Demokratiegeschichte von oben

Die Mechanik der Macht

29:43 Minuten
Der Reichstag am Abend. Blick auf den Vordereingang und die Aufschrift "Dem deutschen Volke".
Wie ist es tatsächlich um die Volkssouveränität in Deutschland bestellt? Reicht es, alle paar Jahre die prozentuale Zusammensetzung der Fraktionen im Bundestag zu bestimmen? © picture alliance / Zoonar | Stefan Ziese
Ute Daniel im Gespräch mit Thorsten Jantschek · 02.10.2021
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Wir haben gewählt und schauen nun den Parteien bei der Regierungsbildung zu. Für die Historikerin Ute Daniel ein unbefriedigender Zustand. Sie beschreibt, wie wir auf der Zuschauertribüne gelandet sind, und warum wir da nicht Platz nehmen müssen.
Die parlamentarische Demokratie in Europa ging viel weniger auf den mutigen Einsatz einzelner Helden oder politischer Gruppierungen im Kampf für Gerechtigkeit zurück, als hinlänglich angenommen, behauptet Ute Daniel. Sie ist Professorin für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Braunschweig.
Der großen heroischen Erzählung der Demokratiegeschichte von unten setzt sie eine postheroische von oben entgegen. Eine Geschichte, die die Mechanik der Macht im Blick hat. Dabei erzählt sie, wie Fürsten, Könige und später Kanzler vor allem ihre eigene Macht durch Reformen des politischen Systems stärken wollten. Dabei lief vieles anders, als ursprünglich von ihnen erwartet, wie Daniel beschreibt.

Stärkung der Exekutive

Mit der Etablierung von Parlamenten kam es zu einer Etablierung von Parteien, die ihren Einfluss auch mehr und mehr außerhalb des Parlaments geltend machten. Das politische System wurde überformt zu einer Parteiendemokratie, wie wir sie heute kennen, so Daniel. Parteien wirken an der Willensbildung des Volkes mit, das sie in die Parlamente wählt, aus denen dann wiederum Regierungen hervorgehen.
Den jeweiligen Machthabern waren natürlich stabile Regierungen am liebsten. Ihr Ziel war es, durchregieren zu können, also ließen sie sich, so Daniel, über die Jahrhunderte verschiedene Reformen einfallen, die letztlich jeweils dazu führten, dass die Exekutive immer weiter gestärkt wurde. Eine ungeplante Folge aus dem Regierungshandeln, so Daniel.

Ute Daniel beschreibt also eine Geschichte der Kontingenz – ein politisches System, das so keiner wirklich im Sinn hatte. Deswegen stellt sie die Frage, was wir davon beibehalten und was wir verändern sollten.
Luftaufnahme eines riesigen Bismarck-Denkmals in Hamburg mit Elbphilharmonie und Kirche im Hintergrund.
Auch Otto von Bismarck dachte, das parlamentarische System zu seinen Gunsten manipulieren zu können, wie Daniel beschreibt.© picture alliance / Zoonar | Jonas Weinitschke

Plädoyer für parallele Strukturen

Die Historikerin plädiert dafür, unsere Vorstellung von repräsentativer Demokratie aus dem Korsett der gängigen Legitimitätserzählung zu befreien und ihren kontingenten Charakter anzuerkennen. Das bedeutet auch, zu hinterfragen, warum beispielsweise Minderheitsregierungen als schlecht gelten. Sie sind Daniel zufolge besonders demokratisch, weil in solchen Konstellationen im Parlament permanent für Mehrheiten geworben werden muss.
Sie plädiert aber keineswegs für eine Auflösung des parlamentarischen Systems, sondern dafür, parallele Strukturen zu schaffen, die – auch das ist ihr wichtig – von der politischen Klasse akzeptiert werden müssen. Sogenannte Bürgerversammlungen könnten so eine zusätzliche Struktur sein. Diese gibt es bereits vereinzelt zu konkreten und in der Regel politisch heiklen Themen.
Der Vorteil eines solchen Gremiums, so Daniel: Hier wird intensiv und heftig zwischen den sich unversöhnlich gegenüberstehenden Lagern um eine Lösung gerungen – und letztlich ein tragfähiger Kompromiss erzielt.
Irische Aktivisten feiern die Ergebnisse des Referendums über den 8. Verfassungszusatz, der Abtreibungen verbietet, es sei denn, das Leben der Mutter ist in Gefahr.
Aus den irischen Bürgerversammlungen folgte eine Abstimmung über die Streichung des in der Verfassung festgeschriebenen Abtreibungsverbots.© picture alliance / empics | Niall Carson
Die Geschichte der irischen Minderheitsregierung der letzten Jahre zeigt, so Daniel, nicht nur, dass eine solche Regierung demokratischer ist, sondern auch, dass Kompromisse, die in solchen Bürgerversammlungen errungen werden, die Gesellschaft befrieden, was man an den Abstimmungen zur Aufhebung des Abtreibungsverbots und zur Ehe für alle sehen kann.

Demokratie ist, was wir daraus machen

Ute Daniel zeichnet also nach, wie wir zu unserem heutigen System gekommen sind. Zu sehen bekommen wir dabei eine Geschichte, in der es keineswegs darum ging, Partizipationsmöglichkeiten der breiten Bevölkerung zu erweitern. Deswegen regt sie an, mutiger zu sein und das aktuelle politische System auf den Prüfstand zu stellen. Demokratie ist, was wir daraus machen. Und sie kann viel mehr sein, als wir aktuell annehmen.

Ute Daniel: "Postheroische Demokratiegeschichte"
Hamburger Edition, 2020
168 Seiten, 12 Euro

(ckr)
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