Die Ästhetik des Zirkus

Magische Live-Performance - auch für Digital Natives

Ein Elefant in der Manege, er hebt ein Vorderbein
Ein Elefant in der Manege vom Circus Krone © dpa/ picture-alliance/ Andreas Gebert
Margarete Fuchs im Gespräch mit Ute Welty · 19.11.2016
Der Zirkus ist für viele ein Sehnsuchtsort aus Kindertagen. Eine wissenschaftliche Tagung in Marburg fragt nun nach dessen Ästhetik. Expertin Margarete Fuchs ist überzeugt, dass der Zirkus auch die Generation Smartphone begeistern kann.
Der Zirkus ist für viele von uns ein romantischer Ort, an dem wir wieder zum Kind werden: mit Artisten, Clowns und wilden Tieren in der Manege. Nun befasst sich die Tagung "Manegenkünste. Zirkus als ästhetisches Modell" an der Universität Marburg mit dem Zirkus als wissenschaftlichem Gegenstand.
Zirkus als Forschungsgebiet sei in Deutschland noch unterentwickelt – dabei komme er als Kulisse gefühlt in "jedem dritten ‚Tatort‘" vor, sagt die Literaturwissenschaftlerin und Theaterexpertin Margarete Fuchs. In Ländern wie Schweden, Frankreich und Kanada dagegen gebe es sogar zirkuswissenschaftliche Institute.
Am Zirkus lasse sich gut auch der Wandel der Zeit ablesen – etwa anhand seiner Reformation:
"Diese Reformation ist eigentlich schon längst im Gange. Beziehungsweise: Es gibt ja eigentlich zwei Formen des Zirkus: Diese traditionelle Form – das, was wir ganz nostalgisch als Zirkus mit Tieren und Clowns und allem möglichen so ansehen. Den gibt es ja immer noch. Aber zunehmend kommen ja neue Zirkusformen immer stärker hervor. Denken Sie zum Beispiel an den Cirque du Soleil. Das sind ja längst etablierte Zirkusformen, die ganz ohne Tiere auskommen."
In den Zirkussen neuen Typs habe die reine Abfolge von artistischen Nummern einem dramaturgischen Gesamtkonzept Platz gemacht, das eine Art Geschichte erzähle.
Interessant auch: In Zeiten, in denen im Kino und im Fernsehen immer größere Sensationen und riskantere Aktionen geboten würden, schlage der Zirkus eher eine Gegenrichtung ein. Ein Beispiel: Zirkusse legten heute mehr Wert auf die Sicherheit ihrer Artisten. Seiltanz-Akrobaten würden heute nicht mehr in zehn Metern Höhe, sondern nur noch in zwei Metern Höhe ihre kunstvollen Nummern vorführen.
Kann man die Generation der aufs Smartphone und auf virtuelle Welten fixierten Digital Natives denn heute noch für den Zirkus gewinnen?
Margarete Fuchs ist davon überzeugt:
"Ich glaube schon, dass neue Formen (von Zirkus) sie auf jeden Fall erreichen werden. Zum einen dieses Live-Erlebnis, das der Zirkus zu bieten hat – das kann kein Medium genauso wiedergeben, sondern das ist eine Live-Performance, die schon ihren ganz eigenen Charme hat."
Als zusätzlicher Reiz komme dann noch dieses romantische Bild von Zirkus hinzu, das die meisten von uns hätten. Es wirke immer noch so stark, dass es "vielleicht auch die Leute von den Bildschirmen weglocken kann."

Das Interview im Wortlaut:

Ute Welty: Charlie Chaplin, Heinz Rühmann, Burt Lancaster, Louis de Funès oder auch Reese Witherspoon, all diese Schauspieler waren irgendwann einmal auch Stars in der Manege, tauchten ein in die Welt unterm Zirkuszelt, die nicht nur für Filmemacher faszinierend war und ist. In Marburg beispielsweise beschäftigt sich eine international besetzte Tagung mit dem Zirkus als ästhetisches Modell. Und diese Tagung hat organisiert Margarete Fuchs, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neuere deutsche Literatur der Universität Marburg. Guten Morgen, Frau Fuchs!
Margarete Fuchs: Ja, guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Was hat Sie veranlasst, den Zirkus wissenschaftlich betrachten zu wollen?
Fuchs: Ja, als ich irgendwann mal festgestellt habe, dass der Zirkus ein ganz enorm wichtiger Bestandteil der Unterhaltung und Populärkultur war, also vor allem so ab Mitte, Ende des 19. Jahrhunderts bis irgendwie 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein, habe ich mich gewundert, dass der bisher wissenschaftlich einfach gar nicht oder kaum wahrgenommen wurde.

