Soziale Netzwerke

Dezentrale Alternativen zu Twitter und Co.

17:33 Minuten
Illustration: Ein Smartphone mit vier schwebenden Sprechblasen über dem Display.
In wessen Hände liegt die Entscheidungsgewalt? Diese Frage wird angesichts des großen Einflusses von Netzwerken immer drängender. © Getty Images / Osaka Wayne
Moderation: Vera Linss und Markus Richter · 14.01.2023
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Große Netzwerke wie Twitter sollten nicht in der Hand eines einzigen Unternehmens liegen, schließlich bestimmen sie gesellschaftliche Debatten, sagen Kritiker. Einen Gegenentwurf bieten dezentrale Plattformen. Wie funktionieren sie?
Als Elon Musk im letzten Jahr Twitter gekauft hat, war die Aufregung groß. Abgesehen von der Unruhe, die seine oft zweifelhaften Entscheidungen mit sich brachten, rückte mit der Übernahme wieder eine grundsätzliche Frage in den Fokus der Öffentlichkeit: Darf ein so großes soziales Netzwerk – das öffentliche Debatten, Medien und Politik prägt – in der Hand einer einzelnen profitorientierten Firma liegen? Kritiker*innen sagen schon sehr lange: Nein! Aber wie könnten Alternativen dazu aussehen?
Als Antwort auf die Frage genügt ein Wort, das sich dann aber beliebig komplex auffächern lässt: Dezentralität. Dahinter steckt die Idee, dass es nicht mehr einen Betreiber eines sozialen Netzwerkes gibt – einen Elon Musk bei Twitter, eine Firma Meta, in der letztlich Mark Zuckerberg das Sagen hat, bei Facebook und Instagram oder einen Konzern wie Bytedance hinter TikTok – sondern viele verschiedene.
Aber eben nicht viele verschiedene Betreiber*innen einer Plattform, sondern viele verschiedene Plattformen, die jeweils eigene Betreiber*innen haben, aber miteinander sprechen können. Man spricht dabei – je nach Umsetzung – von Servern oder sogenannten Instanzen.
E-Mails sind ein gutes Beispiel, um das Konzept der Dezentralität zu erläutern: Jeder kann eine Mailadresse bei vielen verschiedenen Anbietern haben, wie Woogle, Web.de, einem privaten Mailserver der dem Arbeitgeber. Aber egal, wer seine Mail wo hat: Alle können miteinander schreiben.
Genauso ist es mit einem dezentralen Social-Network-Account. Man kann folgen, liken, antworten, reposten, aber die Nutzer*innen können bei verschiedenen Betreiber*innen sein.
Ein ganz gutes Beispiel ist momentan Mastodon, ein soziales Netzwerk, das seit dem Twitter-Kauf von Elon Musk von vielen als Zuflucht genutzt wurde. Hier gibt es eben verschiedene Instanzen: geografisch (Städte, Regionen), interessengeleitet (Künstler, Hacker, Bibliothekare), sogar eine ganz offizielle bund.social für Bundesbehörden, aber auch kleinere privat betriebene.
“Das heißt, es gibt Instanzen, die mehr erlauben. Es gibt Instanzen, die gar nicht moderiert sind. Es gibt Instanzen, die ganz strenge Moderationsregeln haben. Das heißt, da wird so ein bisschen auf der Ebene der Moderation tatsächlich effektiv dezentralisiert“, sagt Rainer Rehak, der am Weizenbaum-Institut für Sozialforschung unter anderem zu „Quantifizierung und gesellschaftliche Regulierung“ arbeitet.
Heißt also: Während bei Twitter Elon Musk im Alleingang entscheiden kann, dass Donald Trump zurückkommt, gibt es bei dezentralen Netzwerken eben keine zentrale Instanz, die das entscheiden kann. Bei Mastodon kann diese Entscheidung sogar doppelt getroffen werden: Die Betreiber*innen könnten entscheiden, ob auf ihrer Instanz Donald Trump einen Account machen könnte – und sie könnten entscheiden, ob sie mit einer anderen Instanz Informationen austauschen möchten, wenn dort Donald Trump ist. Auch hier wieder Vergleich mit Mail: Theoretisch kann jeder mit jedem, praktisch werden Server, die Spam verschicken, meist von anderen Servern ausgesperrt.
Als Nutzer*in bleibt man aber auch bei Mastodon fremden Entscheidungen unterworfen – zwar nicht Elon Musks wie bei Twitter, dafür der der jeweiligen Instanzen. Wenn man “Dezentralität” also nicht nur technisch, sondern auch als gesellschaftliche demokratische Alternative verstehen will, fehlt also noch immer etwas, meint Rainer Rehak.
