Die Berliner Gropiusstadt

Bestandsaufnahme zum 50.Todestag des Architekten

10:37 Minuten
Blick auf die Hochhäuser der Berliner Gropiusstadt.
Blick auf die Hochhäuser der Gropiusstadt in Berlin © imago images / Schöning
Von Anja Nehls · 05.07.2019
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Der Architekt Walter Gropius hat Berlin geprägt. Nach ihm ist die Gropiusstadt benannt. Sein Auftrag damals: Viel Wohnraum für viele Menschen zu schaffen. Heute steigt die Einwohnerzahl in der Gropiusstadt, der Ruf allerdings hat sich verändert.
Nachbarschaftsfest vor dem U-Bahnhof Lipschitzallee im Berliner Süden. Auf dem großen Platz stehen Bierbänke und Tische, es gibt Buletten und Döner, Kinder spielen, Anwohner kommen ins Gespräch – die Anwohner der Gropiusstadt, benannt nach ihrem Architekten Walter Gropius.
Vom Platz aus sieht man Mehrgeschosser in unterschiedlichen Größen, Formen und Farben, das halbrunde Gropius Haus mit 17 Etagen, neunstöckige kettenförmig aneinandergereihte Wohnblöcke, mittelhohe Plattenbauten und ein paar Reihenhäuser. Dazwischen immer wieder Grün, Bäume, Büsche und kleine Parks und darüber leuchten die Hochhäuser.

Von wegen monotone Trabantenstadt

Viele der hier feiernden Menschen leben in diesen Hochhäusern schon ihr ganzes Leben lang: "Ich wohne seit mittlerweile 51 Jahren tatsächlich hier, bin also hier geboren in der Gropiusstadt. Ich war woanders, tatsächlich, aber ich bin wieder zurückgekommen, weil ich merke, dass meine Kraft hier am stärksten ist. Ich mag diese Vielfalt in der Gropiusstadt, dass es da eben diese Mischung gibt, diese Grünzüge dazwischen, ich kann hier mit dem Fahrrad unterwegs sein, ohne Hauptstraßen zu benutzen, total toll, obwohl hier 36.000 Leute wohnen."
Die meisten hier leben gerne in der Gropiusstadt. Als öde Trabantenstadt, Schlafsilo, Ausländer-Getto oder Hartz-4-Viertel bezeichnen die Siedlung eher die, die nicht hier leben. Weil sie eben nicht wissen, was die Gropiusstadt wirklich ausmacht, sagt Stadtplaner Jan Hendrik Brinkötter. Er hat über das Viertel bereits während seines Studiums geforscht und zeigt immer mal wieder Interessierten, dass das Ganze mit monotoner Trabantenstadtarchitektur nicht das Geringste zu tun hat:
"Im Gegenteil, es ist nicht monoton, was die Höhe der Gebäude angeht, was die Ausgestaltung, was die verwendeten Materialien angeht. Da haben wir hier ein ganz unterschiedliches Bild und man sieht ganz unterschiedliche Dinge."

Berlins höchstes Hochhaus

Zum Beispiel Berlins höchstes Wohnhaus, das Ideal Hochhaus, entworfen vom Architekten Walter Gropius persönlich: Im Erdgeschoss des Gebäudes, gleich hinter mehreren Reihen dicht gedrängter Briefkästen, hält rumpelnd ein in die Jahre gekommener Fahrstuhl.
"Natürlich immer wieder überholt der Fahrstuhl, aber Baujahr 1968", erklärt Jan Brinkötter und drückt den obersten Knopf. 29. Etage – das Haus hat allerdings 31 Stockwerke.
"Der Fahrstuhl fährt gar nicht bis nach oben. Das Gebäude wurde ursprünglich mit 27 Etagen projektiert, damals war Walter Gropius schon reichlich unglücklich darüber, weil er es gar nicht so hoch haben wollte. Während der Bauzeit wurde noch mal auf 29 aufgestockt. Es gibt ein schönes Bild, auf dem Walter Gropius oben im 29. Stock steht und herauswinkt und dann ist es noch mal erhöht worden, weil am Zwickauer Damm ein anderer Architekt gesagt hat, ich möchte aber der höchste sein und auch noch mal höher agiert hat."

