Angeranzt, nicht angebrannt

Von Frieder Reininghaus · 19.03.2012
"Les contes d’Hoffmann", inszeniert von Hollywoodlegende William Friedkin, hatte im Theater an der Wien Premiere - und das Werk erschien irgendwie angeranzt.
Nicht wenige Regisseure neigen der Auffassung zu, "Hoffmanns Erzählungen" von Jules Barbier und Jacques Offenbach "erzähle sich gleichsam von selbst". Zu ihnen mag William Friedkin gehören, der im letzten Jahrhundert mit Hollywood-Filmen wie "French Connection – Brennpunkt Brooklyn" oder "Der Exorzist" Erfolge erzielte. Möglicherweise hielten ihn gerade wegen des letzteren auch Opern-Intendanten für qualifiziert, etwas auf die Bühne zu bringen, was Publikum und Presse dann als "Psycho-Thriller" goutieren.

Roland Geyer, Kapitän des Theaters an der Wien, setzte jedenfalls auf den "Promi-Faktor" und verpflichtete Friedkin für "Les Contes d’Hoffmann". Der stellte, arrangiert um eine von Akt zu Akt sich verschiebende leicht exzentrische Show-Treppe und unterstützt von Video-Einblendungen verschiedene Personengruppen in heutiger Alltagskleidung auf, wodurch die optische Oberfläche der aus dem späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert stammenden Geschichten ins 21. übertragen wird. Die Blondinen der Festgesellschaft beim Physiker Spalanzani und dessen unnatürlicher Tochter Olympia kommen mitsamt ihren aufgescheuchten Begleitern zum Beispiel wie zur Oscar-Verleihung in L. A.

Doch geht es in dieser Opéra fantastique nicht um ein Mirakel Hollywoods, sondern um einen Musik- und Tanzautomaten der Rokokozeit. Olympia wird gedoppelt: sie schwebt als Konstruktions-Puppe über der vorzüglich trippelnden, quinquilierenden, dazu hübsch und oft mit den Augendeckeln klimpernden Mari Eriksmoen. Sie hängt da so übergroß und demonstrativ, damit der betrogene Coppelius seine Zerstörungswut auslassen kann.

Aris Argiris, der in Wien die Rollen der vier "Bösewichter" bestreitet, konnte bei seinem ersten Auftritt als niederländischer Reisevertreter für Thermometer, Hygrometer, Barometer und optische Geräte dem liebestollen jungen Hoffmann eine Brille andrehen und singt dabei von den "Augen", wo er die gefärbten Gläser meint.

Friedkin tritt Barbiers Wortwitz breit, indem er den verschlagenen Geschäftsmann mit zwei an Sehnen und Nervensträngen baumelnden Augäpfeln hantieren lässt. Das mag in Großaufnahme im Breitwandkino einen leisen Schauder oder Ekel auslösen. Auf der Opernbühne wirkt’s wie verstaubte Folklore.

Aus deren Geist wurde von Michael Curry auch die Bildwelt für den Giulietta-Akt entwickelt: Im Hintergrund ein Palazzo in Schieflage (fast wie die ‘Costa Concordia’), davor Lagune mit Gondeln und am Lido eine Strandbadeanlage für amerikanische, russische und asiatische Touristen, in der einige Einheimische auf die eine oder andere Weise geschäftige Vorbereitungen für Geschlechtsverkehr treffen. Da also verübt der durch den mysteriösen Tod der angebeteten Sängerin Antonia aus der Bahn geworfene Literat Hoffmann zwei Tötungsdelikte – das eine mit der Stocherstange des Gondoliere, das andere in klassischer Manier mit dem von Kapitän Dapertutto gereichten Messer. Hier, wie im Verlauf der ersten drei Akte, war keine nennenswerte Handschrift für die theatralische Erzählstruktur erkennbar – die Story wurde, ohne historisches Bewusstsein oder modernen Stil, halt irgendwie bebildert.

