Ein Fluchtmuseum für Dänemark

Die vergessenen Kinder von Oksbøl

32:20 Minuten
Altes Schwarz-Weiß-Foto einer Frau, die sich auf dem Friedhof von Oksbøl über ein Grab beugt.
Eine deutsche Flüchtlingsfrau auf dem Friedhof von Oksbøl: Mehrere Hundert Jugendliche und Kinder wurden hier beigesetzt. Viele wurden nur ein paar Monate alt. © picture alliance / dpa
Von Johannes Kulms |
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Die Erinnerung an die deutschen Flüchtlinge in Dänemark ist verblasst. Nun soll ein Museum nicht nur von deutschen Vertriebenen erzählen, sondern auch von Geflüchteten heute. Und das in einem Land, das sich immer stärker gegen Ausländer abschottet.
Joachim Hanke steht an einer Hafenmauer und blickt einer großen weißen Fähre nach. Zum Greifen nah gleitet sie vorbei in Richtung Ostsee. „Richtung Dänemark, das ist die Hauptstrecke“, sagt er.
Heute gehören die großen Fährpötte nach Nordeuropa fest zum Hafenalltag in Rostock-Warnemünde. Vor 77 Jahren war das anders. Der Zweite Weltkrieg war damals fast vorbei und ziemlich genau an dieser Stelle ging Joachim Hanke am 1. Mai 1945 an Bord eines Schiffes. Er war damals viereinhalb Jahre alt.
Hanke schaut hinaus auf die Ostsee. Er trägt eine Sportbootjacke und ein Baseball-Käppi auf dem Kopf. Der 81-Jährige hat nur noch bruchstückhafte Erinnerungen an die Flucht. Doch eine Szene ist ihm im Gedächtnis geblieben.
„Als wir dann hier aufgebrochen sind und im Prinzip nur wenige Kilometer aufs Wasser geschoben wurden, aus Angst, der Frauen vor den Russen, da habe ich in Erinnerung, dass wir am 1. Mai dann von russischen Panzern beschossen wurden“, erzählt er. „Ich habe eben die Geschosse in Erinnerung, die vor uns ins Wasser plumpsten, weil wir weit genug draußen waren.“

Kurs auf Dänemark

Was war das für ein Schiff, was war das für ein Boot, das ihn damals auf die Ostsee gebracht hat? „Das war ein Minensuchboot, also ein militärisches Boot, mit dem wir hier rausgefahren sind“, erzählt er. „Es war eines der Letzten, das hier mit Frauen und Kindern von Warnemünde beladen eigentlich nur für die kurze Zeit aufs Wasser geschoben werden sollte.“
Ein alter Mann blauer Mütze und blauer Jacke steht vor einer Hauswand.
„Ich habe die Geschosse in Erinnerung": Joachim Hanke erinnert sich nur noch bruchstückhaft an die Flucht.© Deutschlandradio / Johannes Kulms
Doch schnell wurde klar, dass das Schiff nicht in den Hafen von Warnemünde zurückkehren kann. Der Kapitän nahm Kurs auf Richtung Kiel.

Es wurde aber festgelegt: Schleswig-Holstein kann keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. Wir galten dann als Flüchtlinge, die neben den anderen, die aus dem Osten hier gelandet waren, versucht haben, in Schleswig-Holstein runterzukommen. Und da das nicht gelang, Dänemark gehörte ja zu dem Zeitpunkt noch zu den besetzten Gebieten, hat man festgelegt – oder befohlen – dass wir nach Dänemark weiterfahren.

Joachim Hanke

Unterwegs nach Dänemark sei das Schiff unter Beschuss gekommen von Flugzeugen der Alliierten. Womöglich waren es die Bomber, die am 3. Mai 1945 in der Lübecker Bucht irrtümlicherweise die „Cap Arcona“ und den Frachter „Thielbek“ versenkten. Mehr als 7000 KZ-Häftlinge kamen dabei ums Leben, wie Hanke später erfahren sollte. In Nyborg auf der Insel Fünen erreichte die Familie Hanke schließlich dänischen Boden.
„Da ist auf einer Halbinsel ein Schloss und die Wehrmacht hatte dieses Schloss okkupiert. Wir sind dorthin gebracht worden und waren dort eben doch für ein paar Monate“, erzählt Joachim Hanke. „Allerdings auch unter sehr miserablen Bedingungen und dort ist auch mein Bruder verstorben, nachdem dort alle Krankheiten durch dieses Schloss durchgelaufen sind.“

