Der Krieg in den Slums von Rosario

Von Francisco Olaso · 19.03.2013
Der Drogenkrieg in Rosario, der drittgrößten Stadt Argentiniens, hat in den ersten Monaten des Jahres schon mindestens 35 Menschen das Leben gekostet. Auch völlig Unbeteiligte geraten in die Schusslinie der rivalisierenden Banden. Ruhig leben in Rosario – das war einmal, es herrscht ein Klima von Terror und Gewalt.
Es ist Mittag, kurz nach zwölf. Unbarmherzig brennt die Sonne auf Ludueña, ein Armenviertel in Rosario, 300 Kilometer entfernt von Buenos Aires. Die Schlange vor der Suppenküche des katholischen Gemeindezentrums San Cayetano reicht bis auf die Straße. Geduldig warten die etwa 50 Männer und Frauen in Shorts, T-Shirts und Badelatschen mit Tupperschalen in der Hand, bis sie an die Reihe kommen, um das Mittagessen mitzunehmen. Es sind Nachbarn aus dem Viertel, das bis vor sieben, acht Jahren noch ärmer war: ein Slum, eine Villa. Das heutige Menü besteht aus einem Reiseintopf, einer Scheibe Brot und einem halben Ei pro Person. Mirta, eine katholische Aktivistin mit kurzem Haar und einen stechenden Blick, koordiniert ehrenamtlich die Aktivitäten des Gemeindezentrums .
"Wir geben täglich 400 Mittagessen aus und abends einen Imbiss. Darüber hinaus gibt es verschiedene Aktivitäten: Katechese, Feiern, Workshops für junge Leute, Es kommt ein Anwalt, zur Rechtsberatung und einige Studentinnen geben Nachhilfe."

Hier, wo heute eine so ruhige Atmosphäre herrscht, geschah vor zwei Monaten ein Mord. Am 8.Januar tauchte das selbst verwaltete Nachbarschaftsprojekt in den landesweiten Nachrichten auf. Die 50-jährige Mercedes Delgado, die hier 20 Jahre lang kochte und Katechismusunterricht gab, wurde gleich um die Ecke erschossen. Sie geriet in eine Schießerei zwischen zwei Gangs, die um die Kontrolle des Drogenhandels im Viertel streiten. Der Drogenkrieg in Rosario, der mit einer Million Einwohnern drittgrößten Stadt Argentiniens, hat in den ersten anderthalb Monaten des Jahres schon 35 Menschen das Leben gekostet. Claudia gibt heute im Gemeindezentrum das Essen aus. Ihr honigfarben gefärbtes Haar unterstreicht die sanften Gesichtszüge. An jenem Abend hörte sie Schüsse. Sie rannte auf die Straße, um ihre Kinder zu suchen. Das gleiche tat ihre Kollegin Mercedes Delgado.

"Ich sah Mercedes um die Ecke biegen. Um dann knallten schon die Schüsse. Plötzlich war es einen Moment still, und dann ging es weiter. Einer meiner Söhne rannte von gegenüber auf unser Haus zu. Er ist 29. Meine Tochter schrie von drinnen: 'Lauf, Willy, lauf!'. Und ich schrie Mercedes zu: 'Schnell, Mercedes, renn! Komm rein!'. Ich weiß nicht, ob Mercedes lächelte ... mit ihrem typischen Lächeln… und dann die Schüsse ... 'Pah! pah!' .'Aua!', rief sie, dreht sich um und fiel hin."

Polizei kassiert Schutzgeld

Zwei Kugeln trafen Mercedes Delgado im Rücken. Sie starb wenige Stunden später im Krankenhaus. Nach offiziellen Angaben ist die Zahl der Tötungsdelikte in Rosario von 2011 auf 2012 um 15 Prozent gestiegen und liegt mit 183 weit über dem Durchschnitt Argentiniens. 155 dieser Fälle gehen auf das Konto der Drogenmafia. Die Gangs arbeiten für die vier bis fünf Drogenbarone der Stadt. Der bekannteste Clan ist die Familie Cantero. Die Gewinne fließen in Autosalons, Immobilien, Diskotheken und Hotels. Die Polizei kassiert Schutzgeld und erlaubt den Verkauf und die Herstellung von Kokain vor Ort und einem Abfallprodukt, ähnlich wie Crack, das hier Paco heißt, eine Kokainbasispaste. Solange nur die Jugendlichen aus dem Armenviertel ermordet wurden, interessierte sich kaum jemand für die Hintergründe, auch die Medien nicht. Doch seit sich unter den Opfern auch einfache Bürger befinden, die gar nichts mit dem Geschäft zu tun haben, unter ihnen Aktivisten und freiwillige Sozialarbeiter wie Mercedes, sind Politik und Öffentlichkeit alarmiert.

