Das entmachtete Parlament?
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Gesetzgebung im Eilverfahren, Sonderbefugnisse für die Regierung, Rumpfsitzungen: Eine schwierige Situation für die Bundestagsabgeordneten. Viele drängen darauf, dass das Parlament auch in der Coronakrise seine verfassungsgemäße Rolle spielen kann.
Es geht nicht um irgendeine Institution. Glaubt man Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, geht es auch um die Systemfrage:
"Wir werden gemeinsam beweisen, dass die freiheitliche Demokratie mit ihren Regeln und Prinzipien, auch die föderale Ordnung unseres Staates, der Tragweite dieser Krise gewachsen sind."
Noch deutlicher formuliert es die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Eva Högl:
"Wir müssen auch – wenn ich jetzt mal international gucke – unter Beweis stellen, dass liberale Demokratien in so einer Krise auch dazu in der Lage sind, solche Probleme zu bewältigen, und dass es nicht nur autoritäre Regime können."
Der Bundestag steht unter Erwartungsdruck. Und gleichzeitig führte er in den ersten Wochen der Coronakrise eher ein Schattendasein. Denn:
"In Krisen ist die Exekutive in Bund, Ländern und Gemeinden besonders gefordert."
Ein verkleinertes Notparlament? Nur im Verteidigungsfall
Aber auch in der Stunde der Exekutive ging von Anfang an ohne den Bundestag vieles nicht. Nur fehlte das, was Demokratie dringend braucht: Zeit. Und Raum. Denn 709 Abgeordnete zusammenzubringen, ist in Zeiten der Pandemie gefährlich. Und was, wenn zu viele erkranken oder in Quarantäne müssen? Wolfgang Schäuble drang auf eine Grundgesetzänderung, auf die Möglichkeit, ein verkleinertes Notparlament einzuberufen, wie es die Verfassung für den Verteidigungsfall vorsieht. Nicht nur Staatsrechtler widersprachen, auch Vertreter aller Fraktionen. Auch Eva Högl von der SPD:
"Ich bin keine Freundin davon. Weil, dann ist man sehr schnell dabei, mit so einem Notparlament alles zu machen. Ich finde, wir müssen so lange wie möglich hier versuchen, in möglichst großer Zusammensetzung zusammenzukommen, mit dem Abstand. Wie immer das gehen mag."
Das freilich in der ersten Sitzung in Krisenzeiten im März unter erschwerten Bedingungen. Beratung und Entscheidung eines riesigen Gesetzespaketes fanden an nur einem Sitzungstag statt. Über Schuldenbremse und Hilfsmaßnahmen, über Sozialschutz, Mietrecht, Infektionsschutzgesetz und viel, viel mehr entschieden die Abgeordneten nach ganzen dreieinhalb Stunden der Debatte, ohne die Beratungen in den Ausschüssen in der sonst üblichen Form, ohne die Anhörung von Sachverständigen. Deshalb sagt die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann:
"Erstmal war uns grundsätzlich klar – und das war die schwierige Abwägung –, wenn in einem solchen Verfahren, einem nie da gewesenen Verfahren ein Gesetz auf den Weg gebracht wird oder ein ganzes Gesetzespaket, dass es fehleranfällig sein wird."
Über die epidemiologische Notlage entscheidet der Bundestag
Schließlich hätten die regulär wochenlangen, gestuften Beratungen einen Sinn. Im März beschloss der Bundestag auch eine begrenzte Selbstentmachtung des Parlaments: Der Gesundheitsminister soll vom gerade beschlossenen Infektionsschutzgesetz auch wieder abweichen dürfen. Zu den schon vorgesehenen weiten Befugnissen könnten also ohne Mitsprache des Bundestages weitere hinzukommen. In der parlamentarischen Demokratie an sich unerhört, so Eva Högl.
"Das haben wir zu wenig diskutiert, muss ich ehrlich sagen."
"Es war ein wahnsinnig schmaler Grat," betont auch die Grüne Britta Haßelmann.