Die Soldaten ziehen ab, die Flüchtlinge bleiben

Millionen von Deutschen fliehen in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs aus Mittel- und Osteuropa vor der heranrückenden sowjetischen Armee. Die meisten von ihnen flüchten zu Fuß oder auf überfüllten Schiffen über die Ostsee nach Deutschland. Doch rund 200.000, vielleicht sogar 250.000, kommen – wie auch Joachim Hanke – nach Dänemark.
Das Land hatte damals vier Millionen Einwohner. Das Königreich wird am 5. Mai 1945 von Nazi-Deutschland befreit, fast alle Wehrmachtssoldaten ziehen schnell ab. Doch die deutschen Flüchtlinge bleiben und mit ihnen eine für Kopenhagen unangenehme Frage: Wie umgehen mit den Menschen aus dem Land, das noch wenige Tage zuvor Dänemark besetzt hatte?

Ein Friedhof voller Kindergräber

Troels Riknagel ist groß und kräftig. Schon viele Dutzend Male hat der Museumsmitarbeiter Schulklassen über das Gelände am Ortsrand von Oksbøl geführt. Die etwas verschlafen wirkende 3000-Einwohner-Gemeinde liegt in Jütland, nur wenige Kilometer von der Nordseeküste entfernt.
Während des Kriegs betrieben die Deutschen eine Militärbasis in Oksbøl. Wenige Monate nach dem Abzug wurden Zehntausende deutsche Flüchtlinge in den Baracken interniert. Durch die 35.000 deutschen Vertriebenen wurde Oksbøl zur fünftgrößten dänischen Stadt und zum größten Lager für deutsche Flüchtlinge im Königreich.
Fast alle Gebäude wurden später abgerissen, das Lager ist verschwunden. Heute erstreckt sich auf dem früheren Gelände des Flüchtlingslagers ein dichter Wald. Von einem kleinen gepflasterten Parkplatz führt eine Metallpforte auf einen kleinen Friedhof.
„Deutsche Kriegsgräberstätte Oksbøl“ steht am Eingang auf einem grauen Grabstein in weißen Buchstaben. 1796 Personen sind dort begraben, wwischen Laubbäumen und Rhododendronbüschen. 121 waren deutsche Soldaten. Die anderen 1675 waren deutsche Flüchtlinge. In Reihen stehen auf der Rasenfläche Dutzende kniehohe Kreuze zusammen und markieren die Gräber.
Ein steinernes Kreuz auf dem Friedhof trägt die Aufschrift: "Karl-Dietrich Polzin. 17.1.45-30.3.45 / Bruno Schulz. 23.2.44-31.3.45".
„Hier um uns herum liegen sehr viele Kinder": 1796 Personen sind in der "Deutschen Kriegsgräberstätte Oksbøl" begraben.© Deutschlandradio / Johannes Kulms
Troels Riknagel hält inne, die 29 Jugendlichen einer dänischen Schule bilden einen Kreis um ihn herum. Hier um uns herum liegen sehr viele Kinder. Es sind Säuglinge. Wenn wir hier über Geschichte sprechen, dann sprechen wir über vergessene Geschichte. Denn über die deutschen Flüchtlinge wurde bisher sehr wenig gesprochen“, erklärt er.

Wenn wir hier stehen, dann kann man sich fragen: Wie kann es sein, dass mit den Kindern so viele unschuldige Menschen gestorben sind? Dafür muss es doch eine Erklärung geben. Da hinten in dem anderen Bereich des Friedhofs liegen viele ältere Menschen. Das ist traurig, aber wir wissen, dass alte Menschen nun mal irgendwann sterben. Aber hier liegen eben sehr viele Kinder und da müssen wir eine Antwort finden.

Troels Riknagel

Mehrere Hundert Kinder und Jugendliche wurden auf dem Friedhof von Oksbøl beigesetzt. Viele wurden nur ein paar Monate alt. Wie es dazu kommen konnte – darüber entwickelte sich in Dänemark zu Beginn der 2000er-Jahre eine heftige Diskussion.
Ausgangspunkt waren die Nachforschungen der dänischen Ärztin und Historikerin Kirsten Lylloff. Ihr Vorwurf: Letztendlich seien dänische Behörden und Ärzte 1945 für den Tod Tausender deutscher Kinder verantwortlich gewesen. Weil die Deutschen damals als Feind gesehen wurden, hätten sie sich geweigert, den kranken Kindern zu helfen. Lylloffs Darstellung ist umstritten.