Noch radikaler in seinem Konzept der Dezentralität ist das des Small Web, bei dem jeder Mensch sein ganz eigener, selbstbestimmer Knoten in einem Social Netzwerk ist. Man könnte auch sagen: eine Instance of One – also ein Server, auf dem nur ein Mensch angemeldet ist.
An dem Konzept arbeiten in Irland Laura Kalbag und Aral Balkan von der “Small Tech Foundation”. Damit es für die Nutzer*innen nicht zu kompliziert wird, ihren eigenen Server zu installieren, arbeiten sie an einer Möglichkeit, den technischen Aufwand zu vereinfachen. Es soll genauso einfach sein, wie sich bei einem sozialen Netzwerk wie Twitter anzumelden. Aber technisch, hinter den Kulissen hat jeder seinen eigenen Server und damit die komplette Kontrolle.
„Stellen Sie sich vor, jeder von uns hätte eine eigene Präsenz im Internet und eine eigene Adresse, die uns gehört und die wir kontrollieren. Das wäre das Small Web. Was wäre, wenn wir diese Präsenz öffentlich und privat nutzen könnten? Wir könnten öffentlich posten, gelesen und abonniert werden, aber auch privat kommunizieren. Wenn Sie und ich miteinander reden, können nur wir sehen, was wir einander sagen“, erläutert Aral Balkan von der “Small Tech Foundation”.
Damit hätte jeder Nutzer die Kontrolle über die eigenen Daten, aber auch Entscheidungen bezüglich Algorithmen hätte man selbst in der Hand. Denkbar wäre, dass man algorithmische Sortierung ein- oder ausschalten könnte, aber man bekäme sie nicht vorgeschrieben.
Doch das ist Zukunftsmusik, noch gibt es kein konkretes Small Web.
Wie aber können sich dezentrale Plattformen finanzieren? Und: Welchen Einfluss werden vielleicht reiche Individuen und Institutionen spielen? Für das Small Web ist geplant, dass jeder einen kleinen Beitrag von beispielsweise zehn Euro zahlt und so seinen eigenen Server finanziert.
Die Instanzen mit teilweise vielen tausend Nutzer*innen bei Mastodon finanzieren sich meist durch Förderung, im Großen und im Kleinen. Meistens wird Geld eingesammelt, dieses Geld kommt häufig von Nutzer*innen oder Sponsoren, die an Instanzbetreiber spenden, teilweise aus der öffentlichen Hand oder sie werden ganz privat betrieben.
Das unternehmerische Ziel, Profit zu machen, lässt sich damit allerdings schwer verfolgen, auch, weil es schwierig wäre, Nutzer*innen an eine Instanz zu binden. Man kann theoretisch jederzeit auf eine andere wechseln und trotzdem Mastodon nutzen, anders als bei zentralen Plattformen.
Allerdings könnte die Plattform für Anbieter von Apps interessant sein, meint Marcel Weiß, der die Digitalisierung aus wirtschaftlicher Perspektive betrachtet und auch die dezentrale Plattformen gerade sehr aufmerksam beobachtet. „Wenn wir zum Beispiel mobile Apps anschauen, mit denen man Mastodon benutzen kann, die haben natürlich kein Interesse daran, dass dann alles in diesem Feld irgendwann wieder bei einem Unternehmen liegt, das dann – so ähnlich wie es Twitter vor zehn Jahren gemacht hat – sagen kann: Ich bestimme, was mit meiner API gemacht wird, und das, was ihr macht, dürfte jetzt nicht mehr machen.“
Marcel Weiß spielt darauf an, dass Twitter irgendwann Apps von Drittanbietern den Zugang zur Plattform mehr oder weniger verwehrt hat. Er geht auch davon aus, dass Mastodon beziehungsweise die zugrunde liegende Technologie interessant ist für soziale Netzwerke der zweiten oder dritten Riege.
Die Bloggingplattform Tumblr oder die Fotoplattform Flickr würden sich so öffnen, Daten wären austauschbar, das wären quasi riesige Instanzen. Das könnte Resilienz gegenüber der übermächtigen Konkurrenz von Facebook und Co bedeuten – aber auch zeigen, ob geschäftsmäßig betriebene Plattformen im dezentralen sozialen Netz funktionieren.
Es gibt Alternativen zu zentralisierten Plattformen. Es wird allerdings noch eine Weile dauern, bis sie massenkompatibel sind. Aber sie werden auch nicht mehr verschwinden.
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