Die Essenausgabe schließt. Zwei Kolleginnen der erschossenen Mercedes Delgado waschen die riesigen Kochtöpfe. Die anderen gehen zu einem kleinen Saal im Vorderhaus des Gemeindezentrums, der als Kapelle und Lager für Lebensmittel dient. An den Wänden hängen Farbfotokopien, die die erschossene Kollegin zeigen und drei Spruchbänder, mit denen die engagierten Frauen bereits zweimal zum Gerichtsgebäude von Rosario gezogen sind. "Gerechtigkeit" ist das häufigste der auf jeweils etwa vier Metern Stoff in schwarz gemalten Worte. Ins Fadenkreuz der Ermittler geriet ein 18-jähriger Jugendlicher aus dem Viertel, der noch zuvor vor der Suppenküche angestanden hatte. Ohne Ausbildung und Job verdiente er als sogenannter "Soldat der Drogenmafia" 50 Euro am Tag in einem Viertel, in dem der Monatslohn bei einer 60-Stunden-Woche 400 Euro nicht übersteigt. Derzeit sitzt er in Untersuchungshaft.

"Einfach so Mate trinken geht nicht mehr"

"Es ist unsicherer geworden. Wenn sie sich jetzt nicht einigen können und es zu Straßenkämpfen kommt, wird es nicht mehr einfach mit Fausthieben geklärt, wie man es von früher kannte. Jetzt ziehen sie direkt die Waffe, und ihnen ist völlig egal, auf wen sie schießen. Mal einfach so draußen sitzen, Mate trinken und deinen Kindern oder Enkeln beim Fahrradfahren zuschauen, das geht nicht mehr. Du läufst immer Gefahr, dir von irgendwoher eine Kugel einzufangen."

In keiner anderen argentinischen Stadt hat die Gewalt ein ähnlich hohes Level erreicht. In Vierteln wie Ludueña, Nuevo Alberdi, Tablada oder Barrio Toba sind Schießereien und Racheakte seit fast vier Jahren an der Tagesordnung. Die offene Gewalt zwischen den verfeindeten Drogengangs von Rosario hat es sogar auf die Titelseiten der überregionalen argentinischen Zeitungen geschafft. Stadt- und Provinzregierung von Rosario und Santa Fe stellt die Sozialistische Partei. Die peronistische Staatsregierung von Cristina Fernández de Kirchner wirft ihr Unfähigkeit und Komplizenschaft mit dem Drogengeschäft vor. Abgeordnete der Partei der Staatspräsidentin waren es auch, die den Polizeichef der Provinz Hugo Tognoli anzeigten. Im Oktober letzten Jahres wurde er verhaftet. Ihm werden Absprachen mit der Drogenmafia vorgeworfen. Die Sozialisten wittern hinter den Anklagen wegen des Drogenhandels in Santa Fe Machenschaften der Staatsregierung. Parteichef Hermes Binner belegte bei der letzten Präsidentschaftswahl hinter Cristina Kirchner den zweiten Platz. Seine Kandidatur für die Wahlen in zwei Jahren gilt als sicher.

Das Privatradio FM Red TL ist einer der drei meistgehörten Sender der Stadt. Er residiert in einem Keller mit weißgetünchten Wänden im Zentrum Rosarios. Von hier aus begrüßt Carlos del Frade jeden Morgen seine Hörer. Der schlagfertige 50jährige ist einer der bekanntesten Journalisten der Stadt. Menschenrechte und Drogenhandel gehören zu seinen Themen. Vor dreizehn Jahren veröffentlichte er das erste Buch zum Thema Drogen in Rosario. Es geht darin unter anderem um den Kokainexport nach Europa. Del Frade verliest gerade die Gewinner einer Verlosung. Er beugt sich zum Mikrofon vor und gräbt die Finger in das schwarze Haar, das an einigen Stellen schon grau schimmert. Seine Augen scheinen zu lächeln, während er spricht. Kurze Zeit später – die Frühsendung ist beendet - sitzt er entspannt in einem leerstehenden Aufnahmestudio nebenan.

"Wenn es eine Drogenprovinz gibt, liegt es daran, dass wir in einem Drogenland leben. Und ich glaube, wir leben in einem Drogenland. Es gibt natürlich die Komplizenschaft der Staatsregierung, die Grenzen nicht zu kontrollieren. Und das erwacht dann in den einzelnen Provinzen mit ihren unterschiedlichen Gegebenheiten zum Leben. Rosario ist wegen seiner tiefen sozialen Ungleichheit stark betroffen. Aber es ist verlogen von einer drogensozialistischen Provinz zu sprechen, oder von einem Paradies für Dealer. Es gibt keine Drogenprovinz , sondern ein Drogenland."

Drogenbunker werden über Nacht errichtet

Die Drogen werden in den Armenvierteln Rosarios verkauft, den Villas, in so genannten Bunkern oder Kiosken, fensterlosen Kabinen wenig größer als eine Telefonzelle, mit einem kleinen Guckloch, um die Geschäfte abzuwickeln. Die lokalen Drogenbosse lassen sie über Nacht errichten. Ein LKW bringt Sand und Ziegel vorbei und dann kommen drei, vier Maurer mit Zement und Werkzeug. Und wenige Stunden später steht ein neuer Bunker in der Straße. Mehr als zweihundert solcher Bunker sind derzeit in Rosario in Betrieb. Darin stecken halbwüchsige Jungs aus den Armenvierteln, zehn, zwölf Stunden lang, mit einer Flasche Wasser und einer leeren für die Notdurft. Carlos del Frade schätzt, das jeder Bunker, je nach Standort zwischen zwei- und viertausend Euro täglich abwirft. Die Polizei kassiert 250 und der Verkäufer 50 Euro.

