicht Royalist ist, wenn man nicht die Engländer hasst, wenn man nicht Orléans befreien will, ist das eben etwas, was Menschen einfach beeindruckt: Ein ohnmächtiger Mensch, der selbst sein Leben opfert für ein Ziel.

Wie gesagt, dieser Kern, dieses Mädchen, das sich für etwas einsetzt, das lässt sich dann für verschiedene andere Zusammenhänge umdeuten. Das ist dann zum Beispiel eben das Mädchen, das an Gott glaubt, ganz fest – in einer scheinbar sonst gottlosen Zeit kann man das gut verkaufen. Natürlich ist das etwas, was sehr gut ankommt bei den Gläubigen, das ist aber eben auch ein junges Mädchen, das sich gegen Fremdherrschaft wehrt. Und ob das dann die Engländer im 15. Jahrhundert oder die Deutschen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sind, geht dann eben auch. Und die kann eben sogar bei Bert Brecht als eine Art Kapitalismuskritikerin eingesetzt werden, weil diese Figur das einfach hergibt.

Kassel: Jetzt sind wir bei der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe", aber wo Sie gerade darüber gesprochen haben, dass Jeanne ja auch – na ja, ich würde gern auf die Front National nämlich kommen, die sie heute ja auch vereinnahmt in Frankreich, an einer Stelle auch sagt, laut Ihrem Buch, dass es ihr gar nicht reicht, die Engländer nicht zu mögen, sich dringend zu wünschen, dass sie Frankreich verlassen, sondern man muss sie hassen. Nun war das aber das frühe Mittelalter, und auf der anderen Seite kam jemand wie Jeanne auch aus einer Grenzregion …

Prietzel: Ja.

Kassel: … also das Fremde war ihr sozusagen nicht grundsätzlich fremd. Was würde die heute wahrscheinlich dazu sagen, wenn sie hört, wie die Front National sie vereinnahmt als Symbol im Kampf gegen Migranten?

Prietzel: Sie würde es einfach nicht verstehen, nicht? Also die Migranten, um die es dem Front National geht, kannte sie ja nicht. Was sie als Fremde kannte, waren halt Engländer, die anders gesprochen haben, die aber an sich, gerade was die Oberschicht angeht, eine ganz ähnliche Kultur hatten wie die französische Oberschicht. Und diese Fremden waren für sie ja nicht einfach nur als Fremde hassenswert, sondern als fremde Soldaten – als fremde Soldaten, die mit Waffengewalt in Frankreich standen und aus ihrer Sicht eben Frankreich unterdrückt haben. Das ist etwas ganz anderes, als ob man natürlich Tür an Tür einfach mit Türken oder Arabern wohnt, oder auch mit Briten. Insofern hätte ihr jedes Verständnis überhaupt für diesen Rassismus gefehlt.

Kassel: Wer sie nicht für sich vereinnahmt hat, ist die Zunft der Psychotherapeuten, aber die haben sich natürlich auch mit Jeanne d’Arc beschäftigt. Eine Psychoanalyse nach 580 Jahren ist nicht leicht, das macht auch ein seriöser Wissenschaftler nicht. Aber stark verkürzt ist sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in irgendeiner Form schizophren gewesen oder etwas Ähnliches, weil dann hört man ja Stimmen. Da stöhnen Sie schon! Das heißt, diese Ansicht hat sich nie so durchgesetzt.

Prietzel: Ja … Nein. Also das Problem ist zum einen, wie Sie schon sagen, man kann das bei Toten nicht mehr feststellen, nicht? Das ist das eine, das andere ist: Wir können ja noch nicht einmal Jeanne d’Arc selbst lesen. Das ginge ja noch, wenn wir wirklich Zeugnisse haben von jemandem, der selbst geschrieben hat. Und das könnte man dann vergleichen mit heutigen Selbstzeugnissen von zum Beispiel Schizophrenen oder so, aber das ist es ja nicht. Es sind immer andere, die über sie berichten. Und diese anderen wissen gar nicht, dass es Schizophrenie gibt. Die sehen das nur unter dem Blickwinkel: Kommt sie von Gott oder kommt sie vom Teufel? Und unter diesem Blickwinkel sind sämtliche Quellen entstanden. Die Möglichkeit, dass sie geisteskrank war, das haben Sie am Anfang ja schon mal angedeutet, sieht man durchaus, aber man schiebt sie relativ schnell beiseite, weil sich Jeanne offensichtlich im alltäglichen Leben relativ normal verhält. Also auch wenn sie geisteskrank war in irgendeiner Art und Weise, es hat für ihre Zeitgenossen keine Rolle spielen können, weil den Zeitgenossen jeder Begriff für eine Geisteskrankheit dieser Art – jeder genauere Begriff jedenfalls fehlte.

Kassel: Und heute wollen natürlich die Leute, die ihren Geburtstag heute feiern wollen – ob der nun wirklich heute ist, historisch gesehen, oder nicht – auch nicht darüber diskutieren, ob nun ihre Heldin schizophren war oder nicht. Dann tun wir beide das jetzt auch nicht weiter.

Prietzel: Gut.

Kassel: Der Historiker Malte Prietzel, Autor des Buches "Jeanne d’Arc – das Leben einer Legende" war bei uns zu Gast und wir haben über die Legende, die – jetzt sagen wir es mal freundlich – ungefähr jetzt tatsächlich ihren 600. Geburtstag hat, gesprochen. Ich danke Ihnen sehr fürs Kommen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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