Viele Details der Curry-Ausstattung und der Friedkin-Inszenierung erinnern dabei an die "Hoffmann"-Produktion, die Roman Polanski noch tief im vorigen Jahrhundert für die Pariser Operá anfertigte. Die Auseinandersetzung mit dem psychoanalytischen Erkenntnisdrang des preußischen Juristen, Malers, Musikers und Literaten Hoffmann schlug sich einzig darin nieder, dass die Titelfigur, da sie das Gute und das Böse in sich trage, ebenso angezogen wurde wie der in viererlei Gestalt auftauchende widerwärtige Gegenspieler und – soweit dies angesichts der betonten Feminität von Roxana Constantinescu möglich ist – die edel, hilfreich und gut eingreifende Muse.

Zum Epilog, dem kurzen fünften Akt, versammeln sich neben den Choristen auch die vier Frauen des veroperten Schriftstellerlebens auf der leeren Bühne (es müsste eigentlich eine in mehrerlei Gestalt sein). Sie alle sekundieren Hoffmanns Entscheidung zugunsten der Sublimierung. Das so angenehm sparsam wirkende Bild eröffnet der Musik endlich den großen Raum, der zuvor durch manche optische Fantasy-Requisite eingeengt und eingetrübt wurde. Und wenn dann Meyerbeers Theaterorgel in den (einem kölschen Karnevalslied ähnelnden) Schlusschor einstimmt, dann stellen allein musikalische Mittel jene Ergriffenheit her, die das promigeile Wiener Publikum ein denkwürdige Sekunde lang vom reichlich spendierten Schlussapplaus abhielt.

Die Musik erblüht unter den Händen des höchst funktional arbeitenden Riccardo Frizza. Ohne die für Offenbach charakteristischen kleingliedrigen und knapp gehaltenen musikalischen Klangfiguren en detail zu vernachlässigen, hebt er mit seiner vorwaltend zügigen Interpretation Zug und Wille zum großen Format dieses Werks hervor. Er stützt sich dabei auf die insgesamt tadellose Anschmiegsamkeit, auf hellwache Präsenz und immer wieder von kleinen Vulkanausbrüchen strukturierte Solidität der klein besetzten Wiener Symphoniker.

Der Hörnersatz vollbringt Bravourleistungen und hebt zum Beispiel die musikalische Groteske einer Nummer wie der vom Zwerg Klein Zack in Eisenack kess hervor (der läppischen Marionette, die jene pointierte musikalische Miniatur in Blindenschrift übersetzt, hätte es fürwahr nicht bedurft).

So ergibt sich in Summe ein tonkünstlerisch hochstehender Abend, in dem gerade auch Juanita Lascarro als sterbende Engelsstimme Antonias und Angel Blue als kaffeebraune Kurtisane brillieren. Lediglich die Höhenprobleme des angenehm intellektuell wirkenden Kurt Streit in der Titelpartie und die von Argiris als diabolischer Machtmensch trüben das Gesamtresultat. Bilderwelt und Bewegungschoreographie aber fallen weit ab gegenüber dem Standard, der sich in Mitteleuropa an den Inszenierungen von Herbert Wernicke (Frankfurt 1985), Robert Carsen (Paris u. a.) oder zuletzt Dietrich Hilsdorf (Essen 2011) misst.

Kurz nach der Uraufführung 1881 kamen "Les contes d’Hoffmann" auch in Wien heraus, wo – es war eine der größten Theaterkatastrophen – während der zweiten Vorstellung nach der Explosion einer Gasleitung im Ringtheater 384 Menschen verbrannten. Auch später scheint Hoffmann an der Donau wenig Glück beschieden. Auch jetzt nicht. Zwar ist nichts angebrannt. Aber dass das Werk so angeranzt erscheint, bleibt – obzwar keine Katastrophe – dennoch bedauerlich.