Geschichte aus verschiedenen Perspektiven

Das erklärt Troels Riknagel auch den dänischen Teenagern und spricht von einem Mythos. Denn viele Kinder seien in Folge der Strapazen der Flucht aus Osteuropa in den letzten Kriegsmonaten gestorben. Zudem hätten sich auf dem engen Raum, in dem die deutschen Geflüchteten in Dänemark schließlich zusammenlebten, Krankheiten schnell verbreitet.
Ein Mann mit Bart steht an einem Bauzaun und spricht, neben ihm ein Teenager mit Rucksack.
"Da müssen wir eine Antwort finden": Museumsmitarbeiter Troels Riknagel hat Dutzende Male Schulklassen über das Gelände am Ortsrand von Oksbøl geführt.© Deutschlandradio / Johannes Kulms
Trotzdem bleibt der Tod der vielen Kinder ein trauriges Kapitel, das die Schrecken von Flucht und Vertreibung aber auch der Grausamkeit des Krieges deutlich macht. Auch Silvia lässt das Thema nicht kalt. Zwar hat sie von den deutschen Flüchtlingen in Dänemark nach 1945 schon gehört. Aber nicht die Details über die Kinder, erzählt mir die 15-jährige Schülerin.
„Die Führung hier in Oksbøl ist etwas Besonderes. Weil man mehr erfährt über die Zeit, aber das Thema auch besser aus einer anderen Perspektive verstehen kann, als wenn man nur in einem Klassenraum sitzt“, sagt sie.
Kamila ist eine der Lehrerinnen, die die Klasse an diesem Tag begleitet. Sie hat Verwandte in Deutschland. Und findet es wichtig, dass die Jugendlichen diesen Ort kennenlernen.

Wir müssen Geschichte aus verschiedenen Perspektiven sehen. Wir schauen meistens immer auf die Gewinner, aber müssen doch auch auf die Nachwirkungen sehen. Verstehen, dass die deutschen Flüchtlinge damals gewöhnliche Menschen waren und dass all dies nicht weit weg von uns geschah.

Was wir verstehen müssen ist, dass die Deutschen nicht nur Feinde waren, sondern eben auch gewöhnliche Menschen. Und auch die Dänen waren nicht nur Heilige, sondern eben auch ganz gewöhnliche Menschen!

Kamila

150 Menschen auf engstem Raum

Natürlich weiß auch Joachim Hanke, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg furchtbare Dinge getan haben, und kann deshalb auch nachvollziehen, dass viele Dänen deutsche Flüchtlinge unmittelbar nach der Besatzung eben nicht mit offenen Armen empfangen haben.
„Da hat sich eine Wut aufgebaut, die man eben irgendwie abgelassen hat. Nachdem die eigentlichen Besatzer weg waren, waren wir für sie die neuen Besetzer“, sagt er.
Hanke sitzt jetzt zu Hause in Rostock-Warnemünde am Esstisch und erinnert sich an die zwei Jahre, die er und seine Familie in Dänemark nach Kriegsende verbracht haben. Auf der Insel Fünen, wo die Hankes zunächst ankamen, seien er und sein damals ein Jahr alter Bruder sehr schnell krank geworden.
„Wir lagen auf Stroh, es gingen dort die Krankheiten durch. Ich glaube, 150 Leute lagen dort auf engstem Raum“; erzählt er. „Wenn das mit dem Schloss auch verführerisch und romantisch klingt – es fehlte aber jegliche Romantik: Dass dann mein Bruder eigentlich meiner Mutter aus den Armen gerissen wurde und dann eben auf dem Friedhof dort in Nyborg begraben wurde.“

"Es war wohl auch zu spät"

