Wie funktioniert Zirkus heute?
Clowns, Zuckerwatte und Ponys, die durch die Manege galoppieren - so sah Zirkus früher aus. Der "Neue Zirkus" verzichtet nicht nur auf Tiere, sondern auch auf die große Show. Die neue Parole: Zirkus findet im Alltag statt. Wir waren bei der schwedischen Truppe Cirkus Cirkör.
Ein einarmiger Handstand – mühelos, aber nicht auf dem Bühnenboden ausgeführt, sondern auf der Hand eins Partners. Ein Körper, der mehrfache Salti schlägt, um schließlich von den anderen aufgefangen zu werden. Ein langer Sturz von der Decke in die Arme der Kollegen. Alle Arten des Zirkus leben von Szenen, in denen sich Akrobaten gegenseitig werfen, halten, fangen – und natürlich vertrauen müssen.
In "Underart" spielt dieses Vertrauen eine besondere Rolle. Der Regisseur Olle Strandberg hat in der Show seine eigene Geschichte verarbeitet – die Geschichte eines Unfalls, nach dem er vom Hals an gelähmt war.
"Natürlich ist das ein Erlebnis, das dein ganzes Leben verändert. Auf einmal waren der Zirkus und die ganze Welt darum herum gar nicht mehr wichtig. Wichtig waren die Menschen, die Freunde, die Kollegen, die Familie."
"Ich möchte der beste Akrobat der Welt werden"
Mit einigen dieser Freunde und Kollegen hat Olle Strandberg viele Monate nach dem Unfall wieder trainiert und gearbeitet. Doch der Moment, in dem er bei einem dreifachen Salto auf der Bühne auf dem Kopf statt auf den Füßen landete und sich zwei Halswirbel brach, begleitet ihn bis heute.
"Das war der Moment, in dem alles umschlug: von 'mein ganzes Leben ist Zirkus' zu 'nichts in meinem Leben hat mehr mit Zirkus zu tun'. Als ich wieder laufen konnte, wurde mir sofort klar: ich möchte der beste Akrobat der Welt werden."
Die Zirkusshow 'Underart' folgt keiner Handlung und zeigt weder den Unfall noch die schwierige Regeneration danach. Aber sie ist inspiriert von dem, was Olle Strandberg dabei erlebte: Schmerz und Hilflosigkeit, Hoffnungen und Wünsche, Vertrauen und Neustart.
Neben Szenen, in den die Artisten durch die Luft fliegen oder auf hohen Holzplanken balancieren, eine Tänzerin schlangengleich und mit wilder Energie den Körper verbiegt und bei der Jonglage Reifen oder Keulen geschleudert werden, gibt es eine Menge Stille: Momente, in denen die Akteure auf der Bühne kurz zusammensitzen und der Musik zuhören, sich gegenseitig betrachten oder bei einem Missgriff den Arm um die Schultern des anderen legen.
Fehler als Teil des Programms
Fehler – das wird deutlich sichtbar – sind hier keineswegs unerwünscht, sondern ein selbstverständlicher Teil des Programms.
"Das, was während und nach dem Unfall passierte, hat viel mit Ruhe zu tun. Daran möchte ich nicht nur die Zuschauer, sondern auch die Zirkusartisten teilnehmen lassen: ihnen vermitteln, dass es ok ist, wenn wir auf der Bühne einfach nur dasitzen und reden und nichts passiert. Von mir aus könnten wir sogar alle Tricks aus der Show schmeißen. Die Szene, in der ein Artist einfach nur still auf den Holzplanken steht, ist genau daraus entstanden: es muss eigentlich nichts geschehen."
Dass bisweilen nichts oder wenig geschieht, ist aber auch das Problem der Show. Denn, was bleibt, wenn großartige Artisten ihr Können gar nicht mehr in der ganzen Fülle zeigen? Wodurch werden die Verblüffung, das Staunen, die Begeisterung, die der Zirkus im Zuschauer hervorruft, ersetzt?
Sicher, es gibt einige sehr poetische Bilder und Momente, doch auch ganz schöne Längen, in denen sich der Blick am äußerst gewöhnungsbedürftigen, weil gewollt heruntergerockten Bühnenbild festhält.
"Underart" gehört zum Genre des Neuen Zirkus, der einiges anders machen will als der traditionelle.
In Schweden als eigenständiges Genre anerkannt
"Der Neue Zirkus lebt zum Selbstzweck einer Inszenierung. D.h. jedes Genre ist willkommen, es gibt keine Abgrenzung, dass man nur Zirkustricks präsentiert und sich nur dem Spektakel widmet, also nur dem Applausmoment, sondern jeder wird mit seinen eigenen Fähigkeiten Teil der Inszenierung. D.h. ob ich Tänzer bin, ob ich Sänger bin, ob ich Akrobat bin – und das ganze wird zu einer inszenatorischen Einheit verwoben."
Als Leiterin des Berliner Varietés Chamäleon ist Anke Pohlitz Expertin für Neuen Zirkus – eine Form, die in Ländern wie Frankeich und Schweden als eigenständiges, künstlerisches Genre anerkannt wird.
"Es geht nicht um die Präsentation eines Tricks, sondern es geht um das Erzählen einer Geschichte und Geschichte sage ich bewusst in Anführungsstrichen, denn es hat nicht immer eine dramaturgische Grundaussage, sondern es geht um eine stilistische Inszenierung."
Auch wenn es genau wie in ‚Underart’ in vielen Inszenierungen des Neuen Zirkus noch an der dramaturgischen Gestaltung hapert – mit dem Mix aus Musik, Gesang, Tanz, Performance und Artistik eröffnet das Genre unzählige Ausdrucks- und Spielmöglichkeiten, die weit über jedes einzelne Fach hinausgehen.