"Das große Geld aus dem Drogengeschäft bleibt nicht bei den kleinen Händlern hängen, die ja das letzte Glied der Kette sind. Es wird im Zentrum von Rosario kassiert und investiert. Dort müsste man zuschlagen, dort sind die echten Bunker einzureißen. Dort wird das wirklich große Geld gemacht. Das Herz des Drogenhandels ist die Geldwäsche, das illegal verdientes Geld in Umlauf bringen, und das ist es, was angegriffen werden müsste und nicht angegriffen wird."

Der Mordfall im Drogenmilieu, der in Rosario das größte Aufsehen erregte, geschah in den frühen Morgenstunden des 1. Januar 2012. Ihm fielen drei junge Sozialaktivisten zum Opfer. Adrián Rodriguez, Jeremias Trasante und Claudio Suárez engagierten sich für die Frente Popular Darío Santillán, eine politische Bewegung, die dafür kämpft, die widrigen Lebensbedingungen in den Villas zu ändern: Holzhütten mit Blechdach, Enge, Wassermangel, fehlende Kanalisation und Müllabfuhr. Die drei Jugendlichen im Alter von 17 bis 21 Jahren wurden von einer Gang des Cantero-Clans exekutiert. Ein Bandenmitglied war in der Nacht angeschossen worden und man hatte sie mit den Tätern verwechselt.

Lita Gomez, die Mutter von Claudio Suárez, wohnt nur 100 Meter entfernt vom Fußballplatz. Dort warteten die drei am Neujahrsmorgen auf ihre Freundinnen, um auf eine Party zu gehen. Um drei Uhr morgens explodierten immer noch Raketen und es wurde mit Pistolen in die Luft geschossen. Als Lita Gómez die Nachricht erhielt, dass ihr 19-jähriger Sohn verletzt sei, dachte sie an einen harmlosen Streifschuss am Bein. Sie eilte zum Fußballplatz. Dort lagen Adrian, Jeremias und Claudio im Sterben. Jeder durchsiebt von mindestens acht Schüssen aus einem Maschinengewehr.

"Ich kann nicht mehr, Mami"

"Die Polizei war da, aber sie unternahmen nichts. Kein Krankenwagen kam, dann hoben wir ihn aus dem Gestrüpp und dem fauligen Wasser, blutüberströmt, wir legten ihn in ein Auto und fuhren ihn ins Krankenhaus. Und wir schrien ihn an, er solle atmen. Er stöhnte: 'Ich kann nicht mehr, Mami. Ich schaff es nicht mehr.' 'Atme, Dicker', sagten wir. 'Du willst uns doch nicht im Stich lassen', weil kurz zuvor war mein anderer Sohn ganz plötzlich gestorben. Und er sagte: 'Aber ich kann nicht mehr.'

Als wir im Krankenhaus ankamen, öffnete ich die hintere Tür, und wollte ihm helfen auszusteigen, er war sehr korpulent. Als ich die Tür aufmachte, sagte er: 'Mama, hilf mir zu atmen, bitte.' Dann umarmte er mich so, hob die Hand und zog meinen Kopf herab, damit ich ihm helfen konnte. Aber er war kalt, seine Lippen waren lila… aber nein ... weil sie ihn auf der anderen Seite heraus zogen, konnte ich ihn nicht mehr beatmen."

Der Journalist Carlos del Frade gehörte zu der im März 2012 gebildeten unabhängigen Kommission, der 13 namhafte Persönlichkeiten unter anderem der katholischen Kirche, der Gewerkschaften, der Presse und der Universität Rosario angehörten. Ihre Aufgabe war es, den Gerichtsprozess wegen des dreifachen Mordes zu überwachen. Der Abschlussbericht wurde Anfang Januar 2013 veröffentlicht.

"Sie wurden von einer Bande umgebracht, die mit dem Drogenhandel zu tun hat und die von einem Mann angeführt wird, der sich el Quemado 'der Verbrannte' Rodriguez nennen lässt. Über die Bande 'Los Quemados' hält das Polizeikommissariat 19 seine schützende Hand, sorgt nicht nur für die Sicherheit der Bunker und Kioske, in denen die Drogen verkauft werden, sondern gewährt ihnen Zugriff auf Autos, Motorräder und Waffen. Das haben abgehörte Telefonate erwiesen. Das wird nun untersucht und es muss eine politische Reaktion geben, um diese riesige Korruption innerhalb der Polizei zu beenden. In Rosario sprechen wir schon von der Drogen-Polizei."
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