Weiß er, ob sein Bruder damals gar keine ärztliche Behandlung bekommen hat? Oder ist das etwas, wo er sagt: Vielleicht hat er sie bekommen, aber es war zu spät? „Ja, es war wohl auch zu spät oder er hat eine Spritze bekommen“, antwortet Joachim Hanke. „Wir wissen nicht so genau, ja, was war das für eine Spritze? Auf jeden Fall ist er kurz darauf verstorben. Es hat also kein Heilungsprozess stattgefunden, sondern das Gegenteil ist passiert.“
Die Siegermächte hatten der dänischen Regierung kurz nach Kriegsende zu verstehen gegeben, dass es eine große Herausforderung sei, die vielen Kriegsflüchtlinge in Deutschland zu versorgen und dass Kopenhagen die rund 250.000 deutschen Vertriebenen auf unbestimmte Zeit im Land behalten solle. Die dänische Regierung brachte sie in zentralen Lagern unter, um sie besser kontrollieren zu können.
Das größte Lager entstand in Oksbøl an der dänischen Westküste, dort, wo Troels Riknagel heute immer wieder Schulklassen über das ehemalige Lagergelände führt und Ende Juni Dänemarks zentrales Fluchtmuseum eröffnen soll, das auch diese Geschichte erzählen soll.

Leichensäcke gegen die Kälte

Joachim Hanke und seine Familie trafen im Herbst 1945 in Oksbøl ein. „Das sind nur Fetzen, die man als Kind noch in Erinnerung hat“, erzählt er. „Wie zum Beispiel, dass wir dort nachts angekommen sind und uns dort in dem Pferdestall, der uns zugewiesen wurde, auf dreietagigen Betten, auf engstem Raum wiederfanden – und erst am nächsten Morgen eigentlich erst richtig erkannt hatten, wo wir gelandet sind.“
Was hat er gedacht, wo er gelandet ist „Ja, eben in einem Pferdestall, wie ein Pferdestall eben aussieht: mit Betonrinnen, mit dem Eisen an den Wänden zur Befestigung der Pferde, mit provisorisch eingeteilten kleinsten Räumen. Wo auf wenigen Quadratmetern bis zu sechs Personen untergebracht waren.“
Das wahre Elend habe sich dann eigentlich auch in dem Essen ausgedrückt, das sie dort bekamen: „Wir wurden relativ einseitig ernährt.“ Hanke berichtet von der Eiseskälte im Winter 1946/47 und von anderen Flüchtlingen im Pferdestall, die sich Leichensäcke der Wehrmacht überzogen und in der Nacht ständig versuchten, in dem engen Raum umherzugehen, um gegen die Kälte anzukämpfen.
Während seiner Zeit in Oksbøl habe er sich wie ein Gefangener gefühlt. Denn die Flüchtlinge wurden bewacht und durften die frühere deutsche Militärbasis nicht verlassen. Kontakt zur dänischen Bevölkerung jenseits des Zauns war verboten.

Aber es gab einen Alltag. Es gab in dem Lager ja auch ein Kino, ein Theater. Die vielen Flüchtlinge setzten sich ja auch aus unterschiedlichen Berufsgruppen zusammen und haben das Leben dort in dem Lager organisiert. Man hat versucht, sich mit der Situation abzufinden. Aber man lebte eben doch hinter Stacheldraht und unter doch starker Bewachung der dänischen Polizei.

Joachim Hanke

Gestern noch Feind, heute plötzlich Kriegsopfer

Claus Kjeld Jensen kann sehr gut nachvollziehen, dass Joachim Hanke bis heute den Dänen Vorwürfe macht. Ja, es habe in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs in Dänemark Ärzte gegeben, die deutsche Kinder nicht behandelt hätten, weil sie die Rache der dänischen Widerstandsbewegung fürchteten, sagt Jensen. Doch das habe mit Ende des Krieges schlagartig aufgehört.
„Wir müssen unterscheiden zwischen den letzten Kriegsmonaten und den vier Jahren, die danach folgten“, sagt er. „Die Gefühle gegenüber den deutschen Flüchtlingen haben sich verändert. Aber ich verstehe sehr gut die Gefühle von jemandem, der hier vielleicht als kleines Kind war und von den Dänen beschimpft wurde.“
Für Jensen ist Oksbøl ein besonderer Ort mit einer besonderen Geschichte, die gerade in diesen Tagen sehr wichtige Frage aufwirft.

Stell dir vor, dein Land wird von einem anderen Land militärisch besetzt, und einen Tag später musst du plötzlich ein humanitäres Problem lösen. Gestern noch waren diese Menschen dein Feind und plötzlich sind sie Kriegsopfer! Wie gehst du damit um? Das ist doch eine ethisch sehr spannende Frage!