Keine hohe Kunst?

Ja, vielleicht weil der Zirkus nicht zu den hohen Künsten gehört wie so Literatur oder Theater oder bildende Kunst oder der Film, also, da spielen sicher verschiedene Sachen eine Rolle, aber das hat mich dann doch ein bisschen gewundert. Und dann habe ich gedacht, gerade dem Phänomen möchte ich mich dann zuwenden.
Welty: Ich habe ja eben die diversen Filme aufgezählt zum Thema Zirkus, es gibt aber auch etliche Romane, die in dieser Zirkuswelt spielen. Warum ist das so ein dankbares Umfeld für Geschichten?
Fuchs: Ja, das ist natürlich … Also, dieser Frage sind wir genau nachgegangen, unter anderem natürlich, bei unserer Tagung und haben versucht, verschiedene Antworten zu geben. Unter anderem ist eine vielleicht so, der Zirkus ist wie so eine Art Mikrokosmos, in dem sich ganz viel verdichtet und widerspiegelt, was in der Welt außerhalb des Zirkus passiert.
Aber er ist nicht nur eine Widerspiegelung, sondern entwirft ja auch mögliche Welten, er ist selber ja wie so eine Art fiktive Welt. Und das, glaube ich, macht den Zirkus ganz attraktiv für Literatur und Filme, die ja auch fiktive Welten entwerfen. Und da können die sich dann gegenseitig spiegeln, glaube ich.

Jeder dritte "Tatort" spielt im Zirkus

Welty: Wenn Sie sagen, Sie wollen den Zirkus als ästhetisches Modell untersuchen, woraus besteht dieses Modell und für was steht es?
Fuchs: Ja, also, der Zirkus taucht ja eben nicht nur in echt auf dem Festplatz oder so auf, sondern taucht ja auch genauso in ganz vielen unterschiedlichen Medien auf. Sie hatten ja schon die Texte erwähnt, die Filme, aber auch in Bilderbüchern. Oder gefühlt spielt ja etwa jeder dritte "Tatort" im Zirkusmilieu.
Welty: Ja, ungefähr!
Fuchs: Genau! Und das ist ja nicht der echte Zirkus, den wir da in diesen Büchern und Filmen und so weiter vorgeführt bekommen, sondern das sind ja bestimmte Vorstellungen und Entwürfe und Wahrnehmungen von Zirkus, also alles Bilder von dem, wie wir uns vorstellen, wie der Zirkus tatsächlich sei. Und diese Bilder prägen uns natürlich auch und unsere Erwartungen an den echten Zirkus.
Und genau diese Bilder, denen sind wir so ein bisschen nachgegangen, diesen Entwürfen von Zirkus, wie die in diesen verschiedenen Medien funktionieren, warum die da auftauchen oder ob das auch Auswirkungen hat auf die Struktur von den Texten selbst oder von den Filmen selbst zum Beispiel. Also, dass plötzlich ein Text oder ein Film zirkushaft ist, also nicht nur in der Art und Weise, was er darstellt, sondern auch wie er gemacht ist zum Beispiel.
Welty: Zur Tagung kommen ja nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Zirkuskünstler. Was haben die sich gegenseitig zu sagen?
Fuchs: Also, das waren Zirkuskünstler oder sind Zirkuskünstler vielmehr, die sich einfach beispielsweise überlegt haben, eine Artistin Schrägstrich Wissenschaftlerin, die sich gefragt hat: Was passiert, wenn man einen Handstand einübt? Das übt man ja erst mal ganz im Stillen für sich, also fast mehr so Art meditative Tätigkeit, und was passiert, wenn man das, was man da monatelang womöglich geübt hat im Stillen, plötzlich vor Zuschauern darstellt? Was geht da in einem vor zum Beispiel, verändert das vielleicht auch die Art und Weise, wie man den Handstand macht?
Ja, oder die sind natürlich grundsätzlich interessiert, die Artisten, dass man einfach … dass sie plötzlich sehen, sie werden wahrgenommen und wissenschaftlich auch ernst genommen. Und für uns Wissenschaftler ist es natürlich auch ganz interessant, das aus der Perspektive der Performer selbst zu hören, wie das ist, mit dem Zirkus unterwegs zu sein.
Welty: Die Tagung beschäftigt sich auch mit der Rolle von Tieren im Zirkus und mit der Rolle von Frauen. Das sind, wohl gemerkt, zwei unterschiedliche Veranstaltungen, die aber beide den Zirkus durchaus kritisch sehen. Braucht der Zirkus so etwas wie eine Reformation oder geht dann der Charme endgültig verloren?

