Der zerstückelte Jesus

Von Frieder Reininghaus · 12.12.2012
"Mathis der Maler" von Paul Hindemith arbeitet Luthers Reformation auf. Am Theater an der Wien inszeniert Keith Warner die Oper strikt nach Bauplan. Die Sänger glänzen, doch das Stück selbst ist allzu sehr "dem Volke" gewidmet.
Es handelt sich um eine Künstleroper und kräftigen Nachhall der Lehrstücke, zu deren kleinem Kontingent Paul Hindemith als einer der Kombattanten Bertolt Brechts ebenso beigetragen hatte wie Weill oder Eisler. "Mathis der Maler" gruppiert sich um fiktive Szenen zur Biografie von Mathis Gothart Nithart (1480 bis 1528). Es verhandelt mit heiligem Ernst zentrale Fragen der von Martin Luther initiierten reformatorischen Bewegung, auch die der militärischen Auseinandersetzungen im Zuge der Bauernkriege.

Die Uraufführung der von viel Willen zu altmeisterlich geprägtem Kontrapunkt durchzogenen Arbeit fand Ende Mai 1938 im Züricher Stadttheater statt - im Schweizer Exil. Im Deutschen Reich war eine Aufführung nach der auch kulturell durchschlagenden Machtergreifung von 1933 unerwünscht. Obwohl der von Gemeinschaftsgeist beseelte Musiker Hindemith das Zeug für einen Führungsposten mitbrachte, gab es zu Beginn der Diktatur eine Kontroverse um seine Mathis-Symphonie (drei vorab publizierte Sätze der Oper): Die Auseinandersetzung zwischen Hardlinern des Systems um den Führer und den noch etwas pluralistisch gestimmten Mitläufern, in diesem Fall Staatsrat Furtwängler, zeitigte eine Grundsatzentscheidung zugunsten des rigideren Totalitarismus.

Ausgehend von der Betrachtung des Isenheimer Altars, der dem Maler Mathis zugeschrieben wird, entwickelte der Komponist das Libretto selbst. Hindemiths Hauptwerk wurde jetzt nach mehr als einem halben Jahrhundert wieder im Theater an der Wien präsentiert. Bertrand de Billy steuerte zunächst mit kontrollierter Zurückhaltung den moderat modernen Tonsatz, verhalf ihm dann zum großen Crescendo. Die Musik ballt die Fäuste: In den Massen-Szenen der über die Fragen der Glaubensrevolution sich ereifernden Mainzer Bürger, bei der Bücherverbrennung und den bewaffneten Konfrontationen verlässt der Sound den kunstgewerblichen Zuschnitt und entwickelt Sogkraft.

Wolfgang Koch erarbeitet sich reichlich Beifall durch sein Engagement für die anspruchsvolle Titelpartie. Kurt Streit imponiert als langhaariger, eleganter, eloquenter Erzbischof von Mainz (gewisse Probleme in den politischen und stimmlichen Höhen bleiben unüberhörbar). Souverän gibt Franz Grundheber den steinreichen Bürger Riedinger, der seine Tochter dazu bewegen will, den hohen geistlichen Herrn für eine Ehe und damit für den Protestantismus zu gewinnen.

Johan Engels entwickelte für die Inszenierung von Keith Warner ein Groß-Symbol: Eine flachgelegte Riesenplastik des gekreuzigten Christus versperrt die Bühne. Die Figur zersetzt sich. Dies verweist auf die Auflösung der so lange beschworenen "Einheit des Christentums". Unter und hinter der Groß-Skulptur finden sich die Treppenstufen, auf denen die Mainzer Bürger parlamentieren und werden die verkohlten Bände der Bücherverbrennung. "In Flammen geht die neue Zeit" - die Anspielungen des Librettos auf Ereignisse der frühen 30er-Jahre unterstreichen Emma Ryotts Kostüme: Die der amtlichen Schergen erinnern an die Montur der SA-Leute, die des armen Frauenchors an das Grau der Weltkriegszeit - und taffe nackte Männeroberkörper erfreuen die Community. Es wird fast fotorealistisch gehenkt und vergewaltigt. Auch das ist eine helle Freude.

Regisseur Warner tarierte die den beiden Konfliktparteien zugeordneten Gewalttaten symmetrisch aus. Er lässt die verschiedenen Handlungsstränge der Künstler-Vita wie der Glaubenskriegszeitgeschichte eins zu eins absingen und abschreiten, jedoch keinerlei Distanz zu den pathetischen Botschaften des Textes entwickeln. Bei den Bildern zur Versuchung des Heiligen Matthias/Antonius und den Engelsgesängen korrespondiert die Stilhöhe der Bühnenkunst den Devotionalien, wie sie heute in Wallfahrtsorten die Touristen erbauen. Die Teile des zerstückten Christus werden schließlich aufs Neue zusammengerückt. Entgegen der religionsgeschichtlichen Realität stellt sich auf der Bühne der Warner Brothers die Einheit der Christen sinnbildlich wieder her.

Hindemith charakterisierte seinen Mathis als Kunstmaler, der sich in turbulenten Zeiten an die Seite des "kämpfenden Volkes" stellen und daher Urlaub vom Dienst beim Erzbischof Albrecht von Brandenburg erhalten will. Der hält Mathis allerdings vor, sich dem höheren Heilsplan deutscher Kunstgeschichte zu widersetzen: "Dem Volk entzogst du dich, als du zu ihm gingst". Spätestens bezüglich der völkischen Phrasen, die mit Brustton über die Rampe kommen, mag man sich wenigstens nach einer kleiner Prise kritischer oder ironischer Brechung von einschlägig vorbelasteten Sentenzen wie "dem Volke dienen" gewünscht haben: "Der Mund des Volkes spricht aus dir". Zähneputzen bitte nicht vergessen!

Informationen des Theaters an der Wien zu "Mathis der Maler"
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