Claus Kjeld Jensen

Jensen ist 55 Jahre alt. Er hat ein freundliches Gesicht und kleidet sich wie ein britischer Gentleman. Jensen ist Direktor der Museen in der Kommune Varde, zu der auch die Gemeinde Oksbøl gehört.
Ein älterer Mann mit Brille steht auf einer Wiese, die von Bäumen umrandet ist.
Museumsdirektor Claus Kjeld Jensen wurde in den 1960er-Jahren in einem Nachbardorf von Oksbøl geboren.© Deutschlandradio / Johannes Kulms
Schon bei seinem Bewerbungsgespräch für den Chefposten habe er vor 15 Jahren für die Idee geworben, auch in Oksbøl ein Museum zu errichten. Ein Museum, das die Geschichte der deutschen Flüchtlinge in Dänemark erzählt.
Nach fast zehnjähriger Vorbereitung steht das Projekt nun kurz vor dem Abschluss. In wenigen Wochen soll das Museum eröffnen. Bei unserem Treffen Anfang Mai laufen die Arbeiten auf Hochtouren an den beiden roten Backsteinbauten, die zu den wenigen erhaltenen Gebäuden aus der Lagerzeit gehören. An vielen Ecken wird noch gesägt und gebohrt, anderswo wird der Boden verlegt und das Dach neu eingedeckt.

Über das ehemalige Lager wuchs der Wald

Jensen läuft nun durch einen langen Trakt, in dem im Zuge der Arbeiten fast sämtliche Zimmerwände entfernt wurden. Das Gebäude diente den deutschen Soldaten im Krieg als Lazarett.
„Dieses Gebäude wurde von der Wehrmacht errichtet. Während des Kriegs wurden hier 10.000 deutsche Soldaten auf ihren Einsatz an der Ostfront vorbereitet“, erklärt er. „Vor oder nach ihrem Einsatz kamen einige von ihnen her, um wieder gesund zu werden. Und als hier nach dem Krieg ein Flüchtlingslager entstand, lag es nahe, es weiter als Krankenhaus zu nutzen.“
Claus Kjeld Jensen wurde in den 1960er-Jahren in einem Nachbardorf von Oksbøl geboren. Als Kind spielte er gerne unter dem großen Tisch seines Großvaters und wunderte sich über die vielen Hakenkreuze auf dem Holz. Der kleine Junge erfuhr, dass sein Opa das Möbelstück nach der Auflösung des Flüchtlingslagers für seine Schneiderei erworben hatte. Den Tisch gibt es noch immer – heute steht er bei den Jensens zu Hause als Esstisch im Wohnzimmer.
„Nach der Zerstörung des Flüchtlingslagers wuchs hier ab 1959 wieder der Wald. Die Geschichte der Flüchtlinge geriet dann ziemlich schnell in Vergessenheit“, erzählt er. „Als wir vor zehn Jahren mit dem Museumsprojekt begannen, war es tatsächlich so, dass selbst von den Leuten, die nahe des Geländes wohnen, kaum noch jemand von dem Lager wusste. Vielleicht einer von zehn!“