Neues Viertel in engen Grenzen

Aber dann baute doch Walter Gropius das höchste Haus in der Gropiusstadt, die Ende der 60er, Anfang der 70er-Jahre im Berliner Süden entstand, aber damals noch nicht so hieß. Am 7. November 1962 legt Willy Brandt, der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, den Grundstein:
"Glück und Erfolg den Männern vom Bau, die hier schaffen werden. Glück und Erfolg den Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die hier wohnen werden. Glück und Erfolg unserem geliebten Berlin."
Gemeint war Westberlin, das zu diesem Zeitpunkt seit einem Jahr durch die Mauer von Ostberlin getrennt war und nun wie eine Insel inmitten des Gebiets der damaligen DDR lag. Möglichkeiten zu expandieren hatte Westberlin nun nicht mehr, das wusste auch der Architekt Walter Gropius. Das neue Viertel war jetzt für die Stadt lebenswichtig:
"Für die nervenerprobten tapferen Berliner, die dicht an der Ostsektorengrenze bald ein neues Leben anfangen werden."

Viel Wohnraum für viele Menschen

Allerdings anders, als Gropius sich das vorgestellt hatte. Statt einer großzügigen Gartenstadtarchitektur, lautete nun die Vorgabe des Berliner Senats, möglichst viel Wohnraum für möglichst viele Menschen zu bauen. Walter Gropius Masterplan wurde deshalb abgeändert. Die Häuser sollten dichter stehen und höher sein, um mehr Bewohnern Platz zu bieten.
Nicht zur Freude des Chefs, erinnert sich sein ehemaliger Mitarbeiter Arnold Körte, der zusammen mit Gropius von dessen Büro in den USA aus, die Entwicklungen in Berlin verfolgte:
"Und wir hatten dieses wunderschöne Modell da in Cambridge, ein Tischmodell, was den ganzen Raum ausgefüllt hat. Und dann kamen so merkwürdige Nachrichten oder eben Nichtnachrichten, wo wir uns gewundert haben, ja was ist da eigentlich los. Und dann stellte sich heraus, dass andere Architekten beauftragt werden, ohne dass man mit Gropius Rücksprache hielt. Und dass vor allem die Belegungszahl plötzlich verdoppelt wurde. Also statt 20 oder 25.000 Menschen waren es dann 50.000, die da untergebracht werden sollten."

Neue Silhouette

Dennoch versuchte Gropius so viel wie möglich von seinen architektonischen Ideen umzusetzen. Auf keinen Fall sollten die Häuser oben einfach wie ein abgeschnittener Klotz wirken. Die obersten Stockwerke sollten anders gestaltet werden, erklärt Arnold Körte:
"Und er hat dann durchgesetzt, dass die obersten Geschosse als Maisonette ausgebildet werden, sodass die Dachlinie eine andere Silhouette hat oben und die Maisonetten natürlich zweigeschossig waren. Und das gibt einen ganz anderen Charakter, das gibt einen eindeutigen Abschluss für ein Hochhaus. Und unten an der Basis genauso. Er wollte, dass unten immer erstmal zwei Geschosse hoch in der Lobby, im Eingang offen bleibt, damit man dahinter das Grün und die Bäume sieht."

Walter Gropius starb am 5. Juli. 1969 – genau vor 50 Jahren. Das Richtfest des von ihm geplanten Ideal Hochhauses im September 1968 erlebte er noch mit. Ein Bau, der an eine Skulptur erinnert, mit Vorsprüngen, aus der Fassade herausragenden Elementen und abgeschrägten Ecken, ursprünglich weiß und grau, jetzt farblich abgesetzt mit blassem rot, blau und hellbraun. Für das ebenfalls von ihm entworfene halbrunde Gropiushaus wurde der Grundstein erst nach seinem Tod gelegt. Durch die gebogenen Platten und die schlechte Bodenqualität an dieser Stelle ein immens teures Projekt, für das sich der Vorstand der Wohnungsbaugesellschaft Gehag damals persönlich einsetzte, erklärt Jan Brinkötter:
"Weil er gesagt hat, wir müssen doch wenigsten irgendetwas, was Walter Gropius auszeichnete für seine Siedlungskonzeption, irgendetwas müssen wir von ihm doch noch haben, dann nehme ich das Geld in die Hand und dann lasst uns doch wenigstens dieses Halbrund verwirklichen, damit die Gropiusstadt dann wenigstens zu Recht ihren Namen tragen kann."
Den Namen Gropiusstadt bekam sie in Anwesenheit von Walter Gropius Witwe 1972 bei der Grundsteinlegung für das Halbrund. In anderen Bereichen des Viertels verwirklichten sich zwar andere Architekten, folgten aber im wesentlichen Gropius Masterplan.
Walter Gropius (l.) und der Berliner Bausenator Rolf Schwedler 1968.
Walter Gropius (l.) und der Berliner Bausenator Rolf Schwedler 1968.© picture alliance / dpa / Barfknecht

