Der Jugendbuch-Autor Alex Wheatle

"Die Literatur hat mir das Leben gerettet"

05:49 Minuten
Ein Kopfporträt von Alex Wheatle.
Alex Wheatle arbeitete als Jugendlicher für einen Gangleader. © Walter White / Verlag Antje Kunstmann
Von Irene Binal · 12.04.2019
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Vom Kleinkriminellen zum erfolgreichen Schriftsteller: Im Gefängnis fand Alex Wheatle zur Literatur. Mit seiner Geschichte versucht der 56-jährige Brite, Jugendliche fürs Lesen zu begeistern – auch bei seinem Besuch in Berlin.
"Also ich finde ihn interessant, dass er halt auch so im Gefängnis war und was er alles schon durchgemacht hat."
"Ja, der hat Scheiße gebaut und jetzt sei er ganz normal."
"Also das ist ja so ein älterer Herr, der war ja im Knast..."
Der ältere Herr, der schon mal im Knast war, heißt Alex Wheatle und zählt 56 Jahre. Ein breit gebauter, agiler Mann mit freundlichen Augen und einem ansteckenden Lachen. Ein Mann, der seine Kindheit und Jugend ganz unten verbrachte, erst in einem Kinderheim, später auf den Straßen von Brixton in Südlondon – einem gefährlichen Pflaster. "Es konnte dort sehr gefährlich sein", erzählt er. "Es gab Kriminelle, Leute wie Manjaro, wie Major Worries."

Schmiere stehen für den Gangleader

Manjaro und Major Worries sind Gangsterbosse, Figuren aus Alex Wheatles Jugendbuch-Serie, die in einem fiktiven Problemviertel namens Crongton spielt. Dort ist die Grenze zwischen Gut und Böse dünn, es regieren Armut, Gewalt und Kriminalität.
Alex Wheatle kennt diese Verhältnisse, er arbeitete als Jugendlicher für einen Gangleader:
"Mein erster Job war, Schmiere zu stehen. Manchmal hatte der Boss in einem Haus zu tun und ich musste davor auf und ab gehen, falls die Polizei kam, und wenn die Polizei kam, gab er mir seine Tasche, darin hatte er Geld und andere Sachen, und als guter Läufer musste ich die Tasche wegbringen. Das war mein erster Job für die Gang."
Dass Alex Wheatle heute nicht mehr Schmiere steht, sondern Romane veröffentlicht, ist seiner Verhaftung zu verdanken. Nachdem er bei Unruhen in Brixton einen Polizisten angegriffen hatte, wanderte er für sechs Monate ins Gefängnis. Dort traf er auf einen Zellengenossen, der Bücher liebte und Alex Wheatle zum Lesen brachte.
"Die Literatur hat mir das Leben gerettet. Wenn ich nicht begonnen hätte, zu lesen, als ich 18 war und im Gefängnis saß, hätte ich nie geglaubt, dass ich der Gesellschaft irgendetwas zu geben hätte. Durch das Lesen habe ich Empathie entwickelt für andere Menschen, ich lese ihre Geschichten und denke: Wir sind gar nicht so unterschiedlich, wie man uns glauben machen will. Wir wollen alle dasselbe, wir wollen mit unseren Nachbarn auskommen, wir wollen einander verstehen und einander helfen. Das habe ich beim Lesen gelernt."
Literatur als Lebensretter: Sorgen macht Alex Wheatle allerdings, dass sich immer weniger Jugendliche für Literatur interessieren. Nachfrage bei den Berliner Schülern: Lesen sie gern?
"Nein."
"Nein."
"Nein! Also wenn ich dann drin bin, dann ja, aber eigentlich nicht so."
"Also ich habe da nichts gegen das Buch oder die Geschichte, die finde ich super, aber ich bin nicht so mit Lesen.

Begeisterung für das Lesen wecken

Hier beginnt Alex Wheatles Mission: Er will Begeisterung für das Lesen wecken, wünscht sich Bibliotheken an jeder Schule und ist überzeugt, dass Geschichtenerzählen für den Menschen essentiell ist:
"Jeder überall in der Welt, liebt es, Geschichten zu erzählen. Manchmal sagen mir junge Leute: 'Ich mag keine Geschichten', und ich sage: 'Du schaust doch 'Game of Thrones', du spielst mit der Playstation, du hast die ganze Zeit mit Geschichten zu tun.' Manchmal werden Bücher als nicht so cool gesehen wie das Fernsehen oder Netflix, aber erinnern wir uns doch daran, dass 'Game of Thrones' von jemandem erfunden wurde, der sich an einen Tisch setzte und eine Geschichte schrieb. Junge Leute müssen schon früh erkennen, dass Geschichten zu erzählen und Geschichten zu lesen etwas sehr Wertvolles ist."
Einige wissen das längst – denn wenn auch mancher Jugendliche mit Büchern wenig anfangen kann, gibt es sie noch: die richtigen Leseratten:
"Lesen ist für mich ein Hobby und ich habe auch schon mehrere gelesen von Büchern von verschiedenen Autoren, 137 Bücher. Komplett durch."
"Ich finde das so schön, man hat diese Freiheit. In Filmen wird ein Charakter gegeben und dann hält man sich an diesem Aussehen fest und in Büchern kann man sich so ein eigenes Aussehen vorstellen. Da kann man seiner Kreativität freien Lauf lassen."
"Als ich 'Harry Potter' gelesen habe, ich fand die Bücher viel besser als die Filme. Also Hogwarts war in meinen Gedanken ganz anders. Zum Beispiel."

Die Bibliothek als Versteck vor dem alten Leben

Ganz oben auf der Leseliste stehen jetzt die drei Crongton-Romane von Alex Wheatle, jenem Mann, der sich nach seinem Gefängnisaufenthalt in der Bibliothek vor seinem alten Leben versteckte.
"Es war immer noch eine Versuchung", erzählt er. "Weil der Boss mir jeden Tag Geld gegeben hatte. Als ich entlassen wurde, musste ich sicherstellen, dass er mich nicht sah. Also verbrachte ich viel Zeit in der Bibliothek."
Heute reist Alex Wheatle durch die Welt, erzählt seine Geschichte und erlebt manchmal ganz besondere Momente, etwa bei einer Lesung in Washington D. C.: "Meine Mutter war dort, wir waren viele Jahre getrennt gewesen, und es war sehr berührend, als sie im Publikum saß, meine Schwestern waren da und ich las aus einem meiner Bücher, das war ein unglaubliches Gefühl."
Auch seinen jugendlichen Lesern kann er besondere Momente vermitteln:
"Also war das erste Mal, dass ich bei so einer Lesung war, mit einem englischen Autor, war cool, war echt eine neue Erfahrung."
"Also ich fand es auch genauso, ich würde mir das Buch auch holen."
"Sehr interessant fand ich, weil das mal eine neue Perspektive war. Von dieser Lebenssituation, die manche da haben."
Eine Situation, der Alex Wheatle mit Hilfe der Bücher, der Literatur entkommen ist. Weshalb er nun unermüdlich seine Botschaft verbreitet, Lesen kann ein Leben verändern: "Alles, was ich tun kann, ist die Botschaft zu verbreiten, dass das Lesen ein Leben definitiv verändern kann."
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