Um Gesichter und Geschichten soll es gehen

„Flugt“ soll das neue Museum heißen, auf Deutsch „Flucht“, und den Besucherinnen und Besuchern nicht nur erklären, unter welchen Bedingungen damals die deutschen Flüchtlinge nach 1945 in Dänemark lebten. Es soll auch vermitteln, wie es sich eigentlich anfühlt, auf der Flucht zu sein und in ein fremdes Land zu kommen.
Es soll den Bogen in die Gegenwart spannen: Nicht nur die Schicksale der deutschen Flüchtlinge sollen beleuchtet werden, sondern auch die Flucht von Menschen aus Afghanistan, Somalia oder Syrien. Auch die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine sollen in der Ausstellung Thema werden.
Bauarbeiter legen den Boden in einem verglasten Flur des neuen Fluchtmuseums in Oksbøl.
Dänemarks neues Fluchtmuseum entsteht auf dem Gelände des ehemaligen Flüchtlingslagers in Oksbøl.© Deutschlandradio / Johannes Kulms
Jensen steht jetzt in einer Ecke des sanierten Krankenhausgebäudes. Hier liegen zukünftige Ausstellungsobjekte in Holzkisten. In einer: ein Kupfergeflecht. Erst bei genauerem Hinsehen wird klar, dass es zwei Figuren sind.
„Du siehst hier eine Mutter mit ihrem Kind auf dem Schoß. Beide stammen aus Syrien und kamen als Flüchtlinge nach Dänemark. Wir erzählen in der Ausstellung, wie sich ihre Beziehung zu dem Aufnahmeland verändert hat“, erklärt er. „Als die beiden aus ihrem ersten Urlaub nach Dänemark zurückkehrten, wollte das Kind den Boden küssen, weil es sagte, Dänemark ist jetzt mein Zuhause.“
Das neue Museum in der Provinz – es soll das neue zentrale Museum Dänemarks werden zum Thema Flucht. Das lässt sich bereits am Eingangsportal ablesen, das die beiden historischen Backsteingebäude miteinander verbindet. Es ist ein beeindruckender Rundbau, außen in oxidierendem Stahl, innen mit Holzverstrebungen, die an das Gewölbe einer Kirche erinnern.
Entworfen wurde der Neubau vom dänischen Stararchitekten Bjarke Ingels. Finanziert wird das Projekt von der Regierung in Kopenhagen und privaten Geldgebern. Auch die deutsche Bundesregierung in Berlin sowie die schleswig-holsteinische Landesregierung beteiligen sich finanziell am Fluchtmuseum.
Nicht um Zahlen soll es gehen, sondern um Gesichter und Geschichten. Vielleicht keine schlechte Idee in einem Land wie Dänemark. Seit vielen Jahren schottet sich das Königreich immer stärker vor Migranten und Geflüchteten ab.
Auch die Sozialdemokraten sind längst auf diesen knallharten Kurs eingeschwenkt und haben auch deswegen 2019 die Wahl gewonnen. Aber was denken Geflüchtete, die in jüngster Zeit nach Dänemark gekommen sind über das Museumsprojekt und das politische Klima im Land?

"Man fühlt sich immer außen vor"

Über den dänischen Flüchtlingsrat bekomme ich Kontakt zu Bo Nyegaard. Der 77-Jährige lebt in einem Nachbardorf von Oksbøl und nimmt mich mit zu einer Familie, die vor rund 20 Jahren aus Myanmar nach Skandinavien geflohen ist.
Wir sitzen im Wohnzimmer der Familie Hlum. Ich habe einen kleinen Apfelkuchen als Gastgeschenk mitgebracht und bekomme Kaffee dazu. So ein Kaffeekränzchen gehöre schließlich zum dänischen Brauchtum erklärt mir Bo.
Am Tisch sitzen Chan Hlum und seine Frau Van. Auch ihre beiden Töchter Rebecca und Elisabeth sind dabei. Elisabeth ist zehn Jahre alt und wird unser Gespräch ebenso wie ihre Mutter interessiert aber schweigend verfolgen.
Ich stelle eine einfach klingende Frage: Ist Dänemark ein offenes Land – das auch Menschen aus dem Ausland willkommen heißt?
„Ja und nein. Manchmal können es so viele Flüchtlinge sein, dass sie nicht allen helfen können, und es kann Krieg geben. Dänemark ist ein kleines Land und die Wirtschaft ist ja nicht umsonst. Sie sind gut darin, Flüchtlinge oder Einwanderer aufzunehmen. Aber vielleicht trifft das nicht auf alle zu 100 Prozent zu“, sagt Chan Hlum.
Neben ihm sitzt seine 17-jährige Tochter Rebecca. Ich bin eigentlich ziemlich unpolitisch, sagt sie, um sich dann doch ziemlich politisch zu äußern.

Ich weiß nicht, ob ich nette Worte finde, um die Frage zu beantworten. Dänemark war nett zu uns und ich sehe es als mein Heimatland, ich bin ja hier geboren und aufgewachsen. Aber es ist schwer, sich zu integrieren. Man fühlt sich immer außen vor. Egal, wie lange wir schon hier sind oder bleiben werden.