Verdichtung führte zu Problemen

Das Mehr an Wohnraum sorgte dann aber auch für mehr Probleme. Die Infrastruktur, Schulen, Kindergärten, Läden, Gemeinschaftsflächen, hielt zunächst mit der Verdichtung nicht mit, weil die benötigte Fläche dafür nicht miteingeplant wurde. Nachträglich wurde also herumgedoktert und in den 70er Jahren geriet die Siedlung als sozialer Brennpunkt in Verruf. Bundesweit bekannt wurde sie durch die hier aufgewachsene drogenabhängige Prostituierte Christiane F und ihr Buch: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo.
Es gab Probleme mit Müll und Verwahrlosung, zwischen Deutschen und Ausländern, der soziale Frieden war gestört. Nach der Wende und der Maueröffnung wurde es zunächst nicht besser. Wer es sich leisten konnte, konnte nun wegziehen, aber Alte, Arme und Migranten blieben. Seit über zehn Jahren gibt es nun ein Quartiersmanagement in der Gropiusstadt. Vieles ist seitdem besser, schöner, sauberer und friedlicher geworden – aber längst nicht alles läuft wie gewünscht, erzählen Petra Haumersen und Selma Tuslali vom Quartiersmanagement:
"Hier waren die Hauptprobleme die sich verändernde Nachbarschaft, Bildungsdefizite in der Bevölkerung und wenn man es mal ganz platt formuliert Armut. Es gab einen kontinuierlichen Zuzug, eigentlich muss man sagen gibt einen kontinuierlichen Zuzug von Bewohnern nichtdeutscher Herkunft, mit denen taten sich die alteingesessenen Gropiusstädter ziemlich schwer. – Und man muss auch sagen, es gibt hier doch ganz schön Rassismus, versteckt zwar, nicht offen, aber wenn irgendwo Müll liegt, dann waren es die mit den schwarzen Haaren."

Zahl der Menschen in Gropiusstadt steigt weiter

Jeder zweite Bewohner der Gropiusstadt hat einen Migrationshintergrund. Viele Menschen leben von Hartz 4. Die Mieten steigen zwar auch hier, sind aber im Vergleich zum übrigen Berlin noch erschwinglich, und das führe zu neuen Problemen, sagt Petra Haumersen.
"Armut ist wirklich hier das größte Problem der Bewohnerschaft. Es gibt einfach viele, die nicht das Geld aufbringen auch für die kleinen gestiegenen Mieten nicht, die holen dann einfach noch Verwandte mit in die Wohnung, um sich die Miete weiterhin leisten zu können weil es kaum noch Möglichkeiten gibt, auszuweichen."
Also steigt die Zahl der Menschen in der Gropiusstadt weiter und weiter. Dennoch sei der Umgang miteinander entspannter geworden, sagen zumindest die Menschen auf dem Nachbarschaftsfest. Die wenigsten, die einmal hier angekommen sind, wollen wieder wegziehen, sagen Matthias Krebs vom Projekt Nachbarschaftslotsen, der sich gerade mit einer älteren Dame aus dem Haus gegenüber unterhält:
"Weil ich die Gropiusstädter mag, weil sie einfach so einen Kern haben, wo man durch muss und wenn man sie dann hat auf seiner Seite, dann sind sie einfach großartig. Wenn das erst mal aufgeknackt ist, dann gibt’s da auch kein 'wo kommst du her' oder Migrationshintergrund, sondern dann sind die Gropiusstädter total herzlich. Das sind sehr liebe Menschen, die Hausgemeinschaft, die sind alle behilflich. Man hat mich schon gebeten wegzuziehen wegen der Krankheit, ins Heim. Da habe ich gesagt Nix, ich habe Freunde hier, ich brauche kein Heim."
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