Dabei gibt dieses Infektionsschutzgesetz dem Gesundheitsminister ohnehin ganz ungewöhnliche Befugnisse, von Vorgaben für die Produktion im Gesundheitsbereich bis zur Beschlagnahme von Schutzausrüstung. Voraussetzung ist, dass eine so genannte epidemiologische Notlage erklärt wird. Immerhin, sagt die Oppositionspolitikerin Haßelmann, sei es FDP, Linken und Grünen gemeinsam gelungen durchzusetzen, dass die Entscheidung über die Notlage selbst beim Bundestag liegt – und nicht bei Gesundheitsminister Jens Spahn. Trotzdem: Die Selbstentmachtung zählte zu dem, was Staatsrechtler im Nachgang zu dieser Sitzung kritisierten, darunter auch Christoph Möllers von der Berliner Humboldt-Universität. Heute sagt er: So etwas könne auf die Schnelle passieren.
"Ob das ein Problem ist, finde ich, kann sich immer erst im Nachhinein erweisen, nämlich bei der Frage, ob das dann auch richtig angemessen kontrolliert wird. Wird jetzt geschaut, was das Bundesgesundheitsministerium genau macht?"
"Heute endet die große Einmütigkeit"
Den Willen zu kontrollieren, zu diskutieren und auch wieder zu streiten, haben vergangenen Donnerstag, in der zweiten Plenarwoche der Krise, alle Redner deutlich gemacht, nicht nur Rolf Mützenich und Christian Lindner, die Fraktionschefs von SPD und FDP, in der Diskussion über Einschränkungen:
"Ja, dieses Parlament ist notwendig, um diese Schritte zu gehen, um darüber zu sprechen, aber eben auch um Entscheidungen zu treffen. Weil nämlich die Kontrolle und das Selbstbewusstsein Voraussetzung dafür ist, dass dieser demokratische Staat auch in seiner Gestalt erhalten bleibt!" So Rolf Mützenich. Und FDP-Chef Christian Lindner sagte:
"Und weil die Zweifel gewachsen sind, Frau Bundeskanzlerin, endet heute auch die große Einmütigkeit in der Frage des Krisenmanagements."
Dabei arbeiten die Parlamentarier unter erschwerten Bedingungen, wie fast alle in Deutschland. Getagt wird überall in kleinerer Runde – auch im Plenum.
"Die Grünen zum Beispiel haben 67 Abgeordnete und 67 Sitze im Parlament. Wir werden aber immer nur mit 25 Abgeordneten vertreten sein. Und die anderen sitzen entweder auf der BesucherInnentribüne oder in ihren Abgeordnetenbüros und folgen der Debatte im Parlament per Parlamentsfernsehen."
Andere Themen bleiben auf der Strecke
Ausschüsse tagen in kleinerer Besetzung, Fraktionen per Video. Bürgersprechstunden im Wahlkreis werden ins Internet oder ans Telefon verlegt.
"Das heißt also: Eigentlich ist die Arbeit sehr verdichtet, auch wenn man sich im öffentlichen Bild gar nicht sieht und trifft."
Zu erschwerten Arbeitsbedingungen und verkürzten Sitzungswochen kommt das Problem, dass der Umgang mit der Coronakrise selbst so viel Aufmerksamkeit erfordert, dass für andere Themen kaum Platz bleibt. Wie damit umgehen? Coronathemen dominierten nun einmal gerade, sagt versöhnlich der Staatsrechtler Christoph Möllers:
"Ich glaube, in dem Augenblick, wo sich so eine gewisse Normalisierung dieses unnormalen Zustands einstellt, werden auch andere Themen wieder in den Vordergrund treten. Und dann wird auch der Bundestag wieder Zeit finden, die zu diskutieren."
"Ich glaube, dass wir ganz zeitnah zu einer gewissen Normalisierung unseres Beratungsalltags kommen müssen", fordert die Grünen-Politikerin Haßelmann. Damit auch Flüchtlinge, Klimaschutz und Wahlrecht wieder diskutiert werden. Wie soll das gehen?
"Darauf hab ich im Moment keine Antwort", gibt Eva Högl von der SPD zu. Aber gehen muss es.