Rebecca Hlum

Familie Hlum will das neue Museum besuchen

Es sei gut, dass Dänemark nun auch Flüchtlingen aus der Ukraine helfe. Eine ähnliche Offenheit hätte sich die Teenagerin auch 2015, 2016 gewünscht, als viele syrische Geflüchtete sich auf den Weg nach Skandinavien machten. Doch wie kommt es, dass die Ressentiments, die immer wieder auch in offenen Rassismus abgleiten, so salonfähig sind in der dänischen Politik? Haben die Menschen hier Angst vor Flüchtlingen?
Rebeccas Vater Chan schüttelt den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass sie die Menschen gut behandeln wollen. Natürlich kann es auch einige geben, die Angst haben. Aber das sind nicht alle.“
Bo Nyegaard und Familie Hlum posieren für ein Foto.
Bo Nyegaard und die Hlums: Das Museum werden wir mit der ganzen Familie besuchen, sagt Vater Chan.© Deutschlandradio / Johannes Kulms
Das Problem sei, dass schnell verallgemeinert wird, sagt Rebecca. „In sozialen Netzwerken werden negative Vorurteile über Flüchtlinge bedient. Es reicht, dass sich ein paar Leute anschreien oder im Zug danebenbenehmen. Dann wird nur auf die schlechten Seiten von uns geschaut. Dann wird gesagt: Wenn die sich so benehmen, dann benehmen sich alle so, die nicht dänisch sind! Und das finde ich schade.“
Vielleicht liegt es an den Verlustängsten der Menschen, sagt Bo. „Ich nehme an, dass viele die Frage stellen, wie viel Geld das ganze kostet. Die Leute in meinem Alter und etwas jünger, die fragen sich: Behalte ich meinen Job? Kriege ich weiterhin mein Geld oder muss ich kürzertreten? Wenn die Flüchtlinge mehr kriegen als ich und ich kenne Flüchtlinge – nicht aus Myanmar jetzt – die lernen sehr, sehr gut, wie man Geld aus dem dänischen System ziehen kann, ohne arbeiten zu müssen.“
Dass nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nur wenige Kilometer von hier Zehntausende deutsche Flüchtlinge in Oksbøl auf engem Raum zusammengelebt haben, davon hat Famile Hlum noch nie gehört. Ich erzähle kurz davon und berichte auch von dem Museum, das im Sommer eröffnet.
Eine gute Idee, findet Chan. Das Museum werden wir mit der ganzen Familie besuchen, sagt Chan zum Abschluss und lächelt. Gut möglich, dass die Familie aus Myanmar dort zufällig auf Joachim Hanke aus Warnemünde trifft. Denn beide eint ein Schicksal: das Thema Flucht.

„Angry about deutsche Sprache“

Am nächsten Morgen sitze ich in aller Früh im Supermarkt von Oksbøl und trinke einen Kaffee. Auf einem Postkartenständer fällt mir eine Karte auf. Sie zeigt den deutschen Friedhof, auf dem auch die Flüchtlingskinder beigesetzt wurden. Direkt daneben ist eine Skulptur abgebildet.
Die Skulptur ist rund vier Meter hoch und steht nur ein paar Schritte entfernt vom Supermarkt. Seitlich an dem dunklen Steinsockel ist eine tonfarbene Figur angehängt. Sie hat keine Arme. Doch der Kopf ist klar sichtbar. Der Blick der Figur scheint ins Leere zu gehen.
„Ich bin schon öfter an der Skulptur vorbeigefahren. Aber ich habe nie verstanden, wofür sie steht.“ Niels ist Rentner und ist vor einem knappen Jahr nach Oksbøl gezogen. Gerade trägt er seine Einkäufe nach Hause. Später lese ich, dass die Skulptur mit der Geschichte der deutschen Flüchtlinge in Oksbøl offenbar nichts zu tun hat.
Vom Flüchtlingslager hat Niels bereits in der Schule gehört. Auch er will das neue Museum auf jeden Fall besuchen. Weil er sich für Architektur interessiert. Aber auch für Geschichte.

Die Dänen waren nicht besonders freundlich zu den Deutschen. Das ist sicher. Bis in die 60er-Jahre war der Hass gegen Deutsche sehr groß, gerade bei unseren Eltern. Meine Eltern sagen: Bist du deutschfreundlich? Nein! Aber wir sollen Deutsch lernen in die Schule! Aber unsere Eltern waren so angry about deutsche Sprache.

Niels

Niels hält nun inne. Es scheint, als würde er mit den Tränen kämpfen. Ich warte ab, erkundige mich dann vorsichtig, ob ich noch eine Frage stellen dürfe. Niels nickt. Ich sage, dass ich es gut verstehen könne, weshalb die Menschen in Dänemark nach Kriegsende die Deutschen derart behandelten.
Hätte er sich damals einen anderen Umgang gewünscht? „Ich denke, die Dänen hätten die Deutschen besser behandeln sollen und nicht mit Hass“, sagt er. „Meine Generation hasst die Deutschen nicht. Wir mögen sie. Sie sind unsere Nachbarn. Was soll ich sagen: Die Nazis sind tot!“