Die Reformation des Zirkus ist im Gange

Fuchs: Also, diese Reformation ist eigentlich schon längst im Gange, kann man sagen. Aber, beziehungsweise, es gibt ja eigentlich zwei Formen des Zirkus: Das eine ist diese, ja, traditionelle Form, das, was wir so ganz nostalgisch als Zirkus mit … ja, mit Tieren und Clowns und allem Möglichen so ansehen. Den gibt es ja immer noch.
Aber zunehmend kommen ja so neue Zirkusformen immer stärker hervor, also, denken Sie zum Beispiel an den Cirque du Soleil oder so. Das sind ja schon längst etablierte Zirkusformen, die ganz ohne Tiere auskommen, die insgesamt eine andere Struktur ein bisschen haben, also nicht mehr so eine Nummernabfolge nur, sondern wo fast wie eine Art Geschichte erzählt wird. Also, da ist beides auf jeden Fall schon da. Und ich glaube auch, dass tendenziell der Zirkus in Zukunft immer stärker in diese Richtung gehen wird, dass da ohne Tie… also keine Tiere mehr drin auftauchen werden.
Welty: Wer erliegt denn heute noch dem Charme des Zirkus? Kann der Zirkus beispielsweise die Digital Natives erreichen?
Fuchs: Ja, glaube ich schon. Also, ich glaube gerade, dass diese neuen Formen sie erreichen werden, weil es ja … Zum einen dieses Live-Erlebnis, was der Zirkus zu bieten hat, das kann kein Medium genauso wiedergeben, sondern das ist schon so eine Live-Performance, die ihren ganz eigenen Charme hat; und dann natürlich auch, glaube ich, noch zusätzlich dieses romantische Bild von Zirkus, was wir haben, dass das doch auch immer wieder ganz stark wirkt und die Leute vielleicht weg von den Bildschirmen locken kann.
Welty: An der Spielekonsole ist es kein Problem, die Schwerkraft zu überwinden, in der Realität dann schon eher. Läuft der Zirkus Gefahr, sich zu überfordern?
Fuchs: Das glaube ich eigentlich nicht. Also, die Tendenz eben in den neuen Zirkussen ist eigentlich gar nicht so stark dahin, das Risiko noch weiter zu erhöhen und in noch größerer Höhe irgendwelche gefährlichen Vorführungen zu machen, sondern eigentlich geht es da eher darum, das Risiko zu minimieren. Also, die machen zum Beispiel dann auch Seiltanz nur noch in zwei Metern Höhe anstatt in zehn Meter Höhe oder so.
Welty: Da bricht man sich dann nur den Fuß und nicht den Hals.
Fuchs: Genau.
Welty: Also, Sie sagen, der Trend geht eindeutig auch zum Kleinen, zum kleinen Element?
Fuchs: Genau. Und ja, vielleicht auch mehr, es geht mehr so in Richtung von neuem Tanz auch. Also, ich glaube, es sind so Vermischungen von verschiedenen performativen Künsten oder darstellenden Künsten, dass es nicht mehr nur die reine Artistik ist, nur noch der reine Seiltanz oder nur noch die reine Jonglage, sondern dass da Elemente von anderen Kunstformen auch immer stärker noch mit aufgenommen werden.
Welty: Die Literaturwissenschaftlerin Margarete Fuchs organisiert in Marburg die Tagung zum Zirkus als ästhetisches Modell, die übrigens offen für alle ist. Heute geht es zum Beispiel noch mal um Monster in der Manege und um die Ästhetik des Superlativs. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf ein herzliches Dankeschön für das Gespräch!
Fuchs: Ja, ich danke auch! Einen schönen Tag noch!
Welty: Ihnen auch und viel Erfolg!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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