Ein Theater für deutsche Flüchtlinge

Museumsdirektor Claus Kjeld Jensen hofft, dass das neue Fluchtmuseum rechtzeitig fertig wird und wie geplant Ende Juni eröffnen kann. Wir laufen über einen der zahlreichen Waldwege über das frühere Lagergelände, wo an der Stelle der vielen Baracken und Häuser heute Bäume wachsen.
Das Fluchtmuseum solle nicht eine bestimmte Sicht einnehmen, sagt Jensen. Und doch wünscht er sich, nicht zuletzt auch den Politikerinnen und Politikern von heute die Augen zu öffnen. „Ich würde Ihnen gerne sagen, dass wir ein großes Problem haben auf der ganzen Welt“, sagt er.
„Es betrifft heute wohl an die 90 Millionen Menschen, die auf der Flucht sind. Das Problem wird nicht verschwinden, indem man einfach die europäischen Grenzen schließt. Wir müssen uns mehr Mühe geben, die Krise zu lösen, anstatt neue zu schaffen!“
Ihm geht es um Fragen, die am Ende immer ähnlich sind: Warum fliehen Menschen? Was erleben sie auf der Flucht? Und welche Erfahrungen machen sie in dem Land, das sie aufnimmt?
„Die Stärke des Museumsstandorts Oksbøl ist doch, dass die Geschichte genau hier stattgefunden hat. Auf den Wegen und in dem Wald, durch den wir jetzt laufen“. Dann ist er an seinem persönlichen Lieblingsort angelangt.
Umrahmt von einem dichten Ensemble aus Bäumen erstreckt sich vor ihm eine saftig grüne Wiese, so groß wie ein halbes Fußballfeld. Genau an dieser Stelle habe es in den 1940er-Jahren ein Theater für die deutschen Flüchtlinge gegeben. 850 Personen hätten auf den Zuschauerrängen Platz gehabt.

Ich finde diesen Ansatz von damals fantastisch: Dass Kultur Medizin ist. Weil nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sprach niemand von Posttraumatischen Belastungsstörungen. Aber man wusste, dass die deutschen Flüchtlinge alle heftige Erfahrungen gemacht hatten und dass das Leben hier für sie hinter Stacheldraht auch ein Stressfaktor war.

Da war diese Unsicherheit: Würden sie jemals wieder ihren Vater, ihren Ehemann oder ihren Bruder sehen? Würden sie wieder in ihre Heimat zurückkehren können?

Claus Kjeld Jensen

Happy End in Warnemünde

Noch einmal zurück nach Warnemünde an den Esstisch von Joachim Hanke. Viele seiner Erinnerungen an die Zeit in Oksbøl sind verblasst oder verschwommen, manche noch ganz klar: Zum Beispiel, wie er als kleiner Junge durch ein Spalier von Dänen hindurchlief, die ihn als deutsches Schwein beschimpften.
„Ich denke, wenn man das jetzt – wenn das Museum fertiggestellt ist – sich ansieht, ist es irgendwie beeindruckend und, ich glaube, wachrüttelnd: Wie man es auch falsch machen kann im Umgang mit Flüchtlingen. Es kann eigentlich nur die Hoffnung machen, dass man die Hilfsbedürftigkeit und die Pflicht einer Hilfe gegenüber jemandem, der Hilfe braucht, auch wahrnimmt und dass man sich entsprechend darauf einstellt.“
Als die Familie 1947 nach Warnemünde zurückkehrte, war die Wohnung längst von anderen Menschen belegt. Die Hankes zogen weiter und landeten am Ende in Sachsen-Anhalt. In der DDR wurde der junge Mann Ingenieur, nach dem Mauerfall machte er sich selbstständig.
Vor 15 Jahren ist Hanke zusammen mit seiner Frau Karin nach Warnemünde zurückgekehrt. „Na, ich sage mal insgesamt für mein Leben, dass mich das Glück verfolgt mit einigen Abstrichen, und jetzt ist mir gelungen, eine Bleibe für meinen Lebensabend zu haben.“
Hat er im Grunde genommen das, was vielen Menschen, die auf der Flucht sind, nicht vergönnt ist? Dass er letztendlich an seinen Heimatort zurückkehren konnte?
„Ja! Und das betrachte ich wirklich als einen absoluten Glücksumstand“, antwortet er. Gemeinsam mit seiner Frau könne er sagen: „Wir sind angekommen. Wir sind angekommen, wo wir hinwollten. In Warnemünde!“

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